Kapitel 4 – Wasted Youth

 

Wildenstein

 

Kayleigh

 

Der Frühstückstisch war reich gedeckt. Frisch gebackene Brötchen dufteten um die Wette mit köstlichem Rührei, frischer Obstsalat lachte sie genauso an wie herrlicher Käse. Dennoch fühlte Kayleigh sich unwohl. Alles hatte etwas Unwirkliches, Bedrohliches. Lag es nur an ihren Erlebnissen der letzten Tage und den dicken Mauern der Burgküche mit den kleinen hochgelegenen Fenstern, die kaum Tageslicht hereinließen? Trotz der unheilschwangeren Atmosphäre genoss Kayleigh das Frühstück. Beim Verspeisen eines Brötchens, belegt mit hauchdünnem Ziegenkäse und mit selbstgemachter Erdbeermarmelade bestrichen dachte sie zurück an ihr morgendliches Erwachen. 

Sie war in dem Bett aufgewacht, in das sie in der Nacht zuvor erschöpft gesunken war. Es statt in einem gut ausgestatteten aber tageslichtlosen Zimmer. Diese hatte ein eigenes Bad welches mit allem Nötigem ausgestattet war. Kayleigh hatte die Gelegenheit genutzt ein heißes Bad zu nehmen. Die Wärme tat ihrem strapazierten Körper genauso gut wie Ihrer strapazierten Seele. Sie ließ sich tief ins Wasser sinken. Sie versuchte jeden Gedanken an das Vergangene zu verdrängen. Mit geschlossenen Augen genoss sie nur das Bad.

Versunken in Gedanken war sie kurz davor einzunicken, als plötzlich jemand an die Tür des Bads klopfte und hereintrat. Erschreckt fuhr sie auf. Eine ältere, mollige Frau, in Kleid und Schürze, lächelte sie an. Dabei bildeten sich so viele Lachfältchen in ihrem Gesicht und ihre Augen strahlten, dass Kayleigh, obgleich sie zusammengezuckt war, unwillkürlich zurücklächeln musste. Schnell verbannte sie das Lächeln wieder aus ihrem Gesicht. Zu groß war ihr Argwohn. Mit fröhlicher Stimme stellte sich die Frau vor.

‚Ich bin Agnes und ich habe in der Küche ein kleines Frühstück für Dich. Hier ist ein Bademantel und nebenan habe ich ein paar Sachen für Dich hingelegt. Hunger?‘ 

Erst bei dieser Frage viel Kayleigh auf, dass sie wirklich hungrig wie ein Wolf war. Sie nickte und nahm den Bademantel. Agnes zog sich dezent zurück während das Mädchen aus dem Bad stieg. Schnell machte sie sich fertig und schaute nach der Kleidung, die ihr die Frau hingelegt hatte. Eine Jeans, in der gleichen Größe wie die, welche sie gestern getragen hatte, dazu ein weiter Pulli, Unterwäsche und Sneaker. Alles passend und nagelneu. Irgendjemand hatte hier einen riesigen Kleiderschrank oder einen tollen Einkaufsdienst.

Schnell zog sie sich an und öffnete die Zimmertür. Fast wäre sie wieder zusammengezuckt. Ein Mann stand vor der Tür. Unauffällig und zurückhaltend, als wäre er selbst Teil des Inventars. Es war der Mann in Livree, den sie gestern schon gesehen hatte.

Er grüßte sie förmlich und höflich mit einem Kopfnicken. ‚Fräulein‘

War dieses Wort nicht in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts abgeschafft worden?

‚Mein Name ist Horatio. Es wäre mir eine Freude, Dich zur Küche geleiten zu dürfen.‘

Zögernd folgte sie ihm. Was sollte sie auch tun. Essen konnte jedenfalls nicht schaden.

Die Frau, Agnes, erwartete sie in der durch einen großen Kachelofen geheizten Küche. Modernste Küchenausstattung war gepaart mit alten Holzdielen, einem großen Arbeits- und Esstisch mit gemütlichen Bänken und das Ganze in einem großen Raum mit steinernen Wänden. Nur durch die tiefen, mit bestimmt Jahrhunderte alten Gittern versehenen Fenster in bestimmt zweieinhalb Meter Höhe fiel Licht herein. Sie befanden sich wirklich in einer Burg. Oder in einem Gefängnis.

Bevor sie sich weiter ihren düsteren Gedanken hingeben konnte wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem beansprucht: Das kleine Frühstück entpuppte sich als ein riesiges Tablett voller Leckereien. Na zumindest eine üppige Henkersmahlzeit dachte sie für sich.

Wohlwollend - oder bedauernd? - schaute Agnes sie an.

‚Na passt alles? Horatio war heute Morgen schon unterwegs, um Dir etwas zum Anziehen zu besorgen, aber Männer und Kleidergrößen.‘

Sie rollte theatralisch mit den Augen.

Kayleigh traute dem Frieden nicht antwortete aber höflich. ‚Danke, als hätte ich es mir selbst ausgesucht.‘

An den Mann gewandt ergänzte sie:,

Vielen Dank, Herr Horatio.‘

‚Nur Horatio, junge Dame.‘

Dabei klang er betont würdevoll und verzog keine Miene.

Sie meinte aber fast ein kleines humorvolles Glitzern in seinen Augen gesehen zu haben, oder war es ein bedrohliches Funkeln? Kayleigh, komm wieder runter, ermahnte sie sich selbst.

