8

 

Etwas länger als ein Jahr nachdem der Schlittenkutscher Fausto Bertini ihn in einem Schneeloch im Stazerwald gefunden hatte, schien es, als ob Konrad Lang sich ganz in sich zurückziehen wollte. Die einzigen, die noch Zugang zu wenigstens einem Teil von ihm fanden, waren Schwester Ranjah, die er anstrahlte, sobald sie den Raum betrat, und mit der er konsequent und recht korrekt Englisch sprach, und Joseline Jobert, die Beschäftigungstherapeutin, für die er mit klaren, sparsamen Pinselstrichen seine Aquarelle malte.

Es war ein trostloser Januar, kaum ein Tag, an dem man bis zum See hinunter sah, kaum einer ohne den eintönigen, eiskalten Regen.

Simone befand sich in ihrer siebten Ehekrise. Urs hatte beim Skifahren Theresia Palmers, ein Flittchen aus Wien, kennengelernt, das sich Erwin Gubler, einer der bedeutenden Immobilienhändler des Landes, für die Festtage hatte einfliegen lassen. Jetzt hatte Urs sie in der Turmsuite des Des Alpes untergebracht, nach Familientradition. Simone war dahintergekommen, weil unter den Telefonnotizen eine lag, die lautete: »Frau Theresia Palmers bittet Herrn U. Koch um Rückruf. Grand Hotel des Alpes, Turmsuite.« Und darunter eine Telefonnummer.

Aber nicht die Affäre selbst machte Simone zu schaffen. Es war mehr das Timing. Sie war nämlich schwanger. Urs wußte es zwar noch nicht. An dem Tag, an dem sie ihn mit der Neuigkeit überraschen wollte, fand sie die Telefonnotiz. Aber sie bezweifelte, ob er sich dann anders verhalten hätte.

Der melancholische Januar und die Hoffnungslosigkeit, die sich im Gästehaus langsam breitmachte, taten ihr übriges. Zum ersten Mal, seit sie Konrad Lang unter ihre Fittiche genommen hatte, beschlich sie wieder die bleierne Schwere ihrer Depressionen.

Sie zwang sich zwar, Konrad weiterhin zu den gewohnten Zeiten zu besuchen, aber es waren nur noch bedrückende Momente, die sie da stumm miteinander verbrachten.

Immer öfter passierte es, daß Simone früher ging als üblich, und immer häufiger geschah es, daß sie sich nach einem solchen Besuch in ihr Laura-Ashley-Zimmer flüchtete und heulte. Jeden Tag etwas mehr über sich und etwas weniger über Konrad Lang.

Es sah aus, als wäre Simone Koch die zweite Frau, die, unbemerkt von Konrad Lang, aus seinem Leben verschwand.

Elvira Senn wartete noch ein paar Tage ab. Als die Nachrichten aus dem Gästehaus keine Besserung von Konrad Langs Zustand verhießen, gab sie Dr. Stäublis Drängen nach und reiste nach Gstaad, wo sie ihre traditionellen Winterferien im Koch-Chalet verbringen wollte.

»Die Distanz wird Ihnen guttun«, sagte er und versprach ihr, die Stellung zu halten. »Wenn etwas ist, rufe ich Sie an.«

»Auch mitten in der Nacht.«

»Auch mitten in der Nacht«, log er.

Elvira in Gstaad, Thomas in der Karibik, Urs von seiner Affäre in Anspruch genommen – das gesellschaftliche Leben in der »Villa Rhododendron« war zum Erliegen gekommen, und Simone in ihrem Zustand war nicht die Frau, die etwas dagegen unternahm. Sie war froh, keine Verpflichtungen zu haben, blieb bis tief in den Nachmittag im Bett oder in ihrem Zimmer und zog sich nur noch für ihre Pflichtvisiten bei Konrad Lang an.

