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Zwei Jahre später war POM 55 zugelassen und unter dem Namen »Amildetox®« international auf dem Markt. Das Medikament war der erste Durchbruch in der Behandlung der Alzheimerkrankheit. Mit ihm gelang es in den meisten Fällen, ihr Fortschreiten zu stoppen oder, wie sich Dr. O’Neill ausdrückte, unendlich zu verlangsamen.

Das große Problem blieb die Früherkennung. Trotz intensiver Forschung auf der ganzen Welt war es bisher nicht gelungen, ein diagnostisches Instrument zu schaffen, mit welchem Alzheimer im Anfangsstadium zuverlässig diagnostiziert werden konnte. So blieb »Amildetox®« ein zwar wirksames Medikament, das aber immer zu spät angewendet wurde.

Die Forschung konzentrierte sich auf die Regeneration der verlorenen Nervenzellen.

Die Hoffnung von O’Neill und Kundert, allein die Tatsache, daß die Entzündung gestoppt war, stelle genügend Wachstumsstimulans für die Zellen dar, erfüllte sich nur zum Teil. Die beiden Ärzte hatten zwar im Rehabilitationszentrum ansprechende Erfolge vorzuweisen. Patienten gewannen nach der Behandlung mit »Amildetox®« viele der Funktionen zurück, die es ihnen erlaubten, ein einigermaßen selbständiges Leben zu führen. Aber ähnlich aufsehenerregende Resultate wie bei Konrad Lang waren bisher ausgeblieben.

Konrad Lang litt zwar unter einer totalen Amnesie, was den größten Teil seiner Vergangenheit betraf, aber er schien damit ganz gut zurechtzukommen. Einigermaßen lückenlos waren seine Erinnerungen nur in bezug auf die letzten zweieinhalb Jahre, also ab dem Zeitpunkt, wo der Erfolg seiner Therapie eingesetzt hatte. Das hatte den Vorteil, daß ihn auch keine unangenehmen Erinnerungen plagten, was ihn zu einem zufriedenen, ausgeglichenen alten Herrn machte.

Er beherrschte seine Körperfunktionen, war geistig und finanziell unabhängig und machte, staunend wie ein Kind, kleinere und größere Reisen an Orte, wo er in seinem früheren Leben schon oft gewesen war. Immer in Begleitung einer attraktiven Asiatin, einer früheren Krankenschwester aus Sri Lanka, die viele Jahre jünger sein mußte als er.

Sein Sprachzentrum war fast vollständig rehabilitiert, sein Orientierungssinn wieder intakt, und wer etwas über seine Koordinationsfähigkeit erfahren wollte, mußte ihn nur mit seinem zarten Anschlag Chopin spielen hören.

Dr. O’Neill und Dr. Kundert neigten zur Ansicht, daß das entscheidende Stimulans von Langs erstaunlicher Wiederherstellung die Hypoglykämie gewesen sein könnte, die Unterzuckerung der Hirnzellen, ausgelöst durch Elvira Senns Mordanschlag mit Insulin. Sie bedauerten es manchmal, daß sie dieses Experiment nicht wiederholen durften.

Elvira Senns Porträt hing an prominenter Stelle in der Lobby des Rehabilitationszentrums »Clinique des Alpes«, der »Elvira-Senn-Alzheimer-Stiftung«, dessen Turmsuite Konrad Lang bewohnte. Eine angenehme Bleibe, solange es ihm gelang, dem Patienten mit dem Quadratschädel und den eng zusammenliegenden Augen aus dem Zimmer unter ihm aus dem Weg zu gehen. Der redete ihn, was sonst niemand tat, mit »Koni« an und langweilte ihn mit frei erfundenen – angeblich gemeinsamen – Jugenderinnerungen.

Das Des Alpes war voll von seltsamen Gästen, die sich manchmal etwas extravagant kleideten oder mit Puppen in den Speisesaal kamen und mit ihnen sprachen. Aber in welchen großen Häusern gibt es das nicht: exzentrische Gäste?

Die Klinik stand unter der Leitung von Dr. Peter Kundert und seiner Frau Simone, mit deren Töchterchen Lisa Konrad ein sehr herzliches Verhältnis verband. Manchmal spielte er für sie die »Mückenhochzeit«, ein Scherzlied aus Böhmen, das ihm eines Tages aus dem Dickicht verschollener Erinnerungen zugeflogen war.

Wenn er bei Laune war, spielte er in der Bar der »Clinique des Alpes« für die sonderbaren Gäste zur Cocktailstunde ein paar alte Melodien aus einer Zeit, an die er sich nicht erinnern konnte.

»Seit dem neuen Pianisten ist hier viel mehr los«, fanden die Hurni-Schwestern.