image

Ein mit mir befreundeter Internist und Kardiologe ließ sich ein neues Praxisschild anbringen. »Naturheilverfahren« stand darauf zu lesen.

»Nanu«, fragte ich erstaunt, »das sieht doch gar nicht nach dir aus. Was machst du denn für Naturheilverfahren?«

Er zeigte mir sein neues Bio-nukleo-elektro-energetisches Feed-back-System, einen absurden Apparat, den nur ein Rube Goldberg* hätte erfinden können. Das Wundergerät würde diverse körpereigene Energien amplifizieren, Meridiane stimulieren, ja fast die Toten wiederauferstehen lassen.

»Kommt mir eher wie Hokuspokus vor«, war alles, was ich dazu sagen konnte. »Das ist doch alles andere als wissenschaftlich vertretbar!«

»Der Ansicht bin ich eigentlich auch, aber die Patienten wollen so etwas, sie würden mir sonst weglaufen. Und wenn sie positiv auf solche Placebos reagieren, ist es doch in Ordnung!«

Ich fragte meinen Freund, warum er nicht mit Heilkräutern arbeite. Schließlich sind sie die ältesten und universalsten Heilmittel der Menschheit, und trotz des massiven Drucks der transnationalen Pharmakonzerne greifen noch immer gut zwei Drittel der Menschheit auf Heilpflanzen zurück, um den Krankheiten vorzubeugen, sie zu lindern oder ganz auszuheilen.

»Ich glaube einfach nicht an die Wirksamkeit pflanzlicher Mittel«, wies er mich entschieden zurück, »die vermeintliche Heilwirkung der meisten Kräuter beruht auf Einbildung, auf Suggestion. Objektiv gesehen ist da meistens keine oder kaum eine Wirkung vorhanden.«

»Wie kannst du das behaupten? Noch immer stammen fast 60 Prozent der Arzneien von Pflanzen oder sind synthetische Varianten von Molekülkomplexen, die ursprünglich in Pflanzen gefunden wurden.«

»Nun gut«, gab er zu, »aber dabei handelt es sich nicht um Wurzelkram, das irgendein Kräuterweiblein im Mondschein sammelt, sondern um standardisierte, gesäuberte Auszüge bestimmter Substanzen, deren Wirksamkeit in klinischen Experimenten eindeutig nachgewiesen wurde. Da solche Auszüge oder molekulare Nachbildungen genaustens dosiert werden können, ist ein Optimum an Sicherheit für den Patienten gewährleistet.«

Nun, was mein Freund da sagte, ist eine jedem Schulkind und jedem Zeitungsleser geläufige Litanei. Kräuterkunde ist altmodischer Aberglaube, ein Fall für Folkloristen, aber keine moderne Medizin. Bestenfalls sind die Kräuter Behälter für chemische Wirkstoffe, bei denen es sich um Abfallstoffe des sekundären Stoffwechsels handelt. Da Pflanzen keine Nieren und Harnleiter oder sonstige Ausscheidungsorgane haben – so die gegenwärtige Theorie –, schließen sie diese toxischen Nebenprodukte in Sonderzellen und Vakuolen ein. Zufällig können die Pflanzen ihre Feinde, die Insekten und Pflanzenfresser, damit vergiften oder sich wenigstens vom Leibe halten und gegebenenfalls Bienen und Schmetterlinge zu Bestäubungszwecken anlocken. Dadurch erhöhen diese chemisch aktiven Stoffe die Überlebenschancen der Pflanze und werden in der natürlichen Auslese positiv selektiert. Im Reagenzglas aber lassen sich reinere, verbesserte Spielarten dieser biologisch wirksamen Stoffe herstellen und als Pillen oder Spritzen problemloser administrieren als Kräuterpräparate.

All das habe auch ich in der Schule gelernt. Und dennoch ist der Einwand meines Freundes fadenscheinig. Bei näherem Betrachten entpuppt er sich nämlich als ein vorwiegend ideologisches Argument. Es entspringt jener materialistisch-reduktionistischen Betrachtungsweise, der sich die westliche Zivilisation vollends verschrieben hat, und es spiegelt die kommerziellen Interessen einer Pharmaindustrie wider, die jährlich mehrere hundert Milliarden Dollar umsetzt.

Es gibt auch andere Betrachtungsweisen. Etwa die von James Lovelock formulierte Gaia-Hypothese. Diese besagt, daß sich die Erde wie ein lebendiger, sich selbst regulierender, intelligenter Organismus verhält. Erdboden, Atmosphäre, Meere, Pflanzen- und Tierarten und der Mensch bilden sozusagen die Organe dieses Lebewesens, dieser Erd- und Lebensgöttin Gaia. Die Pflanzen nehmen Energie von der Sonne auf und geben sie an die anderen Organe weiter, die Atmosphäre dient als Thermostat, die Tiere verkörpern das Seelenleben Gaias und die Menschen das reflektierende Bewußtsein. Wie in jedem Lebewesen befinden sich die einzelnen Organe und Systeme in einem harmonischen Miteinander. Gesundheit besteht in dem fließenden Gleichgewicht aller Teile. Und genau wie unser Organismus mit Hormonausschüttungen und Stoffwechselveränderungen auf Disharmonien reagiert, reagiert auch Gaia. Wenn Menschen oder Tiere erkranken, wenn ihre Hirnströme disharmonische Signale senden und ihr Verhalten destruktiv wird, stellt ihnen Gaia die Heilpflanzen zur Verfügung. Konventionelle Wissenschaftler tun sich schwer zu erklären, welchen Nutzen Alkaloide und andere komplexe Pflanzenprodukte für die jeweilige Pflanze haben. Oft haben sie anscheinend gar keinen. Wenn wir aber akzeptieren können, daß die Pflanze solche Stoffe ebensowenig für sich selbst produziert wie die Bauchspeicheldrüse das Insulin, kommen wir einem Verständnis näher. Diese pflanzlichen Stoffwechselprodukte üben eine starke und deutliche Wirkung auf die Physiologie von Mensch und Tier aus. Diese Stoffe finden Eingang in den ökologischen Kreislauf, und sie erreichen auch uns, indem sie zu Heilmitteln für unseren Körper und unsere Psyche werden. So wahrt Gaia die universelle Harmonie. (Hoffmann 1985:19) Daß in den letzten Jahren viele Menschen mit psychoaktiven Pflanzenstoffen ihr Bewußtsein verändern (auch das gehört zum viel beschworenen Paradigmenwechsel), könnte als der Versuch Gaias verstanden werden, ein neues Gleichgewicht herzustellen. Der Versuch, die »Harmonie unter dem Himmel« zu erhalten, ist übrigens auch die Grundlage der chinesischen Heilkunde. Nicht etwa aus Mitleid wird der Kranke behandelt, sondern weil sein Kranksein ein Störfaktor ist.