An einem nebligen Samstag – ein kalter Dauerregen trommelte an die Fensterscheiben, die Buchengruppe neben dem Pavillon war kaum zu erahnen, Urs war übers Wochenende angeblich geschäftlich in Paris, und Simones Glieder waren so schwer wie die nassen Äste der alten Tanne neben ihrem Fenster – ging sie nicht zu Konrad.

Auch am nächsten Tag verließ sie ihr Zimmer nicht. Und am Tag danach war es ihr bis weit in den Nachmittag hinein gelungen, nicht an ihn zu denken, als es klopfte.

Es war Schwester Ranjah, die gehört hatte, es gehe ihr schlecht, und fragen wollte, ob sie etwas brauche. Sie hatte ein Aquarell von Konrad mitgebracht.

Es sah aus wie ein bunter Garten, an dessen Rand ein kurzer Baumstrunk stand. Daneben hatte Konrad das Wort »Baum« gemalt.

Es war nicht so sehr das Bild, das sie berührte, sondern das, was er mit unbeholfenen Buchstaben an den unteren Bildrand geschrieben hatte: »Konrad Lang. Eigentlich wollte ich noch darüber schreiben.«

Was wollte er schreiben? Und worüber? Über den seltsamen Garten aus roten, grünen, gelben und blauen Schlangenlinien, Kreisen, Tupfen und Bändern, die vielleicht Hecken, Wege, Teiche, Büsche, Blumen und Beete waren? Oder über das große Wort »Baum« neben dem kleinen, bedauernswerten Strunk?

Wollte er darüber schreiben, daß auch ein Strunk noch ein Baum ist?

»Eigentlich wollte ich noch darüber schreiben.« Und was hielt ihn davon ab? Daß er schon wieder vergessen hatte, was? Oder daß er niemanden hatte, der verstehen würde, was er meinte?

Das Aquarell bewies ihr, wieviel in diesem Hirn noch vor sich ging, von dem die Ärzte sagten, es werde bald nicht mehr in der Lage sein, auch nur die einfachsten Körperfunktionen zu steuern.

Simone Koch verschwand nicht aus Konrads Leben. Im Gegenteil: Sie beschloß, alles zu tun, damit er nicht aus ihrem verschwand.

Dr. Wirth war etwas überrascht gewesen, als man ihm bei seiner Visite ausgerichtet hatte, er solle sich doch bitte anschließend kurz bei Frau Simone Koch melden.

Jetzt saß er in diesem eigenartigen Jungmädchenzimmer, das so gar nicht in dieses Haus paßte, und versuchte ihr klarzumachen, daß es für Alzheimer derzeit keine Heilung gab.

»Es gibt nach dem heutigen Stand nun einmal nur das, was wir bereits tun: Ginkgo, Vitamine, Physiotherapie, Beschäftigungstherapie, Gedächtnistraining. Wir hatten ja auch ganz schöne Resultate. Was wir jetzt sehen, ist ein neues Stadium. Es ist unaufhaltsam, Frau Koch. Noch.«

»Noch? Bestehen denn Aussichten, die Krankheit aufzuhalten?«

»Es gibt Leute, die sagen, schon in absehbarer Zeit.«

»Was für Leute?«

»Alzheimer ist ein gewaltiges Problem, also ist mit dessen Lösung gewaltig viel Geld zu machen. Es gibt wohl kaum ein pharmazeutisches Unternehmen, das nicht daran forscht.«

»Und es gibt greifbare Resultate, sagen Sie?«

»Jeden Monat neue, zum Teil sehr vielversprechende.«

»Warum probieren Sie dann nicht etwas? Was hat Herr Lang zu verlieren?«

»Er nicht viel, aber ich. Die Medikamente sind noch nicht zugelassen.«

»Aber macht man nicht manchmal Tests mit Freiwilligen?«

»In diesem Stadium der Krankheit besitzt man keinen freien Willen mehr.«

»Dann kann man ja nie Versuche mit Alzheimerpatienten machen.«

»Doch. Wenn der Patient in einem frühen Stadium dazu die Einwilligung gibt. Prophylaktisch, sozusagen.«