‚Sie sind nun erst mal versorgt, ich kümmere mich um die Wagen. Meine Damen.‘

Mit einer knappen Verbeugung verschwand er.

Kayleigh blickte ihm hinterher. Er strahlte etwas aus, was war es? Ruhe, Halt. Genau. Keine geheimnisvollen Blicke, mysteriöse Andeutungen. Ein gutes Gefühl. Und vielleicht war es wirklich ein humorvolles Glitzern in seinen Augen gewesen. Tief in ihrem Innern versuchte eine Stimme zu ihr durchzudringen. Doch Kayleigh konzentrierte sich ganz auf das Frühstück.

 

Horatio

 

Ein nettes junges Ding, fast tut sie mir leid. Diesen Gedanken verdrängte Horatio schnell wieder. Es gab heute viel zu tun. Eins davon war, Meldung zu machen, dass das Mädchen wach war. 

 

Kayleigh

 

Sie hatte tausend Fragen, aber der Hunger hatte Vorrang. Eine kalorienreiche Stunde später schmiegte sie sich an den Kachelofen mit einer riesigen Tasse heißer Schokolade in der Hand. Ein bisschen Halt in einer zerstörten Welt. Sie verfolgte Agnes mit den Augen.

Wie unbeschwert und selbstsicher diese in der Küche herumfuhrwerkte. Sie musste eine Art Haushälterin sein. Eine Weile schaute sie ihr bei der Arbeit zu, genoss die Alltäglichkeit. Allmählich erwachten ihre Lebensgeister wieder. Nach einem großen Schluck aus der Tasse begann sie Agnes auszufragen.

‚Wo bin ich hier, was ist das für eine Burg. Ich meine, ich weiß ja gar nicht warum ich hier bin. Wer ist diese Frau, was…‘

Agnes stoppte sie mit erhobener Hand. ‚Eins nach dem anderen. Du bist hier auf der Burg Wildenstein und die gehört der Baronin Zarah von Wildenstein. Sie hat Dich gestern am Burgtor empfangen. Einige Stunden vorher hatte sie mich geweckt und Deinen Besuch angekündigt. Etwas spät in der Nacht für meinen Geschmack, aber ich bin hier einiges gewohnt.‘

Sie seufzte theatralisch.

Wow, eine Baronin mit einer eigenen Burg. Gespannt wartete Kayleigh auf weitere Erläuterungen als das Haustelefon klingelte. Agnes nahm den Hörer ab und lauschte. ‚Ja, sofort.‘

Ohne weitere Worte legte sie auf und nahm einen Stapel Handtücher aus einem Regal am anderen Ende der gewaltigen Küche.

‚Würdest Du mir einen Gefallen tun?‘

Kayleigh nickte wortlos. Das ungute Gefühl machte sich wieder in ihr breit.

‚Kannst Du die hier bitte in das Badezimmer der Baronin im zweiten Stock bringen?‘ Kurz beschrieb Agnes ihr den Weg. ‚Danke Dir.‘

Kayleigh nahm die frischgewaschenen Tücher und machte sich auf den Weg. Die Baronin hatte wohl mehrere Badezimmer wenn sie das richtig verstanden hatte. Ob sie sich den Weg überhaupt richtig gemerkt hatte? Na ja, sie würde es schon finden. Die langgezogenen Gänge der Burg waren düster. Überall dunkle Nischen. Ihr war unwohl. Ungewollt wurden ihre Schritte immer schneller. Als sie tatsächlich das scheinbar richtige Zimmer fand, rannte Kayleigh schon fast. Leicht zitternd versuchte sie sich zu beruhigen. Schüchtern klopfte sie. Außer einem leichten Rauschen keine Antwort. Ein kurzes Zögern, sie öffnete die Tür und vorsichtig hinein. Ihre Augen blickten auf ein dunkles, aufgeräumtes Zimmer. Alles war in schwarz oder dunkelgrau gehalten. Wände, Möbel, die Decke. Selbst das Licht schien nur düster zu leuchten. Auf einem Stuhl lag ein schwarzglänzender seidener Morgenmantel. Darauf, als einziger Farbpunkt im ganzen Raum und dadurch wie von einem Künstler drapiert wirkend lag ein spitzenbesetzter leuchtendroter Tanga. Kayleigh war ungewollt beeindruckt und fasziniert. Sie selbst trug nur unspektakuläre Unterwäsche. Oft sogar Boxer-Shorts.

Wie wohl die Baronin in dieser Unterwäsche aussah, die rote Spitze auf heller Haut, der Slip ihre weichen Pobacken umspannend, der rote Stoff eng auf ihrem Venushügel liegend?

Oophs, was hatte sie nur für Gedanken? Schnell wandte sie sich zur Badezimmertür. Diese stand halb offen. Die Baronin duschte gerade und als Kayleigh näher trat, konnte sie direkt auf die großzügig gebaute Dusche blicken. Mehrere Duschköpfe von oben und auf drei Ebenen sprühten ihr warmes Wasser auf den nackten Frauenkörper, der die massierenden Strahlen genoss.