Auch die traditionellen Völker, die Indianer, die Tibeter und andere, mit denen ich als Ethnologe zu tun hatte, sehen die Dinge anders. Für sie sind Pflanzen keine seelenlosen, protoplasmischen Gebilde, die zufällig Alkaloide, Glykoside, Polyphenole und andere Stoffe als Abfallprodukte des Stoffwechsels anhäufen, sondern Lebewesen, die auch trans-sinnliche Aspekte aufweisen. Es ist ein »grünes Volk«, das sich wahrnehmend und intelligent verhält und dessen Angehörige der berufene Schamane als Freunde ansprechen und beim Heilen als Verbündete anrufen kann. Pflanzen verdanken ihre Kraft den durch sie oder in ihnen wirkenden Göttern, Devas oder Engeln. Mit diesen Wesen kann der Mensch in der Tiefenmeditation, im Traum, in der Ekstase oder im Rahmen eines überlieferten Rituals kommunizieren – Aspekte, denen wir in späteren Kapiteln dieses Buches nachgehen wollen. Komplementär zu dieser Anschauung sind ätiologische Modelle, die Krankheit nicht nur als eine Betriebspanne, als Fehlfunktion eines bio-kybernetischen Mechanismus auffassen, sondern als ein geistig/seelisches Geschehen, als Einfluß dämonischer Entitäten, als Seelenverlust, Disharmonie, karmischer Ausgleich und dergleichen. Mein Freund der Internist würde solche ethnologisch vielfach bezeugten Gesichtspunkte als »Spinnerei« oder längst überwundenen Aberglauben abtun. Einer um Sachlichkeit bemühten, ganzheitlich orientierten Heilkunde jedoch könnten diese Modelle wertvolle Denkanstöße geben.

Die großen Pharmakonzerne sind inzwischen schon viel weiter als der durchschnittliche Mediziner. In Anbetracht der schwindenden Effektivität antibiotischer Wunderwaffen, der Risiken und Nebenwirkungen vieler Synthetika und der immens hohen Kosten für die Entwicklung neuer synthetischer Arzneimittel (nur etwa jede zehntausendste untersuchte chemische Verbindung hat eine Chance, am Ende zu einem Medikament entwickelt zu werden (Pelt 1983:168), interessieren sich die Konzerne zunehmend wieder für die Heilpflanzen. Sie stellen den Universitätsinstituten beträchtliche Summen zur Ausbildung von ethnobotanischen Feldforschern zur Verfügung. Diese sollen dann in den grünen Ebola-Höllen Afrikas, Südostasiens oder des Amazonasgebiets den Curanderos, Brujos, Kräuterweibern und Schamanen nachspionieren.

»Wer weiß, vielleicht wächst das Heilmittel für Krebs, Alzheimers, MS oder Aids noch irgendwo unerkannt im Dschungel.« »Wir müssen die in Jahrtausenden gewachsenen Pflanzenheiltraditionen sichten und durchforsten, ehe die letzten tropischen Wälder und die traditionellen Schamanen, die sich darin auskennen, endgültig verschwunden sind.« So lauten die Parolen. Mit einer Fünf-vor-Zwölf Dringlichkeit werden Ethnobotaniker an renommierten Hochschulen wie Harvard ausgebildet. Der jugendliche Idealismus, die Abenteuerlust der Studenten wird angesprochen: Ethnobotanik ist in. Indiana Jones, mit allen Schutzimpfungen versehen, macht Inventur im Lagerhaus Regenwald. Namenlose Kräuter, Rinden und Wurzeln werden getrocknet, eingefroren oder in Alkohol gelegt, und zur chemischen Analyse an die Labors geschickt. Dank der Entwicklung schneller, vollautomatisierter Testverfahren können inzwischen 150.000 Proben pro Jahr durchs Labor geschleust werden. (Blech 1996:28) Die Investition soll sich lohnen. Patentierbare, marktfähige neue Medikamente sind das Ziel. Auch der Aufschwung der Gentechnik hat die Suche nach biologischen Schätzen weltweit auf Hochtouren gebracht.

Der große Vorreiter und Nestor der Ethnobotanik ist Richard Evans Schultes. Über die Jahrzehnte hinweg hat er über 25.000 von den Indianern heilkundlich eingesetzte Pflanzenarten gesammelt und den Labors zukommen lassen. Aber nur höchstens drei Prozent des von Ethnobotanikern sichergestellten Materials enthält, wenn im Labor getestet, nachweisbare Wirkstoffe. Wenn dieser kleine Rest noch weiter durchgesiebt wird, bleibt enttäuschend wenig übrig, was sich eventuell zum serienreifen Medikament eignet.

