Abgesägt

Wenig später fuhren die drei ??? die Küstenstraße in Richtung Norden. Die Sonne spiegelte sich auf dem schwarzen Asphalt, und es war unerträglich heiß. »Wir hätten Carter fragen sollen, ob wir auf seinem Lastwagen mitfahren dürfen«, stöhnte Bob. Peter tippte sich an die Stirn. »Bist du verrückt? Hast du nicht gesehen, wie der gefahren ist? Ich möchte mal wissen, wie er seinen Führerschein gemacht hat.« Justus deutete auf ein rostiges Schild am Straßenrand. »Da geht es zum Industriegebiet. Wir müssen abbiegen.«

Die Straße führte jetzt ins Landesinnere, und überall sah man kleine Fabriken und Lagerhäuser. Ganz am Ende wurde die Sicht von einem hohen Bretterzaun versperrt. In roter Farbe stand darauf geschrieben: Segerei Carter. Priwatbesiz. Betreden vaboten.

Bob lehnte sein Rad an den Zaun. »Wir sind da. Carter hat tatsächlich recht gehabt: Lesen und Schreiben hat er nach der Schule wieder vergessen.« Auch Justus und Peter lehnten ihre Räder an den Bretterzaun und gingen durch den breiten Eingang. Peter sah sich nervös um. »Vielleicht war das doch nicht so eine gute Idee. Das sieht hier nicht sehr einladend aus.« Sie standen vor einer riesigen Halle. Das Blechdach war völlig verrostet und hatte an vielen Stellen große Löcher. Ringsherum lagerten Unmengen an langen Baumstämmen und Berge mit aufgestapelten Brettern. Vor der Halle parkte der große Holzlaster, und aus der Halle drangen die Geräusche von kreischenden Sägen.

Langsam gingen die drei ??? an dem Truck vorbei und standen schließlich vor einem kleinen Holzhäuschen. Die Scheiben waren eingeschlagen, und von innen hörte man eine raue Stimme. Justus erkannte sie sofort. »Leise! Das ist Carter. Er scheint zu telefonieren.« Vorsichtig schlichen sie näher und hockten sich unter das kaputte Fenster. Bob konnte einen kurzen Blick erhaschen. »Ja, es ist Carter. Er sitzt auf einem alten Bürostuhl und hat die Beine auf den Tisch gelegt.« Aufgeregt belauschten die drei ??? das Gespräch.

»Hören Sie, das was ich Ihnen jetzt biete, bekommen Sie nie wieder. Ich will ja nicht Ihren verdammten ganzen Wald abholzen, sondern nur einen kleinen Teil. Warten Sie, Landers! Nicht auflegen! Ich hab einen Kunden, der zahlt reichlich Kohle für lange Bäume. Nun stellen Sie sich doch nicht so an. Landers? Landers? Mist, Idiot! Aufgelegt.«

Peter zog Justus am T-Shirt. »Achtung! Carter kommt gleich raus. Wir müssen weg hier!«

Blitzschnell entfernten sie sich wieder von der Hütte und schlenderten anschließend am Eingang entlang. Keine Sekunde zu früh, denn Carter kam kurz darauf wütend aus seiner Hütte gestürmt. Als er die drei erkannte, spuckte er auf den Boden. »Ach, ihr seid’s. Schneller als die Feuerwehr. Und das alles für einen lausigen Aufsatz? Als ich damals zur Schule gehen musste, hab ich mich lieber am Strand in die Sonne gelegt. Aber gut, ich hab ja versprochen, dass ihr euch hier umsehen dürft. Was soll ich euch zeigen?«

Justus ging auf ihn zu. »Wirklich nett von Ihnen, Mister Carter. Am besten, Sie zeigen uns alles. Den Weg vom Baumstamm bis zum fertigen Brett.« Wieder spuckte Carter auf den Boden. »Sehr gut. Dann sind wir schnell fertig. Die Sache ist nämlich ganz einfach. Das bekommt man auch ohne Schule hin: Die Baumstämme werden im Wald abgesägt, und dann kommen sie mit dem Holztransporter hier in die Sägerei. Dann geht’s ab auf das Förderband, und schon landen die Stämme in der Halle. Kommt mit! Wird aber ganz schön laut!«

In der Halle herrschte tatsächlich ein ohrenbetäubender Lärm. Carter fuhr fort. »Jetzt wird mit der ersten Maschine die Rinde von den Stämmen geschält. Ruckzuck ist die weg. Und dann kommen die Sägen. Seht ihr die vielen Sägeblätter? Die schneiden die Stämme in Scheiben wie eine Brotschneidemaschine. Die Sägen sind scharf wie Haizähne und gehen durch das Holz wie Butter. Wenn da einer zu nahe kommt, dann gute Nacht. Der kommt auf der anderen Seite raus wie Wurstaufschnitt. Schön sauber in Scheiben geschnitten. Tja, und am Ende hat man viele dünne Bretter. Die hier gehen nach Santa Monica. Die bauen daraus Möbel. Mir ist es aber egal, was meine Kunden aus dem Holz machen. Von mir aus können die Zahnstocher schnitzen. Hauptsache, sie zahlen.«

In der Halle arbeiteten nur wenige Männer. Alle trugen einen Gehörschutz, der aussah wie ein dicker Kopfhörer. Mit großem Abstand gingen die drei ??? an der riesigen Säge vorbei. Sie waren froh, als sie auf der anderen Seite die Halle wieder verlassen durften. Hier schichtete ein kleiner Kran die fertigen Bretter zu hohen Stapeln auf. »Das war’s schon, Jungs«, lachte Carter. »Die Bretter trocknen noch eine Weile in der Sonne und fertig. Ich möchte mal wissen, wie ihr daraus einen ganzen Aufsatz machen wollt. Ich hätte das in vier Sätzen erledigt.«