Die Burgherrin hatte sich eingeseift und wusch sich nun den Schaum vom Körper. Lange schwarze Haare klebten nass an ihrem schlanken Rücken. Das Wasser rann an ihm herab über ihre herrlich geschwungenen Hüften und den festen Hintern, dessen volle Rundungen Kayleigh bewundernd anschaute. Das Wasser floss zwischen den Pobacken, die langen Schenkel entlang und über die  statuen-gleichen Waden. Sie sah, wie die Hände der Baronin den Schaum abwuschen und dabei über ihren ganzen, nassen Körper strichen. Lange schlanke Finger glitten über  schaumbedecktes Fleisch, wuschen es, drückten es. Besonders intensiv schienen die fleißigen Hände zwischen den Schenkeln der Nackten zu verweilen. Mit einer Hand drehte sie an einer Armatur und der Strahl aus der mittleren Wanddüse wurde zu einem kräftigen Massagestrahl.

Beide Hände nach oben reckend, hielt sich die Baronin an einer Stange fest, die horizontal unter der Decke hing. Kayleigh hatte sie bisher gar nicht bemerkt. Mit stockendem Atem sah sie, wie die Baronin leicht die Beine spreizte und ihre Hüfte dem kräftigen Strahl entgegen reckte. Geschmeidig versetzte sie ihren Unterkörper in kreisende Bewegungen. Kayleigh wurde warm, sie konnte ihren Blick nicht von dem lasziv kreisenden Becken unter der Dusche abwenden.

Die Baronin seufzte, ihren Kopf nach hinten werfend drängte sie ihren Unterleib noch näher an die Wand und an den sprudelnden Duschkopf. Es war eindeutig was hier gerade geschah. Als sich ihr Körper ekstasisch versteifte, ließ Kayleigh die Handtücher fallen und verließ fluchtartig das Zimmer.

Draußen auf dem Flur lehnte sie sich erst mal gegen die Wand und atmete tief durch. Sie war bestimmt knallrot im Gesicht. Beruhige Dich wieder. Mit Mühe verdrängte Kayleigh die Bilder in ihrem Kopf und machte sich mit aufgewühlten Gefühlen  auf den Weg in die Küche zurück.

Sie wanderte durch lange Gänge, die mit Teppichen ausgelegt waren. Steinerne Wände mit Wandbehängen wechselten sich ab mit kostbaren Holztäfelungen. Eine geschwungene Treppe führte in eine große Halle und von da fand sie wieder den Weg in die tiefer liegende Küche.

Agnes sah sie an ,Danke schön! Jetzt wird es Zeit, dass Du einen weiteren Burgbewohner kennenlernst. Komm mit.‘

Froh über die Ablenkung folgte Kayleigh der Haushälterin. Sie wurde nach draußen in den unteren Burghof geführt. Hohe massive Mauern umgaben ihn. Alles wirkte düster. Davon unbeeindruckt plauderte die gutmütige Frau über dies und das. Den Kuchen den sie heute backen würde, Horatios Leidenschaft für englische Fußball-Clubs, das Wetter und mehr. Kayleigh kam gar nicht dazu, selbst etwas zu fragen, aber diese alltäglichen Themen ließen alles etwas weniger bedrohlich wirken. Doch tief in ihr blieb ein Misstrauen. Agnes öffnete eine schwere Tür und sie gingen durch ein Mauerstück bis sie wieder im Freien waren. Wieder hohe Mauern lag ein Hof vor ihnen. Auf der anderen Seite drängten sich flache Gebäude daran.  Mehrere Garagentore waren zu sehen von denen eines offen stand.

‚Das waren früher einmal Ställe. Passenderweise parken da heute die Wagen der Baronin.‘ erklärte Agnes.

Vor dem offenen Tor stand ein schwarzer zweitüriger Bentley funkelnd in der Sonne. Ein junger Mann, kaum älter als Kayleigh selbst, war gerade dabei, die Chromteile des Kühlergrills zu polieren.

Guten Morgen Corwin‘, rief Agnes ihm zu, ‚darf ich Dir unseren neuen Besuch vorstellen?‘ Der junge Mann schaute auf. Er hatte schwarze, kurz geschnittene Haare die gewollt struppig in alle Himmelsrichtungen standen. Braune Augen schauten aus einem gutaussehenden Gesicht. Er war durchschnittlich groß und trug eine Blue-Jeans, ein Longsleeve mit hochgeschobenen Ärmeln und darüber ein aufgekrempeltes Hemd. Er richtete sich auf und schaute Kayleigh interessiert an. Irgendetwas fiel Kayleigh an seinen Bewegungen auf, sie konnte es nur nicht greifen. Nach einem kurzen abschätzenden Blick schien er zufrieden zu sein und grinste sie an.

‚Hallo, willkommen in der Festung.‘ Er reichte ihr den Ellenbogen ‚Sorry, meine Hände sind schmutzig.’

Jetzt realisierte Kayleigh was ihr an seinen Bewegungen bekannt vorkam. Sie erinnerten sie an Frost. Nicht ganz so gespannt, aber genauso katzenartig und in sich ruhend. Bei Frost war ihr es nicht sonderlich aufgefallen. Als ihr Retter und Vernichter mehrerer Monster hatte er sowieso eine ungreifbare Souveränität ausgestrahlt. Bei einem jungen Mann wie Corwin fiel es dafür umso mehr auf. Sie schüttelte seinen Ellenbogen ohne sein Grinsen zu erwidern.

,Hallo. Ich bin Kayleigh.’

Agnes entschied, die jungen Leute sich selbst zu überlassen.  ‚Ich lasse Euch jetzt allein, die Arbeit wartet nicht. Corwin, um zwölf möchte die Baronin Kayleigh empfangen. Bringst Du sie dann in die Bibliothek? Um eins gibt es Mittagessen. Bis dahin kann sie Dir beim Polieren helfen. Seid brav.’