Wie kann das sein, wo doch die Curanderos und Enyerberos mit derselben Materia Medica befriedigende Resultate erzielen? Eine Antwort ist, daß im grobmaschigen methodologischen Netz der Laborwissenschaft Wesentliches ignoriert wird. Man konzentriert sich bei der Suche auf den essentiellen chemischen Wirkstoff und grenzt alles andere als irrelevant aus: den sozial-kulturell-rituellen Kontext, in dem die Heilpflanze Anwendung findet; die genaue Zeit des Sammelns, Aufbereitens und Anwendens (Tages- und Jahreszeit, Mondphase); die Art der Zubereitung (die ist so wichtig wie beim Kuchenbacken!), die Art der Verabreichung (sinngebendes Ritual, Heilspruch) und schließlich das Verständnis der Pflanze als ein mehrdimensionales Wesen, eines, das sich nicht allein im materialistischen Paradigma erfassen läßt.

»Die Idee, Pflanzen verdankten ihre Wirkung einer einzigen Verbindung, ist schlicht falsch«, sagt der frühere Harvard-Mediziner Andrew Weil. (Weil 1988:123) Und Jean-Marie Pelt, Professor für Botanik an der Universität Metz, schreibt: »Die höchste Komplexität einer lebenden Substanz kann man nie ganz erforschen, geschweige denn synthetisieren.« (Pelt 1983:70)

Reinkräuter statt Synthetika

Natursubstanzen sind komplizierter als die meisten Laborprodukte. Das Alkaloid Coffein ist eben nicht gleich Kaffee. Allein bei der Analyse des Kaffeearomas wurden mehrere hundert Komponenten gefunden. Das Reinalkaloid Kokain ist nicht identisch mit dem Kokablatt, das die Andenbewohner ohne negative Nebenwirkung tagtäglich kauen, um die Leistungsfähigkeit zu steigern und das Hungergefühl zu dämpfen.

Die reinen, raffinierten Auszüge der Pflanzen erweisen sich als viel toxischer als ihre botanischen Ursprünge. Die Gefahr unerwünschter, unvorhersehbarer Nebenwirkungen ist größer bei den Auszügen, und sie begünstigen den Mißbrauch. Davon zeugen die rund 800.000 Medikamentensüchtigen allein in den USA. Reine Kräuterpräparate gehen langsamer ins Blut, denn sie sind biologisch gepuffert. Sie verbinden sich mit der körpereigenen Abwehr. Oft sind die natürlichen Molekülkomplexe den körpereigenen Hormonen und Enzymen dermaßen ähnlich, daß sie einige Funktionen übernehmen oder an deren Stelle treten können (etwa die Opium-Alkaloide an die Stelle der körpereigenen Endorphine). Synökologisch und entwicklungsgeschichtlich sind die Kräuter, aufgrund einer langen Ko-Evolution, unserem Organismus viel besser angepaßt als ihre Auszüge oder synthetischen Nachahmungen. Zwei Beispiele:

image

1. Das Meerträubelgewächs (Ephedra spp.) ist als Ma Huang nachweislich schon seit 5.000 Jahren in der chinesischen Heilkunde bekannt. Es wird als Tee im Anfangsstadium von Viruserkältungen, bei Asthma und als schweißtreibender Dekokt bei Rheuma angewendet. Mexikanische Indianer rauchen Ephedra mit Tabak bei Migräne. In den USA ist es als Mormon tea bekannt.

Viele Mormonen, deren Religion sonst jede »Droge« (Alkohol, Kaffee, Tabak, Schwarztee) verbietet, trinken täglich ein oder mehrere Täßchen des anregenden Aufgusses (er enthält natürliche Amphetamine), ohne sich über irgendwelche Nebenwirkungen zu beklagen. In der Naturheilkunde wird der Tee wegen seiner bronchialentspannenden Wirkung bei Asthma und Lungenemphysem verordnet. Da er entzündete Schleimhäute zum Abschwellen bringt, findet er Verwendung bei Allergien und Heuschnupfen.

1887 wurde das Reinalkaloid Ephedrin isoliert und als wirksames Asthmamittel bejubelt. Bald jedoch wurde als Nebenwirkung eine drastische Erhöhung des Blutdrucks bei den Patienten festgestellt. Nicht nur Ephedrin verlor daraufhin an Beliebtheit, auch das Meerträubel an sich wurde als Heilpflanze in Frage gestellt und galt plötzlich als gefährlich. Dabei enthält die Pflanze noch sechs andere Alkaloide und weitere Begleitstoffe, darunter Pseudoephedrin, das die Herztätigkeit sogar verlangsamt und den Blutdruck senkt.

2. Das Schlangenholz (Rauwolfia serpentina) findet im indischen Ayurveda und in der Volksmedizin seit mindestens 4.000 Jahren Anwendung bei Schlangenbissen, Nesselsucht, Insektenstichen, Fieber, Durchfall, hohem Blutdruck, Epilepsie, Schlaflosigkeit und vor allem bei Geisteskrankheit, die sich in Angst und Aggressionszuständen äußert. Mahatma Ghandi trank jeden Abend sein Täßchen Rauwolfia-Tee, da es den Geist beruhigt und die Ojas (Lebensenergie) verbessert.

1952 isolierte der Chemiker Emil Schietter den Hauptwirkstoff, das Alkaloid Reserpin. Ein neues Wundermittel zur Blutdrucksenkung kam auf den Markt. Aber bald häuften sich die alarmierenden Berichte der Ärzte. Die Behandlung mit Reserpin führte bei vielen Patienten zu manisch-depressiven Zuständen, die vereinzelt bis hin zum Selbstmord führten. Bei der ganz belassenen Pflanzendroge, in der nicht nur Reserpin, sondern 160 verschiedene Alkaloide festgestellt wurden, kommt es nicht zu solchen Nebenwirkungen. Indische Mütter geben sogar den Kleinkindern vom Chotachand- (»Kleiner Mond«-) Tee zu trinken, ohne daß sich Probleme ergeben.