»Wem gibt er die?«

»Normalerweise dem behandelnden Arzt.«

»Hat er sie Ihnen gegeben?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es stand nicht zur Diskussion.«

»Das heißt, Sie haben es ihm nicht vorgeschlagen?«

»Es gehört nicht zur Routine.« Dr. Wirth begann sich etwas unbehaglich zu fühlen. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Ich werde in der Klinik erwartet.«

»Kann man solche Tests auch ohne Einwilligung des Patienten machen?«

Dr. Wirth stand auf. »Sehr schwierig.«

»Aber nicht unmöglich?«

»Es gibt Möglichkeiten.«

»Dann bitte ich Sie, diese zu prüfen.«

»Das werde ich gern tun«, versprach Dr. Wirth. »Versuchen Sie es doch einmal mit Fotos aus einem anderen Zeitabschnitt. Manchmal kann man damit etwas bewegen.«

Eine Woche hörte sie nichts von Dr. Wirth, dann sah sie ihn zufällig in einem Dreisternerestaurant. Urs hatte sie dorthin geführt, um den Verdacht zu zerstreuen, den sie seinem Gefühl nach zu hegen schien.

Dr. Wirth saß ein paar Tische weiter mit einer attraktiven Mittfünfzigerin bei einem »Menu Surprise«. Man sah den beiden an, daß es sich nicht um ein Arbeitsessen handelte.

Die Frau kam ihr bekannt vor. Aber erst als die beiden Arm in Arm hinausgingen, erkannte sie sie: Rosemarie Haug, Konrad Langs Freundin, die sich nicht mehr blicken ließ.

Vielleicht tat sie Dr. Wirth damit unrecht, aber sie beschloß in diesem Moment, Konrads Neurologen zu wechseln.

Dieser Entschluß und der wunderbare Bordeaux machten sie so beschwingt, daß sie sich zur Grausamkeit hinreißen ließ, Urs zu gestehen, daß sie schwanger war.

Das setzte der Affäre Theresia Palmers, Grand Hotel des Alpes, Turmsuite, ein plötzliches Ende.

»Kennen Sie einen guten Neurologen?« fragte sie ihren Gynäkologen, Dr. Spörri, mitten in der Untersuchung.

»Sie brauchen keinen Neurologen, das ist normal, daß man etwas deprimiert ist in der ersten Zeit der Schwangerschaft.«

»Ich kümmere mich ein wenig um einen Alzheimerpatienten«, erklärte sie.

»Als Einführung in die Säuglingspflege?« Simones Gynäkologe war manchmal etwas taktlos.

Nach der Untersuchung schrieb er ihr die Adresse eines Neurologen auf und vereinbarte für sie einen Termin.

»Geben Sie sich nicht zu sehr mit dem Alzheimerpatienten ab. Das schlägt aufs Gemüt.«

Der Neurologe hieß Dr. Beat Steiner. Er hörte ihr ruhig zu. Dann sagte er: »Es gibt vielversprechende Lösungsansätze, das stimmt. Einige stehen kurz vor der Zulassung. Dr. Wirth gehört zu der Handvoll Ärzten, die eine davon klinisch testen. Wenn er das bei diesem Patienten nicht tut, muß er seine Gründe haben.«

Simone erwähnte Rosemarie Haug nicht. »Er hat seine Einwilligung damals nicht eingeholt. Und im jetzigen Stadium sei es sehr schwierig, eine Bewilligung zu erhalten.«