Und sie war verschwunden. Corwin lachte, er schien viel zu lachen.

,Keine Angst, Horatio würde es nie erlauben, dass jemand ohne jahrelange persönliche Einweisung, Spezialausbildung und in geheimen Laboren entwickelter High-Tech-Ausrüstung  Hand an ‚seinen’ Wagen legt. Setz Dich einfach zu mir, dann habe ich wenigstens Gesellschaft.’

Kayleigh setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die Wand der ehemaligen Ställe. Munter plauderte der Junge weiter.

‚Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe und nicht so einfach wie es aussieht. Ursprünglich habe ich hier als Ingenieur angefangen, habe mich aber mittlerweile hochgearbeitet.‘

Kayleigh musste einfach auch grinsen. Neugierig fragte sie:

,Was machst Du hier, wenn Du nicht gerade der herausfordernden Aufgabe nachgehst Wagen zu polieren?‘

‚Hmm, eigentlich so alles, für das man billige Arbeitskräfte braucht.‘

Er zwinkerte ihr zu.

‚Nein, ich mache hier meine Ausbildung. Seit fast zwei Jahren schon. Und ganz ohne Witz, in der Zeit habe ich soviel gelernt, wie in meinem ganzen Leben zuvor.‘

So erzählte er darauf los. Was genau das für eine Ausbildung war, verriet er nicht, aber eine Menge anderer Dinge. Etwa über Horatio. Dieser war Chauffeur, Kammerdiener und Verwalter in einer Person. Außerdem war er für die Ausbildung von Corwin zuständig sowie die Sicherheit der Burg. Hier klingelten wieder Kayleighs innere Alarmglocken Was denn das bedeutete, wollte sie wissen.

‚Das keiner hier rein und keiner raus kommt, wenn die Baronin es nicht will.‘

Sein Gesicht sah nicht aus, als wäre dies scherzhaft gemeint.

Kayleigh wollte auch mehr über die Burgherrin wissen. Viel verriet Corwin nicht. Er bestätigte jedoch das Offensichtliche: Die Baronin hatte viel Geld. Woher das stammte wusste er nicht. Einem Beruf schien sie nach seinem Wissen nicht nachzugehen. Einen Teil ihrer Zeit verbrachte sie damit Teile seiner Ausbildung zu übernehmen. Welche Teile führte er nicht weiter aus. Geheimnisse lagen über allem was mit der Baronin zusammenhing wie dunkle Wolken vor einem hereinbrechenden Sturm.

Außer Agnes, Horatio und ihm gab es noch einige Angestellte auf der Burg. Einige Beschäftigte und Handwerker kamen bei Bedarf, zwei Hausmädchen und ein Gärtner täglich aus dem Dorf, um anfallende Arbeiten zu erledigen. Wie die Baronin persönlich so war, wollte Kayleigh wissen.

Darauf antwortete er nur ausweichend.

, Du wirst sie selbst kennenlernen.‘

So verflog der Vormittag und Corwin stellte irgendwann fest, dass es Zeit war sie zu ihrem Treffen mit der Burgherrin zu führen. Kayleigh wurde schlagartig wieder nervös.

 

Frankfurt am Main

 

Frost

 

Frost fuhr die Auffahrt zum Hauptquartier des Deutschen Ordens hinauf. In Gedanken war er noch bei der  Frau, die er heute Morgen so ungern verlassen hatte. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Hey Frost, Du wirst doch nicht gefühlsduselig werden?

Seine Weg führt ihn vorbei an einer Reihe von Parkplätze die den vielen Besuchern zur Verfügung standen. Der Orden war nicht nur bekannt für seine Bibliothek, von der ein wesentlicher Teil ganz bewusst nicht über das Internet verfügbar war, sondern auch für seine  Ärzte und seine Spendensammlungen. Täglich kamen hunderte Besucher auf der Suche nach Wissen, Rat und Hilfe zur Abtei.

Der Bau selbst hatte nichts mit dem zu tun, wie man sich ein Kloster oder eine Ordens-Burg vorstellen mochte. Erst vor einigen Jahren gebaut ragte das dreizehnstöckige Gebäude auf einer Anhöhe über die Stadt, als wollte es über sie wachen. Moderne Fensterflächen spiegelten die trübe Vormittagssonne wieder. Auf dem obersten Stockwerk wölbte sich das halbrunde Dach eines Helikopterhangars mit einem Landeplatz davor. Zehn weitere unterirdische Stockwerke verbargen Anlagen, die den wenigsten Besuchern zugänglich waren.

Frost kannte auch die Bunker um den Komplex, die verschiedene Abwehreinrichtungen enthielten. Ohne große Verzögerung passierte er mit dem Wagen die Schranke zum inneren Parkplatz. Freundlich lächelnde Wächter kontrollierten flüchtig seinen Ausweis. Er kannte sie beide und er war ihnen sicherlich noch besser bekannt. Frosts Eskapaden waren immer für ein Stammtisch-Gespräch gut.

Statt den Wagen hier abzustellen fuhr er weiter zu einem kleinen unscheinbaren Tor, das sich nach kurzem Zögern öffnete sobald er den Kontaktstreifen davor überfahren hatte. Wie er wusste hatten ihn mehrere Kameras im Blick und ein bewaffneter Ordensbruder steuerte das Tor. Nach dem Durchfahren stand der Wagen in einem Aufzug, der Platz für einen ganzen Sattelschlepper geboten hätte. Hinter ihm schloss sich das Tor.