In den siebziger Jahren jedoch wurde nicht nur das Reinalkaloid Reserpin unter Rezeptpflicht gestellt, sondern auch die pflanzliche Droge. Heute ist die wertvolle Heilpflanze, deren Export vielen armen indischen Bauern einst ein Einkommen bescherte, nicht mehr erhältlich, da für aber verschiedene dubiose Synthetika aus dem Labor.

Es ist das vereinfachende, reduktionistische Denken, welches die Wirkung einer Heilpflanze auf einen wesentlichen Wirkstoff zurückführen will. Bei diesen Wirkstoffen, meist Alkaloide, handelt es sich vor allem um quasi tote, aus dem Lebensstrom herausgefallene und in Sonderzellen abgelagerte, eher toxisch wirkende Molekülkomplexe. Diese Stoffe sind relativ leicht zu extrahieren und zu raffinieren, sie lassen sich über lange Zeiträume lagern und leicht synthetisch nachbauen. Die Reinsubstanzen sind einfach – oral oder hypodermisch – zu verabreichen und sind deswegen marktgerechter als die eigentlichen Kräuter.

Eine differenzierte Kräuterbetrachtung

Das Pen Ts’ au des Shen Nung, das älteste Kräuterbuch der Chinesen (ca. 2800 v. Chr.), unterscheidet drei Arten von Heilpflanzen:

»Himmlische« Arzneimittel, wie Ginseng, Jujube und Süßholz, sind nicht giftig und wirken stärkend auf den menschlichen Organismus. »Sie dürfen so lange eingenommen werden, wie man es für gut findet, sie können nicht schaden.« (Schneebeli-Graf 1992:19)

»Menschliche« Kräuter, etwa Ingwer, Pfingstrose und Tüpfelfarn, wirken auf die Körperfunktionen ein, wobei einige giftig, andere harmlos sind. »Sie werden eingenommen, wenn man sich von einer Krankheit befreien will, um wieder neue Kräfte zu gewinnen«.

»Irdische« Arzneimittel wirken heftig auf die Körperfunktion ein. Es sind giftige Kräuter, wie Rhabarberwurzel, Eisenhut (Aconitum) oder Pfirsichkerne, die »gegen die Hitze und Kälte des Körpers wirken«. Sie werden nur in akuten Notfällen verwendet.

In der indischen »Wissenschaft vom Leben« (Ayurveda) werden Pflanzen nach den Grundeigenschaften (Gunas), Sattwa, Rajas und Tamas, eingeteilt:

Eine Heilpflanze mit sattwischen Eigenschaften, wie etwa die Zitronenmelisse oder das Wassernabelkraut (Hydrocotyl), wirkt harmonisierend, bewußtseins- und meditations fördernd und bringt Licht in die Seele. In einer solchen Pflanze offenbart sich die lichte, reine Weiße Göttin, Saraswati, die Shakti des Schöpfergottes Brahma. Sattwische Pflanzen sind die Brahmanen unter den Kräutern.

Pflanzen mit rajasischen Eigenschaften aktivieren und energetisieren den Organismus, sie wühlen die Gefühle auf, reizen zur Aktivität und schüren die Leidenschaften. Zu ihnen zählen geil machende Aphrodisiaka, geistig anregende Drogen, wie Kaffee oder Coca, und scharfe Gewürze, wie der Pfeffer, welche die Verdauung anregen. In den rajasischen Pflanzen offenbart sich die Göttin in ihrer Erscheinung als die kriegerische Durga, die Dämonenjägerin. Rajasische Gewächse sind die Krieger (Kshatriya) des Pflanzenvolks.

Tamasische Heilkräuter wirken abbauend, sedierend, bewußtseinsdämpfend, einschläfernd. Zu ihnen zählen unter gewissen Umständen sehr nützliche Pflanzen, wie Hopfen, Baldrian, Teufelsdreck (Asafoetida) oder Schlafmohn. In ihnen kommt Kali, die Göttin in ihrer dunklen, zerstörerischen Gestalt, zum Ausdruck.

Weiterhin unterteilt die ayurvedische Heilkunde die Kräuter nach ihrem Bezug zu den Humoren (Dosas): Es herrscht Pitta (Feuer) vor, wenn sie erhitzend wirken oder ätzende Säfte enthalten. Pflanzen mit Kapha (Schleim) sind saftig, schleimig, schwer, sukkulent und kühl. Gewächse mit viel Vata (Luft) sind oft dürr, saftlos und in ihrer Wirkung adstringierend und trocknend. Diese Kategorien werden noch weiter unterteilt in Geschmackswirkung, energetisches Schwingungsniveau (Prana) und nach den Körpergeweben (Dhatus), auf die sie einwirken. Das Ganze ergibt also eine höchst differenzierte Taxonomie der Heilpflanzen.

Auch alteuropäische Völker differenzierten die Heilmittel. Die Germanen zum Beispiel ordneten die Kräuter nach den Eigenschaften ihrer totemischen Seelentiere:

Kräuter der Freya: Allgemein bekannte und beliebte Hausmittel, wie Kamille, Wegerich oder Holunder, deren Anwendung von Mutter zu Tochter weitertradiert wurde. Die Kräuter wurden in Bündeln zusammengefaßt und im Augustmond geweiht. Die Hausherrin, der es oblag, für die Gesundheit in Haus und Stall zu sorgen, kochte Kräutersalben und -milch, buk Kräuterwecken und braute Heilkräuterbiere. Auch die Pflanzen der Liebe, die Aphrodisiaka, standen unter der Obhut der Freya, deren Tier die Raubkatze (Luchs) ist.