Etwas an Dr. Steiners Reaktion ließ sie fragen: »Sind Sie anderer Meinung?«

»Sehen Sie, Frau Koch, es ist immer etwas heikel, einem Kollegen zu widersprechen. Besonders, wenn man einen so großen Informationsrückstand hat wie ich in diesem Fall.« Er überlegte einen Moment. »Aber ich will Ihnen theoretisch antworten: Es besteht die Möglichkeit, chemische Verbindungen, die sich in den vorklinischen Tests bewährt haben und auch bei den klinischen Tests an gesunden Freiwilligen keine Nebenwirkungen gezeigt haben, an Patienten zu erproben. Dazu braucht es die Einwilligung des Patienten oder, wenn das nicht mehr möglich ist, der Angehörigen. Und das Einverständnis eines Ethik-Komitees.«

»Und wenn es keine Angehörigen gibt?«

»Dann ist der gesetzliche Vormund zuständig.«

»Und das Einverständnis des Ethik-Komitees, das bekommt man?«

»Wenn der Test sinnvoll und das Risiko kalkulierbar ist, erhält man die Erlaubnis für eine einmalige Anwendung.«

»Führen Sie auch solche Tests durch?«

Dr. Steiner schüttelte den Kopf. »Das machen Professoren und Privatdozenten mit Forschungsverträgen von Pharmaunternehmen und Spitalärzte.«

»Kennen Sie solche Leute?«

 »Dr. Wirth.«

»Außer Dr. Wirth?«

»In Ihrem Fall ist der Patient in Privatpflege. Das ist ein Problem. Es wäre einfacher, wenn er in einer Klinik wäre. Käme eine solche Lösung in Frage?«

Simone brauchte nicht zu überlegen. »Nein, das kommt nicht in Frage.«

»Dann wird es schwierig.«

»Werden Sie sich trotzdem erkundigen?«

Dr. Steiner zögerte.

»Bitte.«

»Sie hören von mir.«

Als Simone ins Wohnzimmer des Gästehauses kam, saß Konrad Lang am Tisch. Seine Hand lag auf einem großen Plastikball mit farbigen Streifen.

Sie setzte sich zu ihm. Nach einer Weile löste er den Blick vom Ball und sah sie an. »Schau nur«, sagte er und deutete auf den Ball, »wie das so nach hinten geht.«

»Du meinst, wie die Farben sich um den Ball ziehen?«

Er musterte sie wie ein Lehrer eine ganz hoffnungslose Schülerin. Dann schüttelte er den Kopf, lachte und studierte wieder den Ball.

»Ja, jetzt sehe ich es auch«, sagte Simone.

Konrad schaute erstaunt auf. »Wie sind jetzt Sie hereingekommen?«

Gleich nach diesem Besuch bei Konrad beschloß Simone, etwas Mutiges zu tun.

Sie besorgte sich den Schlüssel zum »Stöckli«, der im Küchenvorraum der Villa hing. Sie wartete, bis die Sicherheitsleute ihren Rundgang beendet und das Grundstück verlassen hatten. Dann ging sie los.

Es war ein dämmriger Tag. In den Häusern mußten die Lichter brennen, und der Nebel war so dick, daß er von den Tannen troff. Simones Regenmantel war feucht von dem kurzen Weg hinunter zum »Stöckli«. Sie betrat das Entrée, als wenn das ihr gutes Recht wäre.

Das Haus war warm und gelüftet. Auf der Kommode neben der Garderobe standen frische Blumen, wie jeden Tag. Elvira liebte die Vorstellung, daß sie jederzeit unangemeldet heimkommen könnte und alles so vorfinden würde, als wäre sie nur für ein paar Stunden ausgegangen.

Simone stand einen Moment unschlüssig in der Diele und überlegte sich, wo sie beginnen sollte. Dann wandte sie sich zum Frühstückszimmer.

Auch hier frische Blumen. Und auf dem Tisch am Fenster die unberührten Zeitungen von heute. Das einzige Möbelstück, das in Frage kam, war eine kleine Anrichte aus Chromstahl und Kirsche. Sie öffnete die Schiebetüren. Alles, was sie fand, war ein zwölfteiliges Teeservice von Meißen, etwas Frühstücksgeschirr, ein paar Gläser und einige Flaschen Likör.