Nun folgten einige Minuten, in denen das komplette Fahrzeug und er ausgiebig gescannt und überprüft wurden. Die Prozedur hatte er schon unzählige Male über sich ergehen lassen. Heute jedoch vermittelte ihm die relative Enge des Aufzuges und das Beobachtet-Werden ein ganz ungutes Gefühl. Das Gefühl, dass es im Orden Verräter gab, lastete auf Frost. Einer von ihnen könnte jetzt an den Kontrollen des Aufzuges sitzen. Dort waren auch die Schalter für die automatischen Schussanlagen und Gasventile der Sicherheitsschleuse, denn nichts anderes war dieser Aufzug.

Als sich der Boden endlich nach unten bewegte, hätte er erleichtert sein müssen. Aber seine Anspannung stieg. Dieser Bunker hatte ihn schon immer genervt. Wenn sie wenigstens vernünftige Fahrstuhlmusik hätten, aber da wird natürlich wieder gespart. Das einzige Beruhigende war der Druck seiner Waffe im Schulterholster. Jetzt musste er über sich selbst grinsen. Sehr hilfreich wenn sechs automatische Maschinengewehre mit Spezialgeschossen den Raum durchsiebten oder Spezial-Betäubungsgas die Luft ersetzte.

Das Grinsen hatte er auch noch auf dem Gesicht, als sich die zweite Aufzugtür öffnete und er in die Läufe von acht Waffen blickte die ein gepanzerter Spezialtrupp auf ihn richtete.

Ruhig stieg Frost aus dem Auto. Er kannte keinen der Bewaffneten. Nach den Abzeichen waren es Mitglieder der Leibgarde des Abtes. Sobald er neben dem Auto stand und seine Hände deutlich zu sehen waren senkten sie die Waffen und der Anführer begrüßte ihn.

‚Willkommen zuhause Ritter. Bitte entschuldigt die Sicherheitsmaßnahmen. Wir haben höchste Alarmstufe.’

Frost nickte. ‚Der Abt erwartet mich.’

‚Kommt mit Ritter.’

Er wurde von dem Trupp in die Mitte genommen. Seine Automatik musste er im Wagen lassen. Standardprozedur, im Ordensgebäude sollte nicht jeder bewaffnet herum laufen. Eine weitere Wache würde sich zusammen mit dem Wagen darum kümmern. Dass er auch sein Handy zurücklassen musste, war nicht Standard. Frost wurde abgetastet und musste alles was einer Waffe oder einem Kommunikationsmittel ähnlich war zurücklassen. Nur seinen Nintendo Handheld durfte er behalten, nachdem er den Anführer augenzwinkernd darauf hingewiesen hatte, dass er ihn benötigte, um sein tägliches Gehirntraining durchzuführen.

Frost war sich nicht sicher, ob ihn die Männer um ihn herum beruhigten oder beunruhigten. Sie führten ihn tiefer in den Komplex und weitere Stockwerke hinab. Dort war nicht das Büro des Abtes, ganz sicher nicht. Schnell ging Frost seine Optionen durch. Unbewaffnet, umgeben von einem Haufen Bewaffneter… Bevor er mit seinen Überlegungen zu einem hilfreichen Schluss gekommen war, erreichten sie nach dem Weg durch einen kargen Gang aus Beton einen Raum, der von kaltem Neonlicht ausgeleuchtet wurde. Er maß circa sechzig Quadratmeter und hatte keine Möblierung außer einem Blechtisch, einem Sessel dahinter sowie einem Stuhl davor. Die Männer befahlen ihm zu warten. Nicht Standard.

Hmm, ich bin beunruhigt, stellte Frost fest und grinste. Okay, Junge, das ist dezent untertrieben. Du steckst mal wieder in der Scheiße. Er rechnete sich die Chancen aus, sich mitsamt dem Stuhl nach hinten zu werfen, sich abzurollen und dabei zwei Mann umzuwerfen, sich die Waffe des einen zu greifen und gleichzeitig mit einem Beinfeger zwei weitere zu Fall zu bringen. Dann brauchte er nur noch zwei Mann mit gezielten Schüssen auszuschalten und die übrigen beiden mit einem lauten Buh! In die Flucht zu schlagen. Das war ja fast schon zu einfach, nicht sein Stil.

Frost entschloss sich, erst einmal ruhig sitzen zu bleiben und der Dinge zu harren, die da kommen mochten.

‚Wann wird der Abt hier sein?‘ fragte er in die Runde.

Der Anführer des Trupps, zögerte kurz. Dann antwortete er: ‚Er sollte in dreißig Minuten hier sein.’

Frost betrachtete das als seine Gnadenfrist. Er legte die Füße auf den Tisch vor sich, holte seinen mobile Spielkonsole heraus. In aller Ruhe begann er sich darin zu vertiefen. Seine Bewacher standen still. Frost lächelte vor sich hin und drehte die Spielmusik lauter. Schon nach kurzer Zeit zeigte das Wirkung. Einer seiner Bewacher forderte ihn auf die nervige Musik wieder auszumachen.

Lässig antwortete er ‚Hey, ohne macht es aber nur halb so viel Spaß. Wenn ich hier schon sinnlos warten muss nachdem ich tagelang im Einsatz war, darf ich mich ja wohl beschäftigen wie ich es will.‘

Es entspann sich eine gereizte Diskussion über die Qualität der Musik so dass die Männer völlig überrascht wurden, als die Tür des Raumes sich unvermittelt öffnete.