Bärenpflanzen: Wenn die Hausmittel nicht ausreichten, wurde der heilkundige Lachner bestellt. Seine Heilpflanzen und Zaubersprüche hatten Bärenkräfte. Solche starkwirkenden Wurzeln waren dem Donar Thor, dem »Asenbär«, dem kosmischen Bären, geweiht, der, mit Blitzkeil bewaffnet, den giftigen, krankheitsbringenden Würmern den Garaus machte. Mit den Wurzeln dieser Kraftpflanzen und dem richtigen Spruch wurden die elbischen Schlangen ausgetrieben, die sich in Mark und Bein einnisten und die Lebenskraft wegsaugen.

Wolfspflanzen waren jene äußerst giftigen Gewächse wie Tollkirsche, Seidelbast oder Eisenhut, mit denen man Wölfe und Füchse vergiftete oder beim Gericht die Giftprobe durchführte. Sie waren dem Tyr, dem furchtlosen Bezwinger des Fenriswolfs und Hüter der Gesetze, geweiht. Aber auch Zauberer machten manchmal Gebrauch von Wolfskräutern, da sie, wenn richtig dosiert, die Seele vom Leib zu trennen vermögen und das »Fliegen« ermöglichen. In diesem Fall gehörten sie dem Odin,dem Schamanistischen Zaubergott.

Kräuter der Holle, wurden durch den Storch oder die Wildgans dargestellt. Im ersten Fall handelt es sich um Geburtskräuter, denn diese Göttin ist es, die die tief unter der Erde weilenden Seelen ins Licht des Diesseits entläßt. Im zweiten Fall sind es Flugsalbenkräuter, mit deren Hilfe die als Sejdkoner bekannten Schamaninnen die jenseitigen Elfen- und Totengefilde erkundeten.

Hundspflanzen waren letztlich wertlose, stinkende Kräuter, wie etwa die Hundskamille, der wertlose Hundskerbel oder die giftige Hundsschlehe (Ligustrum).

Derartige Differenzierungen sind wichtig, denn Heilkraut ist nicht gleich Heilkraut. Der große Phytotherapeut Prof. Rudolf Fritz Weiß führt in seinem Lehrbuch der Phytotherapie (1991), eine ähnliche, zeitgemäße Differenzierung der botanischen Heilmittel wieder ein. Er gliederte die Phytotherapeutika in drei Kategorien:

image

Die moderne medizinische Forschung konzentriert sich vor allem auf die forte-Mittel, also jene Drogen mit Substanzen, die sich leicht extrahieren, synthetisieren und standardisieren lassen. Die mite-Mittel, als »relativ wirkungslose« Substanzen, kommen heute kaum in Betracht.

Die meisten Heilpflanzen, die die traditionelle Erfahrungsmedizin anwendet, sind jedoch gerade diese mite-Phytotherapeutika. Bei akuten Zuständen kommen noch die media-Mittel hinzu. Diese sanft wirkenden Drogen entbehren meist den einen einfach zu isolierenden Reinstoff. Dennoch, und das bestätigt die Erfahrung vieler Generationen, sind sie nicht ohne Wirkung! Ihre stoffliche Analyse ist oft äußerst kompliziert. Meistens handeltes sich um einen ganzen Strauß verschiedenster Wirk- und Begleitstoffe, die den Körper sanft zu verschiedenen Reaktionen anregen, die innere Ökologie positiv beeinflussen und diverse biologische Synergysmen in Gang setzen.

Zu solchen vielfach genutzten, einfachen Heilpflanzen (Simplicia), die sich wirkstoffanalytisch nicht festlegen lassen, gehören u. a. Erdrauch (Fumaria), ein gutes Mittel bei krampfartigen Beschwerden im Bereich der Gallenblase, der herzstärkende Weißdorn (Crataegus), die krampflösende, beruhigende Passionsblume (Passiflora) und die reizmildernden, schweißtreibenden Lindenblüten (Tilia). Auch die Wirkung von populären Heilmitteln wie Baldrian, Roßkastanie, Artischocke, Mistel, Esche, schwarze Johannisbeere, Arnika, Ringelblume und Myrthendorn ist der Laboranalyse noch nicht gänzlich zugänglich. (Pelt 1983:65)

Ebenso wie Akupunktur und Moxibustion wurde auch die Wirksamkeit der Ginsengwurzel (Panax) von der westlichen Medizin lange in Frage gestellt. Wie kann es auch möglich sein, daß diese sagenumwobene, anthropomorphe Wurzel alle Körperfunktionen anregt, das Blut »reinigt«, die Nerven stärkt und zugleich bei Herzbeschwerden, Kurzatmigkeit, Magen- und Darmbeschwerden, ja sogar bei Krebs hilft? Zudem soll Ginseng noch das Gemüt erheitern, schlechte Ausdünstungen verhindern und zwischenmenschliches Verständnis fördern. Gehört das nicht eher ins Reich fliegender Glücksdrachen und taoistischer Unsterblichkeitselixiere! Wirkstoffanalysen bestätigten zwar ein gutes Dutzend verschiedener schäumender Substanzen (Ginsenoide), die aber keinesfalls für die angeblichen Wunderwirkungen herhalten können. Damit wäre das Problem Ginseng abgehakt, wäre da nicht die seit Jahrtausenden belegte empirische Erfahrung der chinesischen Mediziner!

Mite-Phytotherapeutika sind also keineswegs ohne Wirkung. Sie wirken langfristig und eignen sich bei den ersten Anzeichen einer Erkrankung zur Prophylaxe (Vorbeugung) und Prävention (Vorsorge). Sie eignen sich auch zur langfristigen Behandlung bei chronischen Leiden, zur kurmäßigen Behandlung und zur Rehabilitation.