Im Frühstückszimmer gab es neben der Tür zur Diele noch eine andere, die ins Ankleidezimmer führte. Simone öffnete sie und erschrak, als sich im gleichen Moment an der gegenüberliegenden Wand eine Tür öffnete und sich die Silhouette einer Frau im Türrahmen abzeichnete. Dann merkte sie, daß die Wand aus einem Spiegel bestand. Auf beiden Seiten des Raumes waren hohe Schiebetüren. Als Simone eine öffnete, ging das Licht im begehbaren Schrank an, der sich dahinter befand.

Vier solcher Schränke mit Kleidern, Wäsche, Blusen, Schuhen, Pelzen und Kostümen durchsuchte sie ohne Erfolg. Dann entdeckte sie eine Türklinke in der Spiegelwand und öffnete eine weitere Tür, die in ein elegantes Bad aus smaragdgrünem Marmor führte.

Simone öffnete ein paar Spiegelschränkchen, einige Schubladen voller Kosmetika, einen kleinen Kühlschrank mit Insulinpatronen und ging dann durch die nächste Tür.

Das Schlafzimmer von Elvira Senn.

Nichts vom kühlen Understatement, nichts von den klaren Linien und durchkomponierten Farben der anderen Räume. Hier herrschte eine hemmungslose Mischung aus Jugendstil, Barock, Biedermeier und Beverly Hills.

Neben einem Bett von erstaunlichen Ausmaßen für eine Frau ihres Alters stand ein Biedermeiersekretär mit aufwendigen Einlegearbeiten aus Ahornwurzelfurnier, ihm gegenüber eine opulente Empire-Kommode, zwischen den beiden Fenstern mit bauschigen Vorhängen aus altrosa Crêpe-Seide eine schlichte Nußbaum-Vitrine, angefüllt mit den Nippes eines achtzigjährigen Lebens. An der Wand zum Badezimmer ein Art-Déco-Schminktisch in schwarzem, rotem und goldenem Lack.

Der ganze Raum roch nach Puder und schweren Parfums und war schon halb versunken in der frühen Dämmerung des schummrigen Tages.

Simone zog die Vorhänge zu, machte Licht und nahm sich als erstes den Biedermeiersekretär vor.

Zum Konzept des privaten Sicherheitsdienstes gehörten Zusatzpatrouillen, deren Häufigkeit und Zeitpunkt von einem Zufallsgenerator in der Zentrale festgelegt wurden. An diesem Tag traf es die Patrouille auf dem Weg in den Feierabend. »Zusatzpatrouille ›Rhododendron‹«, meldete der Funk, als sie in die Tiefgarage der Zentrale einbogen.

»Scheißzufallsgenerator«, fluchte Armin Frei, der den Wagen fuhr.

»Wir könnten schon ausgestiegen sein«, schlug Karl Welti vor. Er war mit der hübschen Gehilfin seines Zahnarztes verabredet, in dessen Patientenkartei er immer noch als Student figurierte.

»Wir sind aber noch nicht ausgestiegen«, antwortete Armin Frei, der keine Verabredung hatte außer der am Stammtisch, wo er später fragen konnte: »Wißt ihr, was mir dieser Scheißzufallsgenerator heute wieder geboten hat?«

Er wendete das Fahrzeug und fuhr zurück zur »Villa Rhododendron«.

»Kannst du wenigstens kurz bei einer Telefonkabine anhalten, du Spießer?«

»Es ist nicht jeder ein Spießer, nur weil er seinen Arbeitgeber nicht bescheißt.«

»Hier kommt eine Telefonkabine, Spießer.«

Als sie wieder bei der Villa ankamen, war es dunkel geworden. Sie schlossen das Tor auf und meldeten an der Gegensprechanlage: »Sicherheitsdienst, Zusatzpatrouille.« Dann folgten sie mißmutig den Kegeln ihrer Stablampen durch den triefenden Park.