Im Rahmen stand ein großer dunkelhäutiger Mann von der Statur eines Disco-Rausschmeißers und mit einem Gesichtsausdruck, der genauso wenig Gnade zeigte. Wie beiläufig trug er eine kurze aber schwere Maschinenpistole in der Hand, ganz zufällig auf die Männer im Raum gerichtet. Hinter ihm eine Gruppe von leger gekleideten Rittern, jeder bewaffnet. Der große Mann grinste und schob dabei eine halb fertig gerauchte Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen.

‚Frost, Du hier? Was für ein Zufall! Du musst unbedingt mit uns einen Trinken kommen.’

Er zwinkerte den völlig überrumpelten Wachen zu.

‚Messwein, natürlich.’

Frost packte seine Spielekonsole und schwang die Beine vom Tisch.

‚Sorry Jungs, aber das ist Ehrensache, ich melde mich später beim Abt.’

Bevor jemand reagierte, war er an der Tür.

‚Big Bert, hier ist Rauchverbot.’

Dann verdrückte er sich schnell, während seine Freunde ihm den Rücken deckten. Dabei schlug er dem griesgrämig drein blickenden Hans Lofstraad freudig auf die Schulter. Der alte Zocker hatte seine Spielekonsole auch immer dabei. Über die drahtlose Netzwerkverbindung hatte er Hans alarmiert. Es lebe die moderne Technik.

 

Wildenstein

 

Kayleigh

 

Die Bibliothek war ein großer gemütlicher Raum mit deckenhohen Bücherregalen, einem offenen Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte und einem alten Leuchter als Lichtquelle. In einem Teil stand ein Snooker-Tisch, im anderen, um den Kamin gruppiert, eine Reihe von bequem aussehenden Ledersesseln. Unter anderen Umständen hätte es Kayleigh hier gut gefallen. Corwin hatte sie hergebracht, alleine hätte sie sich in der Burg verlaufen.

Hier ruhte die Frau, die Kayleigh gestern Nacht schon gesehen hatte, mit angezogenen Beinen gemütlich im Sessel.  In der Hand hielt sie eine Tasse mit heißem, duftenden Tee.

Kurz und knapp stellte Corwin sie vor. ‚Baronin, Kayleigh.‘

Die Baronin warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Eine Mischung aus Interesse und  Einschätzung. Vielleicht als wollte sie mit ihrem Blick Kayleigh durchdringen um alles herauszufinden, das sie vor ihr verbergen mochte. Schließlich nickte sie Corwin zu.

‚Danke, bis später.‘

Er verschwand und die Baronin begrüßte sie.

‚Schön dass es Dir wieder gut geht, gestern Nacht warst Du ziemlich mitgenommen. Setz Dich doch.‘

Sie wies auf den Sessel zu ihrer Rechten. Kayleigh trat nervös näher und sah, dass in einem Sessel, der mit dem Rücken zu ihr stand, noch jemand saß. Durch die breiten Lehnen war sein Gesicht zunächst verborgen. Als sie sich in den ihr zugewiesenen Sessel setzte, konnte sie den Besucher ganz erkennen. Es war der schönste Mann, den sie je im Leben gesehen hatte.

Seine Schönheit verschlug ihr wortwörtlich den Atem. Schlank und groß, gekleidet in einen auszuschließendem Anzug, der seine grazile Figur betonte. Hellblondes Haar wie Weißgold. Geschnitten wie aus einem fernöstlichen Manga, lang, wild, seidig fallend aber doch ungebändigt. Sein Gesicht war perfekt, fast weiblich schön, mit sinnlichen Lippen und hohen Wangenknochen. Seine Augen blitzten bernsteinfarben mit goldenen Sprenkeln darin. Es schien fast, als ginge ein Strahlen von ihm aus. Kayleigh konnte den Blick nicht von ihm losreißen.

Kayleigh, das ist Zad, ein guter Freund von mir. Zad, das ist Kayleigh Stevens.‘

Der wahrgewordene Traum lächelte sie an und ihr wurden die Knie weich.

‚Freut mich, Dich kennenzulernen Kayleigh, setze Dich ruhig.’

Seine Stimme war wie sein Aussehen: perfekt. Sanft, melodiös und stark. Fast hatte sie den Eindruck er würde singen. Ein Operntenor musste sich so anhören. Sie bemerkte, dass sie wie erstarrt stehen geblieben war und setzte sich schnell.

‚Willst Du einen Tee?’

Die Baronin lächelte amüsiert, offensichtlich war sie die Wirkung ihres Besuchers auf Frauen gewohnt.

‚Gerne, vielen Dank.’

Kayleigh stotterte fast.

Die Baronin stand auf und schenkte ihr Tee aus einer Kanne ein, die auf einem kleinen, mit Messing, vielleicht war es auch Gold, beschlagenen Teewagen stand.

‚Zucker?’

‚Nein, danke sehr’.

Die Baronin trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das lässig geschnitten war aber dabei die, wie Kayleigh neidlos feststellte, tolle Figur der Baronin betonte. Langes, schwarzes Haar fiel in einer sanften Welle  bis über die Schulterblätter. Graue, große Augen und ein edel geschnittenes Gesicht machten sie zu einer sehr attraktiven Frau. Ihre Haut war makellos und Kayleigh stellte mit Erstaunen fest, dass sie beim besten Willen nicht sagen konnte, wie alt die Baronin sein mochte. Es hätte irgendwo zwischen zwanzig und vierzig sein können. Ausser einer dünnen Kette mit einem dunklen Stein um den Hals trug sie keinerlei Schmuck. Wieder lächelte die Hausherrin als sie ihr den Tee reichte.