Begriffskategorien wie mite-, media- und forte-Phytotherapeutika stellen eine recht brauchbare Gliederung eines fließendes Kontinuums dar. Sie sind keineswegs als absolute, rigide Kategorien zu verstehen.

image

Das Kontinuum könnte auch so dargestellt werden (nach Storl 1993:225):

image

Wir sehen nebenstehend, daß die sogenannten forte-Phytotherapeutika nahtlos einerseits in die media-Mittel und andererseits in die Giftpflanzen übergehen. Das griechische Wort Pharmakon bedeutet ja auch Heilmittel genauso wie Gift und Zaubermittel.

Am anderen Ende des Kontinuums gehen die mite-Phytotherapeutika nahtlos in die Gewürzpflanzen, ja sogar in die Nahrungspflanzen über. Oft ist es nicht möglich, eindeutig zwischen einem Gewürz und einer Heilpflanze zu unterscheiden, etwa beim Fenchel, beim Kümmel oder beim Knoblauch. Hippokrates konnte ohne Widerspruch den Lehrsatz aufstellen: »Laßt eure Heilmittel Nahrungsmittel sein und eure Nahrungsmittel Heilmittel!« Und der in der gesamten islamischen Welt und auch in Europa als medizinische Autorität anerkannte persische Arzt Rhazes (Al Rhazi 866-925) rät seinen Kollegen: »Wenn ihr durch Diät heilen könnt, verschreibt keine anderen Mittel.« Der große Kräuterheiler Maurice Mességué, zu dem Kanzler, Könige und Kardinäle pilgerten, wenn ihnen ihre Leibärzte nicht weiterhelfen konnten, schrieb sogar ein ganzes Buch über den Gebrauch der Gewürzkräuter und Gemüse als effektive Heilmittel. (Mességué 1972)

Das Problem der Standardisierung

»Zugegeben, die Heilpflanzen wirken, aber ist es nicht so, daß der Wirkstoffinhalt beträchtlich schwankt, je nach Standort, Klima, Jahreszeit und Unterrasse der jeweiligen Art? Wäre es da nicht einfacher und besser, synthetische Mittel zu nehmen, denn diese sind standardisiert und lassen sich genaustens dosieren?« So lautet ein beliebter Einwand gegen die galenischen Mittel.

Nun, die standardisierte Dosis würde Sinn machen, wenn auch der Mensch ein Standardmodell, so etwas wie ein serienmäßig produzierter Roboter wäre. Dann könnten Experten die genaue Quantität des benötigten Treib und Schmierstoffs berechnen. Dem ist aber nicht so. In der traditionellen Heilkunde wird die Zusammenstellung und Dosierung der Heilmittel immer dem kranken Individuum angepaßt. Vielerorts, etwa in Südasien und in den islamischen Ländern, wird das individuelle Horoskop des Patienten bei der Erstellung der Rezeptur mit berücksichtigt. Die Indianer suchen die erforderlichen Heilpflanzen für jeden Patienten neu.

Die indische Ayurveda berücksichtigt bei der Dosierung und Zusammenstellung der Heilmittel das Naturell (die Dhosas = »Humore«) des Patienten. Ein Pitta-Typ verlangt andere Mengen und Intensitäten als der Vata-Typ oder der Kapha-Typ. Auch Dr. Edward Bach, der Entdecker der Blütenessenzen, schreibt, daß bei der Behandlung und Wahl der Heilmittel das psychisch-physiologische Profil des einzelen im Mittelpunkt stehen muß.

Aber nicht nur die individuelle Sensibilität, auch das Alter des Patienten spielt bei der Dosierung eine Rolle. Die Midewiwin-Ärzte der Ojibwa dosieren die Magenwurz (Acorus calamus) nach der Länge des kleinen Fingers des Patienten. Auch das »morphische Feld« (Sheldrake), die eingefleischten kulturellen und biologischen Gewohnheiten einer Gesellschaft, müssen bei der Medikation mit in Betracht gezogen werden. Indianer und Araber vertragen tatsächlich viel weniger Alkohol als Europäer. Mangels des Enzyms Beta-Galactosidase vertragen Ostasiaten keine Milch. Für südamerikanische Indianer hat der Tabak psychedelische Wirkung, wohin gegen er sonstwo, in gleichen Dosierungen genossen, nur Übelkeit hervorruft. Und mykophobische Völker wie die Engländer reagieren auf den Verzehr von Fliegenpilzen mit heftiger Übelkeit, während die pilzliebenden Osteuropäer und Sibirier nach dem Genuß der gleichen Mengen keinerlei Beschwerden haben. Im Allgäu, wo das Sanikel (Sanicula europaea) seit vielen Generationen als Allheilmittel gesammelt wird, wird der Phytotherapeut damit mehr Erfolg erzielen als etwa in einem Kulturkreis, wo dieses Bergkraut unbekannt ist.

Zudem müssen wir uns von der mechanistischen Auffassung der Heilmittelwirkung befreien. Der beseelte menschliche Organismus befindet sich im labilen Gleichgewicht, in kybernetischer Homöostasis. Er verhält sich nicht passiv, sondern reagiert aktiv. Er eignet sich die Wirkstoffe an, die er gerade braucht, um eine Homöostasis herzustellen. Diese Tatsache erklärt erstens die adaptogene (oder amphotere) Wirkung vieler Heilpflanzen und zweitens das breite Spektrum ihrer Anwendungsmöglichkeiten.