Als sie zum »Stöckli« kamen, sahen sie einen Streifen Licht, der aus dem Schlafzimmer drang und die nassen Blätter eines Rhododendrons aufglitzern ließ.

»Das ist doch als vorübergehend unbewohnt gemeldet«, sagte Armin Frei.

»Auch das noch«, stöhnte Karl Welti.

Simone war entmutigt. Auch im Schlafzimmer nichts. Sie vergewisserte sich, daß sie nichts verändert hatte, und löschte das Licht. Sie stand im Dunkeln und hatte noch das Bild des Sekretärs vor Augen. Etwas stimmte nicht damit. Sie machte erneut Licht und merkte, was falsch war: Die Schreibklappe war hochgeklappt gewesen, als sie ins Zimmer gekommen war. Jetzt war sie unten. Sie klappte sie hoch und drehte den Schlüssel. Aber der Riegel ging nicht zu. Sie probierte es ein paarmal. Als es immer noch nicht ging, versuchte sie es in die falsche Richtung. Der Schlüssel ließ sich drehen, und die Klappe war geschlossen.

Wieder löschte sie das Licht, und wieder hatte sie das Bild des Sekretärs vor sich, an dem etwas nicht stimmte. Als sie noch einmal Licht machte, sah sie, daß die Seitenwand der oberen Hälfte des Möbels abstand. Sie ging näher und stellte fest, daß sich die Wand wie eine Tür öffnen ließ. Sie mußte durch die falsche Drehung am Schloß aufgesprungen sein.

Die Tür verbarg einen Hohlraum zwischen der falschen und der echten Rückwand des Möbels. Neun Fotoalben in verschiedenen Einbänden waren darin versteckt.

Simone nahm sie heraus, ließ die Geheimtür in ihr Schloß schnappen und löschte das Licht.

Als sie die Tür in den Korridor öffnete, blendeten sie zwei starke Stablampen.

»Sicherheitsdienst, keine Bewegung«, befahl eine aufgeregte Stimme.

Die beiden Sicherheitsmänner kannten Simone und entschuldigten sich.

Simone wehrte die Entschuldigung ab. »Ein gutes Gefühl, wenn man weiß, daß Sie so wachsam sind. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

Armin Frei war nicht abgeneigt. Aber Karl Welti sagte knapp: »Danke, nicht im Dienst.« Wenn sie sich beeilten, reichte es noch für die Zahnarztgehilfin.

Armin Frei rächte sich, indem er begann, umständlich den Rapportblock aus der Brusttasche zu klauben. »Dann brauchen wir nur noch Ihre Unterschrift.«

»Komm, das ist doch nicht nötig bei der Besitzerin.«

»Das Haus war als vorübergehend unbewohnt gemeldet.« Armin Frei begann, pedantisch die Daten einzutragen: Ort: Schlafzimmer »Stöckli«, Zeit: 18 Uhr 35.

»Es wäre mir auch lieber, wenn Sie keinen Rapport schreiben würden. Es handelt sich um eine Überraschung zum achtzigsten Geburtstag von Frau Senn.« Sie zeigte auf die Fotoalben.

Armin Frei begriff. »Ach so. Das haben wir beim Sechzigsten meines Vaters auch gemacht. Mit alten Fotos.«

»Eben«, sagte Simone.

»Eben«, drängte Karl Welti.

Die neun Alben stammten aus verschiedenen Epochen. Die meisten aus den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren, mit dem massigen, etwas hemdsärmeligen Edgar Senn und einer Elvira, die neben ihm zart, elegant und distanziert wirkte wie die Demoiselle neben König Babar. Auf den wenigsten war Thomas Koch zu sehen und auf gar keinem Konrad Lang.