‚Wie fühlst Du Dich?’

Kayleigh überlegte kurz. Die Frage war nicht einfach nur Konversation. Die Baronin wollte wirklich wissen, wie es ihr ging.

Schließlich antwortete sie: ‚Verglichen mit gestern besser. Ich habe sehr gut gefrühstückt und….’ Plötzlich fiel ihr die morgendliche Szene wieder ein und sie kam etwas ins Stocken ‚und, und Corwin ist sehr nett.’

Nach einem prüfenden Blick meinte die Hausherrin: ‚Schön, das ist gut. Du sollst Dich hier wohl fühlen. Wann immer Du etwas brauchst, melde Dich. Aber zunächst möchte ich mich vorstellen, wie unhöflich, das ganz vergessen zu haben. Verzeih mir. Ich bin Baronin Zarah von Wildenstein, nenne mich bitte Zarah. Diese Burg, ein abgeschiedener und sicherer Ort, gehört mir und ich bewohne sie, wenn ich mal Ruhe vom wilden Großstadtleben haben möchte.’

‚Aber’, Kayleigh zögerte, ‚ich kann Sie doch nicht Zarah nennen, ich meine, Corwin….’

Die andere unterbrach sie.

‚Corwin arbeitet für mich, Du bist mein Gast, also: Zarah. Einverstanden?‘

Kayleigh nickte.

‚Einverstanden.’

‚Sehr gut. Vielleicht möchtest du wissen, wie Du hier gelandet bist?’

Vor allem will ich wissen, wie ich hier wieder wegkomme, dachte sie sich. Andererseits hätte es auch schlimmer kommen könnten. An sich hätte sie tot sein müssen. Zerrissen von Monstren aus einem üblen Alptraum. Die Erinnerung an den Schrecken durchfuhr sie und ließ sie schaudern. Es musste auch in ihr Gesicht geschrieben zu sein, denn Zad schaute sie mitfühlend an. Fast hatte sie den Eindruck als wäre er gerne aufgestanden um sie in den Arm zu nehmen. Aber ihr reichte schon ein Blick in seine goldenen Augen um den Schrecken verschwinden zu lassen.

Sanft sagte die Baronin als hätte sie ihre Gedanken gelesen:

‚Schon gut, jetzt bist Du in Sicherheit. Du bist Opfer eines fürchterlichen Angriffs geworden, doch Du wurdest gerettet. Gestern habe ich einen Anruf von einem alten Freund erhalten, der mich gefragt hat, ob ich ein Mädchen aufnehmen und ihr Schutz gewähren könnte. Gerne habe ich zugesagt und jetzt bist Du hier. Ich habe einige Informationen über Dich bekommen, aber nicht viele. Deine Wohnung in Bielefeld ist zerstört. Derzeit gibt es noch eine strenge Nachrichtensperre und Du solltest vorerst zu keinem außerhalb dieser Burg über die Geschehnisse sprechen. Dabei wird es nur um ein paar Tage gehen. Bis die Informationssperre aufgehoben ist, und wenn Du willst noch länger, kannst Du hier bleiben. Mein Haus ist Dein Haus und es wird Dir an nichts fehlen. Sei mein Gast, nein meine Mitbewohnerin, solange Du willst.’

Kayleigh lehnte sich in ihrem Sessel zurück und hob ihre Teetasse zum Mund. Ihre Gedanken rasten. Hatte sie eine Wahl? Wie gefährlich war die Baronin? Was würde passieren, wenn sie darauf bestand hier weg gelassen zu werden. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Teebecher um etwas Zeit zu gewinnen. Dennoch entging ihr nicht der Blick, den sich Zarah und Zad zuwarfen. Es fiel ihr nur schwer, diesen zu deuten.

‚Ich möchte nach Berlin. Dort habe ich einen Freund bei dem ich bleiben kann.‘

Ruhig sah ihr die Baronin in die Augen. Ein Blick, der in das Innerste ihrer Seele zu dringen schien und irgendetwas in ihr berührte. Sie wusste nicht, ob sie diese Berührung ablehnte oder wollte.

‚Gut. Ich werde Deine Abreise vorbereiten lassen. Morgen werden wir Deine Zugkarte buchen und übermorgen wird Dich Horatio zum Bahnhof bringen. Ich denke zwar, hier wärst Du vorerst sicherer, aber wenn Du es so willst. Denke aber daran, dass da draußen eine Welt ist, die in Kürze von dem Überfall auf Bielefeld erfahren wird. Lange kann das nicht geheim gehalten werden, ich schätze maximal noch ein zwei Tage. Dann wird diese Welt nicht mehr sein wie sie war.‘

‚Für mich ist sie das heute schon nicht mehr.‘

Fast trotzig kam diese Antwort aus Kayleighs Mund. Dabei wusste sie, dass sie eigentlich für ihre Rettung dankbar sein musste. Doch sie fühlte den Wahnsinn in sich lauern und dieses Gefühl, als sei da noch jemand der ihr zusah, sie belauschte. Es fiel ihr schwer, diese Dankbarkeit zu empfinden.