Digitalis

image

»Das mag für die mite-Phytotherapeutika zutreffen; da ist eine genaue Dosierung bis in den Nanobereich wahrscheinlich nicht so wichtig. Bei den wirklich toxischen Mitteln, etwa bei den Digitalisglykosiden, ist genauste Dosierung jedoch absolut notwendig, und diese ist nur durch das standardisierte Medikament gewährleistet.« Selbst dieser gewichtige Einwand ist nur bedingt richtig. Digitoxin, das heutzutage synthetisch hergestellte herzwirksame Glykosid, wurde ursprünglich in der Fingerhutpflanze (Digitalis purpurea) gefunden. Es wird zur Verbesserung der Kontraktionskraft des Herzmuskels und bei bestimmten Formen der Herzschwäche und Herzmuskelstörung angewendet.

Die Symptome einer Digitalisvergiftung erfolgen in drei Stadien:

1. Magen/Darmbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen

2. leichte atriale Arrhythmien (in den Vorhöfen des Herzens)

3. ventrikuläre Arrhythmien (Herzkammern schlagen unregelmäßig), akute Lebensgefahr!

Andrew Weil fragte sich, warum er als Medizinstudent nie das erste der drei Stadien bei Patienten erlebt hatte. Es war ihm ein Rätsel, bis er später, als überzeugter Phytotherapeut, seine Patienten mit Digitalisblättern, statt mit dem synthetischen Reinstoff, behandelte. Wenn er ihnen zuviel verabreichte, bekamen sie immer Magenbeschwerden – ein sicheres Zeichen, daß die Dosis herabgesetzt werden mußte. Beim synthetischen Digitoxin wird das erste Stadium – ein wichtiges Warnzeichen – übersprungen. Der Arzt hat dadurch einen geringeren Sicherheitsspielraum. Weil schreibt: »Die ganze Pflanze hat bestimmte, eingebaute Sicherheitsmechanismen, die verlorengehen, wenn die kardiotonen (herzstärkenden) Elemente extrahiert und in ihrer reinen Form verwendet werden. Man kann das, wenn man will, die Weisheit der Natur nennen oder auch nicht; jedenfalls ist es eine empirisch erwiesene Tatsache.« (Weil 1988:130)

Die Irrwege des reduktionistischen Paradigmas der Pharmaforschung lassen sich anhand der giftigen Fingerhutpflanze exemplarisch aufzeigen. Als Entdecker der Fingerhutdroge gilt Dr. William Withering (1741-1799). Als junger Arzt machte er einmal Urlaub in Schottland, wo ihn eine schwer wassersüchtige Frau um Hilfe bat. In der Überzeugung, daß sie nur noch einige Wochen zu leben hatte, verschrieb er ihr ein Placebo. Ein Jahr später, wieder im Urlaub, begegnete ihm dieselbe Frau. Sie war wieder gesund und munter. Sie hätte bei einer alten Kräuterhexe (old hag) Heilkräuter bekommen. Withering ließ die Kräuterfrau beobachten und entdeckte, daß sie zur Behandlung von Ödemen ein Bündel von über zwanzig verschiedenen Kräutern sammelte. Ganz im Geiste des Reduktionismus verwarf er alle Kräuter bis auf den Fingerhut, den er als »wirksam« (activ) anerkannte. 1785 brachte Withering seine Monographie über die entwässernde Wirkung des Fingerhuts heraus.

Erst später wurde entdeckt, daß es sich bei dieser Wirkung um einen indirekten Effekt durch die Stärkung der Herzmuskelkraft handelt. Die alten Ärzte und Apotheker kannten die Waldpflanze nur als Brechmittel und als Bestandteil einer Wundsalbe; von der entwässernden und herzstärkenden Wirkung wußten sie nichts. Der alten Kräuterfrau als Vertreterinder verpönten und unterdrückten Kräutertradition waren diese Wirkungen jedoch geläufig. Interessant wäre es zu wissen, welche anderen synergystisch wirkenden Pflanzen mit zu dem Rezept gehörten.

Digitalis ist ein forte-Mittel, das nur im äußersten Notfall benutzt werden sollte. Als die Reinstoffe Digitoxin und Digoxin isoliert wurden, wurde das »Digitalisieren« von Herzpatienten ebenso zur medizinischen Mode wie einst die Quecksilberbehandlung (Calomel) und später, in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts, die radioaktive Bestrahlungstherapie und die Penicillinspritze. Viele ältere Herzpatienten wurden regelrecht von ihren Ärzten vergiftet. Eine in den meisten Fällen vernünftigere Therapie wäre die rechtzeitige kurmäßige Behandlung mit mite-Mitteln, etwa Weißdorntee (Crataegus), Misteltropfen (Viscum) oder Knoblauchpräparaten. Bei schwereren Fällen würde man zu media-Therapeutika, etwa Maiglöckchen (Convallaria), übergehen.

Angst vor Heilkräutern

Vor einigen Jahren gab ich an einem College in Wyoming Kurse zum Thema Heilkräuter. In einem Land, das sich ganz dem Fortschrittsglauben verschrieben hat, ist Pflanzenheilkunde schlicht »Indian Medicine«. Heilpflanzen gelten als primitive, minderwertige Mittel, die mit den sauber verpackten Pillen, Spritzen und Gerätschaften der modernen Medizin nicht mithalten können. Für die Teilnehmer bedurfte es schon eines Quentchens Mut, sich für einen solchen Kurs einzuschreiben. Bei vielen war die Enttäuschung über das »medical establishment« ausschlaggebend gewesen. Die Erfahrung ärztlicher Fehlbehandlung und iatrogener Komplikationen ließ sie mit der tabuisierten »Indian Medicine« liebäugeln. Ein »Spion« der AMA (American Medical Association) hatte sich auch einschreiben lassen, um zu sehen, ob es sich da nicht etwa um eine strafbare »unlicenced medical practice« handeln könne, um unerlaubtes Verschreiben von fragwürdigen Medikamenten. Es lag unter seiner Würde, die »Unkräuter«, die ich herumreichte, auch nur zu berühren. Als er dann von »Marskräften« in den Brennesseln und »Saturnwirkungen« im prairie sage (Steppenbeifuß) hörte, war die Sache klar: Er hielt mich für einen harmlosen Spinner. Peinlich war, daß sich, wie ich später erfuhr, unter den Zuhörern viele unzufriedene Patienten dieses Doktors befanden.