Eines stammte aus den ersten Nachkriegsjahren. Auf den meisten Fotos war Thomas abgebildet: Thomas in Schuluniform, Thomas im Tennisdreß, Thomas im Skianzug, Thomas zu Pferd, Thomas als Konfirmand. Auf einigen dieser Bilder war zudem der gleiche etwas ungelenke Knabe abgebildet, bei dem es sich wohl um Konrad handelte.

Das zweitälteste Album mußte aus der Zeit vor dem Krieg stammen. Es war voller Aufnahmen von berühmten Plätzen aus aller Welt, auf fast allen war die junge Elvira zu erkennen mit manchmal einem, manchmal zwei kleinen Knaben.

Das älteste Album stammte aus den Dreißigerjahren. Fast alle Fotos waren in der »Villa Rhododendron« oder in ihrem Park aufgenommen. Sie zeigten die kindliche Elvira und den ältlichen Wilhelm Koch.

Und leere Stellen, an denen die weißen Überreste rausgerissener Fotos klebten.

Am nächsten Tag ließ sich Simone von den drei Alben, in denen Konrad vorkam, Laserkopien machen. Und – sie wußte nicht, warum – von dem mit den herausgerissenen Bildern auch. Danach ging sie noch einmal ins »Stöckli« und legte alle neun Alben in ihr Versteck zurück.

Als sie gegen Mittag Konrad besuchte, empfing sie eine gereizte Schwester Irma Catiric. »Ißt nicht«, stieß sie vorwurfsvoll hervor, als wäre Simone dafür verantwortlich.

Sie traf Konrad am Tisch vor einem unberührten Teller Gemüsecannelloni, einem Glas frischem Saft aus Karotten, Sellerie und Äpfeln und einer Schale Salat.

Schwester Irma bückte sich nach der Serviette, die am Boden lag, und band sie ihm energisch um. »So, jetzt zeigen wir Ihrem Besuch, wie schön wir essen können.« In der Hektik konnten Schwester Irma solche Ausrutscher in den Krankenschwesterjargon schon einmal passieren.

Konrad riß sich die Serviette vom Hals und warf sie auf den Boden. »Jetzt knallt’s dann«, knurrte er.

Schwester Irma schickte einen Blick gegen den Himmel und ging hinaus.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Simone. Konrad schaute sie erstaunt an.

»Ich habe hier ein paar Fotos mitgebracht und weiß nicht, was drauf ist.«

Sie half ihm aufstehen (seit der Lungenentzündung war er an manchen Tagen etwas unsicher auf den Beinen), und sie setzten sich nebeneinander auf das Sofa. Simone hatte das Album mit den Fotos mitgebracht, auf denen manchmal der linkische Knabe abgebildet war, von dem sie annahm, daß es Konrad war.

»Das hier, zum Beispiel. Kannst du mir sagen, wer die Leute sind?« Das Foto war auf einem Raddampfer aufgenommen. Es zeigte ein paar gleichaltrige Knaben mit Rucksäcken und einen Mann mit Rucksack und weißer Schirmmütze.

Konrad brauchte nicht zu überlegen. »Das ist doch Baumgartner, unser Klassenlehrer. Während der Schulreise aufs Rütli. Das ist Heinz Albrecht, das Joseph Bindschedler, das Manuel Eichholzer, das Niklaus Fritschi, das da Richard Marthaler, Marteli nennen wir ihn, und der Dicke ist Marcel von Gunten. Tomi ist der ohne Rucksack.«

»Warum hat Tomi keinen Rucksack?«

»Wir haben einen zusammen.«

»Und? Wie war die Schulreise?«

»Als Furrer dieses Foto machte, hat es gerade einmal nicht geregnet.«

»Wer ist Furrer?«

»Der Geographielehrer. Das hier ist Tomi auf der ›Lanigiro-Skipiste‹ in St. Moritz. ›Lanigiro‹ heißt ›Original‹, rückwärts geschrieben, ein berühmtes Orchester, das oft in St. Moritz gespielt hat. Ich habe das Foto gemacht.«

Konrad blätterte angeregt im Album. Alle Fotos, auf denen er abgebildet war, konnte er detailliert kommentieren. Wenn ihm ein Name von jemandem nicht gleich einfiel, konnte er sich ärgern wie jemand, dem das sonst nie passiert. »Ganz vorn auf der Zunge«, habe er ihn, sagte er immer wieder.