Für die Baronin schien jedoch alles zu diesem Thema gesagt zu sein und sie wechselte das Thema. Die drei sprachen darüber, was es alles in der Burg gab und wo Kayleigh Verschiedenes finden konnte. Zur Mittagszeit wurde sie dann von Zarah Essen geschickt. Einerseits war sie froh, dem Gespräch zu entfliehen, andererseits tat es ihr irgendwie weh, diese beiden Menschen zu verlassen. Eine dunkle Seite in ihr hätte die beiden stundenlang anschauen können.

 

Zarah

 

‚Also, was meinst Du?’

Er zog die Augenbrauen zusammen. ‚Du weißt, was ich meine, lass sie in Ruhe und schick sie nach Hause.‘

‚Davon spreche ich nicht. Was meinst Du?‘

Zad senkte den Blick und schwieg eine Weile, schließlich, fast widerwillig, antwortete er.

‚Da ist auf jeden Fall etwas an ihr.’

Nun schaute er ihr eindringlich in die Augen.

‚Was immer es ist, ich rate jedem es nicht zu wecken.’

Er stand auf und trat einen Schritt auf sie zu. Groß stand er vor ihr und beugte sich leicht nach vorne. Seine Stimme schien eine Oktave tiefer zu werden.

‚Ich will, dass Du mir genau zuhörst.’

Sie konnte gar nicht anders, sie war von seinem Blick und seiner Stimme gebannt.

‚Niemand, und schon gar nicht Du, sollte wecken, was in diesem Mädchen ruht.’

Zarah war, als liefe jemand über ihr Grab. Trotz des warmen Kaminfeuers schauderte sie.

Fast als wäre ihm sein Auftreten unangenehm, setzte sich Zad zurück in seinen Sessel.

‚Halte Dich da raus, Zarah.’

Sie schaute ihn an.

‚Du weißt, dass ich das schon lange versuche. Nichts wäre mir lieber. Aber die Vergangenheit holt mich immer wieder ein. Egal wo ich mich verstecke.’

Unwillkürlich griff ihre Hand an den schwarzen Stein, den sie an einer schlichten silbernen Kette um den Hals trug.

Er erwiderte ihren direkten Blick.

‚Was Du tust, würden andere nicht gerade als Verstecken bezeichnen. Da möchte ich erleben, wenn Du Dich nicht versteckst.’

Todernst widersprach sie.

‚Nein, das möchtest Du nicht.’

Er wandte den Blick ab.

‚Nein, das möchte ich nicht.

Eine kurze Stille entstand, bis er wieder ansetzte.

‚Aber halte das Mädchen da raus. Auch wenn Dich Deine Vergangenheit einholt, es muss nicht jetzt sein. Dieses Kind hat nichts getan als zu sein wer sie ist. Lass sie gehen und sie wird ihr Leben weiterleben können wie bisher.‘

‚Niemand wird sein Leben weiterleben können wie bisher. Bielefeld war nur der Anfang.‘

Sie klang als stellte sie nur eine Tatsache fest.

‚Aber Du trägst jetzt die Verantwortung für sie.‘

Zarahs Blick wurde kühl.

‚Erzähle Du mir nichts von Verantwortung, denn wenn sich jemand seiner Verantwortung entziehst, bist Du das. Ich kann nicht meiner Vergangenheit entfliehen, aber Du kannst auch nicht leugnen wer Du bist. Sich immer nur herauszuhalten ist schlimmer als eine Entscheidung zu treffen, selbst wenn es die falsche ist.’ 

Zad schaute sie ruhig an.

‚Ich habe eine Bestimmung, und der folge ich.’

Sie konterte kühl.

Geht es um Deine Bestimmung oder ist es nur eine Ausrede, weil Du nicht weißt, wo Du stehst?‘

Er lächelte nur.

‚Ich denke, wo ich stehe, ist ziemlich klar.’

Zarah nickte widerwillig.

‚Ja, aber dennoch solltest Du selbst die Verantwortung für Dein Handeln übernehmen, und nicht auf irgendeine Weisung warten. Ist es nicht das, was von jedem verlangt wird. Sich zu entscheiden, Verantwortung für sich selbst und sein eigenes Tun zu übernehmen? Ausgerechnet Du entziehst Dich dem?’

Zad schwieg kurz. Er antwortete nicht auf ihre Herausforderung.

Stattdessen stellte er ihr eine Gegenfrage.

‚Was ist mit Dir selbst? Du willst Dich verstecken, doch immer wieder kommt die dunkle Jägerin in Dir zum Vorschein. Wie oft bist Du erschöpft zurückgekehrt, blutverschmiert, mit leeren Waffen. Seit einiger Zeit bist Du in ganz anderen Dingen unterwegs und erzählst selbst mir nichts davon, Deinem alten Freund. Weißt Du noch, wo Du stehst?’.

Er hatte einen wunden Punkt getroffen. Doch sie weigerte sich, das zuzugeben und schwieg.

‚Na gut, ich will Dich nicht bedrängen. Ich vertraue darauf, dass Du weißt was Du tust. Deshalb mache ich mir auch keine Sorgen. Oder nur wenige.‘

Vielleicht solltest Du aber, dachte sie für sich, schwieg aber. Er fuhr fort.

‚Aber eines ist mir wichtig: Lass dieses Mädchen in Ruhe, bitte.’

Hätte sie das nur gekonnt. Aber Dinge waren in Bewegung geraten die keiner mehr aufhalten konnte. Sie fühlte es.