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Bob hatte so getan, als hätte er auf seinem Notizblock alles mitgeschrieben. »Danke, Mister Carter. Und wo holen Sie das Holz her?«

»Gute Frage, Kleiner. Das wird nämlich immer schwieriger. Früher, da konnte man herumfahren und absägen, was man wollte. Heute gibt es immer weniger Fällgenehmigungen. Die Waldbesitzer sind richtig komisch geworden. Dabei wächst das Zeug doch fast von allein nach. Da muss man manchmal ein bisschen nachhelfen, um die zu überzeugen. Ich brauch schließlich meine Bäume.«

Justus wurde hellhörig. »Wie meinen Sie das: ein bisschen nachhelfen?«

Carter streckte seine Hand aus und rieb Daumen und Zeigefinger. »Na, mit Kohle. Knete, Mäuse, Zaster. Geld regiert die Welt. Für ein paar gute Scheine wird so mancher Waldbesitzer weich.« Doch dann verfinsterte sich sein Gesicht. »Bei den meisten hilft es auf jeden Fall. Leider gibt es einige, die nicht so richtig wollen. Idioten eben. Aber die hab ich auch bald soweit. Kommt mit in mein Büro, dann gebe ich euch eine Cola aus!«

Das Büro war die Holzhütte, und Carter ließ sich auf seinen dreckigen Stuhl fallen. »Klein, aber mein! Da hinten steht ein Kühlschrank. Bedient euch! Aber jeder nur eine. Ich will ja nicht arm werden.« Unauffällig ließ Justus seinen Blick durch das Büro schweifen. Plötzlich entdeckte er auf dem Schreibtisch eine aufgeschlagene Zeitung. Es war der Artikel des Reporters: Tatort Kletterpark.

Carter schien bemerkt zu haben, dass Justus auf die Zeitung schielte. »Hier, habt ihr das gelesen? Da sind drei Jungs oben in den Rocky Hills fast abgestürzt. Das hättet ihr sein können. Sehen euch sogar verdammt ähnlich. Haben die nichts Besseres zu tun, als in den Bäumen herumzuklettern wie die Affen? Irgendwann passiert wirklich mal etwas richtig Schlimmes. Dann können die ihre Kletterseile wieder abhaken und den Laden dichtmachen. Und ich werde mich totlachen, weil ich ihr Holz dann zum Brennholzpreis kaufen kann. Glaubt mir: Irgendwann wird was passieren. Ich weiß nicht wann, … aber irgendwann.«

Die drei ??? hatten genug gehört. Sie hatten keine Zweifel mehr, dass Carter hinter der Sabotage steckte. Doch noch bevor sie ihre Cola ausgetrunken hatten, nahm Carter plötzlich eine riesige Axt von der Wand. Peter zuckte zusammen. »Was haben Sie vor?«, fragte er erschrocken. Carter spuckte auf die scharfe Axtklinge. »Keine Angst, ich will euch damit nicht die Ohren abhacken. Ich zeig euch, was ich in meiner Freizeit mache. Kommt mal mit! Ich betreibe nämlich Timbersport.«

Bob runzelte die Stirn. »Timbersport? Was ist das denn?« Carter grinste. »Sportholzfällen. Das haben die Holzfäller erfunden. Da geht es darum, möglichst schnell Baumstämme zu zerlegen. Mit der Axt, mit der Handsäge und mit der Motorsäge. Timber ist übrigens der Ruf der Holzfäller, wenn ein Baum fällt. Passt auf, ich zeige euch mal an dem Baumstamm da drüben, wie schnell das geht.« Carter drehte sich seine Kappe auf dem Kopf nach hinten und holte tief Luft. Dann schlug er mit mächtigen Schlägen auf den Baumstamm ein. Holz zersplitterte und flog durch die Luft. Nach wenigen Sekunden war der Stamm durchtrennt. »Na bitte«, keuchte er. »Das war zwar kein Rekord, aber immerhin. Mit der Handsäge bin ich noch besser.«

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Justus wollte es jetzt genau wissen. »Haben Sie auch kleine Sägen? Ich meine Sägen, mit denen man etwas dünnere Bretter durchsägen kann. Oder zumindest ansägen?«

Carter sah ihn verwundert an. »Hä? Wieso sollte ich Bretter nur ansägen? Was stellst du für bekloppte Fragen? Nein, natürlich wird immer ganz durchgesägt. Ein Holzfäller macht keine halben Sachen. Ich war übrigens die ganze letzte Woche mit meinen Jungs bei der kalifornischen Meisterschaft in San Francisco. Erst gestern sind wir spät abends zurückgekommen. Hat sich aber gelohnt. Wir haben den zweiten Platz gemacht. Hier, diesen Timbersport-Pokal haben wir gewonnen.« Justus blickte zerknirscht zu Boden. »Glückwunsch. Zweiter Platz ist toll. Danke, Mister Carter, wir müssen jetzt gehen.«

»He, wartet! Gerade jetzt, wo es spannend wird. Ich könnte euch noch stundenlang von den Wettkämpfen erzählen.« Die drei ??? ließen sich aber nicht aufhalten und verschwanden einer nach dem anderen, während Carter wieder zu seiner Hütte ging und dort gegen die Wand spuckte. »Die Jugend von heute. Kein Interesse an nichts. Pah!«