Die Teilnehmer waren zunehmend begeistert von den Möglichkeiten einer natürlichen Medizin, die ihnen bis dahin vorenthalten geblieben war. Ein nettes Pärchen, das im 7. Lebensjahrzehnt den zweiten Frühling erlebte, zeigte sich besonders aufgeschlossen. Vor allem über Liebesund Verjüngungskräuter wollten sie etwas erfahren.

Eines Tages jedoch reichten sie mir, sichtlich niedergeschlagen, einen Artikel, den sie in der Familienzeitschrift, Living Today gefunden hatten. Die in dicken Lettern gedruckte Überschrift lautete: »Die Gefahren der Kräutertees«. Der Verfasser, ein Dr. Lewis, Dozent an der Washington Universität in St. Louis, warnte eindringlich vor Kräutern. Kamillentee könne bei Heuschnupfenasthmatikern einen gefährlichen Schock auslösen. Sennesblättertee verursache starke, zuweilen sogar tödlich verlaufende Durchfälle... »Leider«, schrieb der Lobbyist, »ist sich das amerikanische Publikum der Gefahren dieser Produkte nicht bewußt. Viele der angebotenen pflanzlichen Produkte sind noch nicht getestet worden; ihr Einfluß auf den Körper ist noch nicht völlig geklärt; ihre Wirkung ist den Konsumenten vielfach nicht bekannt.« Am Ende des Artikels schlug er die Gründung eines Meldesystems zum Schutz der Verbraucher vor, das den Ärzten erlauben würde, der staatlichen Zentrale für Krankheitskontrolle (Government Center for Disease Control), jeden Vorfall einer Erkrankung, die von Kräutern herrührt, zu melden. Auf diese Weise könne die Öffentlichkeit vor den gefährlicheren Kräutern gewarnt werden.

»Das ist doch glatte Angstmacherei«, versuchte ich das Pärchen zu beruhigen, »und es trägt die Handschrift der Pharmalobby!«

»Ich leide an Heuschnupfen und trinke auch oft Kamillentee, aber ich habe nie deswegen einen Schock erlitten«, pflichtete eine andere Kursteilnehmerin bei. »Und was die Sennesblätter betrifft, natürlich können sie Durchfall verursachen – das sollen sie ja auch; deswegen werden sie ja als harmloses Abführmittel verschrieben!«

Es nützte aber alles nichts. Die beiden erschienen nicht mehr im Kurs. Die Warnung seitens höherer Autorität, die schwarz auf weiß gedruckte professorale Mahnung, hatte sie in ihre Grenzen verwiesen. Der Ausflug in die verbotenen Gefilde einer naturnahen Medizin war beendet.

Stimmt es wirklich, daß Heilkräuter unerprobt sind, daß sie noch aufwendiger Forschung bedürfen, ehe sie von den Autoritäten zum Gebrauch freigegeben werden können? Sicherlich nicht! Kräuter werden schon seit Jahrhunderten angewendet, synthetische Medikamente hingegen selten lange genug, um mit Gewißheit sagen zu können, wie sie sich im Organismus verhalten. Trotz Rattentests gab es den Contergan-Skandal. Das synthetische Hormon DES (Diethystilbesterol), das man schwangeren Frauen zur Verhütung eines vorzeitigen Aborts verschrieb, wurde jahrelang mit allen Mitteln geprüft. Erst in der nächsten Generation stellten sich die Nebenwirkung heraus: Scheidenkrebs bei den Mädchen und Unterentwicklung der Genitalien bei den Jungen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht der Hersteller des Schmerzmittels Dolantin vor einem Brüsseler Gericht. Das Mittel, das u. a. Müttern bei der Entbindung gespritzt wird, verursacht Hirnschädigungen bei Föten.

Und wie steht es mit den, seit den fünfziger Jahren massiv angewendeten, Wunderwaffen gegen Bakterien, den Antibiotika? Bei akuten Entzündungszuständen haben sie zwar viele Leben gerettet, inzwischen weiß man jedoch, daß sie langfristig das Immunsystem schwächen. Sie stören das delikate Gleichgewicht der körpereigenen Flora, können zur Superinfektion (Überhandnahme eines virulenten Erregers) und zur Verpilzung (Candida) führen. Das hemmungslose Verschreiben, etwa unnötigerweise bei viralen Infektionen, hat dazu geführt, daß immer neuere superresistente Bakterienstämme gezüchtet werden, die nun die Menschen bedrohen. In den USA starben allein im Jahre 1992 13.300 Menschen an Infektionen, obwohl sämtliche Antibiotika versucht wurden. Und wie verhält es sich mit den Steroidhormonen und den Kortisonbomben, die so leichtfertig verschrieben werden? Als Nebenwirkungen sind unter anderem Knochenbrüchigkeit, Fettablagerungen, erhöhter Blutdruck, Muskelschwächung, gastrointestinale Geschwüre und Psychosen zu beklagen. Ein anderes Thema sind die Synergysmen bei der kombinierten Verabreichung synthetischer Mittel. Kein Arzt kann den Überblick über die ca. 80.000 künstlichen Medikamente behalten. Die Gefahr der Medikamentenvergiftung und der Arzneimittelschäden nimmt ständig zu.

image