Auch einige der Fotos, auf denen er nicht abgebildet war, konnte er erläutern. »Das hier ist Tomi auf ›Relampago‹, das heißt ›Blitz‹ auf spanisch. Da war ich noch auf dem Zellweger-Hof. Der Hengst war schon verkauft, als ich in die ›Rhododendron‹ zurückkam.«

Ein Foto mit Thomas und zwei jungen Männern in Kricketpullovern und mit Tennisschlägern erklärte er so: »Das ist Thomas mit unseren ›room mates‹ im ›St. Pierre‹, Jean Luc de Rivière und Peter Court. Ich habe ›retenu‹, weil sie mich im Dorf erwischt haben.«

»Was ist ›retenu‹?« fragte Simone.

»Arrest.«

Schwester Irma, die ins Zimmer zurückgekommen war, schimpfte: »Sie haben jetzt dann auch ›retenu‹, wenn Sie nicht essen.«

Gehorsam stand Koni auf, setzte sich an den Tisch und fing an zu essen.

Koni war im Dorf gewesen und hatte in der Auberge du Lac vier Flaschen Wein gekauft. Es hatte zum Abendessen Rindsbraten gegeben, und de Rivière hatte gesagt: »Ein Gläschen Roten dazu wäre nicht zu verachten«, und damit einen übertriebenen Lacherfolg verbucht.

Nach dem Essen ging Konrad zur Gärtnerei, lehnte eine Baumleiter an die Mauer, kletterte hoch und versuchte vergeblich, die Leiter heraufzuziehen und auf der anderen Seite wieder hinunterzulassen. Einen Moment lang wollte er aufgeben, aber die Verlockung, mit ein paar Flaschen Rotwein im Zimmer aufzutauchen und gefeiert zu werden, war stärker. Er sprang hinunter und beschloß, sich die Frage, wie er wieder hineinkam, erst später zu stellen.

Die Beschaffung von vier Flaschen Hauswein in der Auberge du Lac verlief reibungslos. Aber der Wiedereinstieg ins »St. Pierre« erwies sich als Problem. Er ging vor der Mauer auf und ab und mußte zusehen, wie in den Schlafzimmern die ersten Lichter ausgingen. Er hatte die Wahl, bei der Zimmerkontrolle zu fehlen oder zu versuchen, den Pförtner zu überreden, ihn einzulassen und keine Meldung zu machen. Schließlich klingelte er beim Pförtner. Der kam nach einer Weile angeschlurft, öffnete das Fensterchen im großen Tor, erkannte Konrad und ließ ihn herein. Kaum war er drinnen, hielt ihm Konrad zwei Flaschen Roten hin. Der Pförtner setzte die Brille auf und las skeptisch die Etikette. Konrad zog die dritte Flasche aus der Manteltasche, und als er sah, wie der Alte den Kopf zu schütteln begann, auch noch die vierte.

Dann gingen sie gemeinsam zum Pförtnerhäuschen, und der Mann informierte den diensthabenden ›surveillant‹.

Vier Wochen ›retenu‹ hatte er bekommen. Zimmerarrest außerhalb der Unterrichtsstunden, Mahlzeiten im Zimmer, als einzige Sportart fünfzehn Runden Laufschritt um den Sportplatz. Und die Schmach, daß er so wenig von Wein verstand und geglaubt hatte, er könne den alten Fournier mit vier Flaschen Hauswein aus dem Du Lac bestechen.

Jetzt saß er in seinem Zimmer und mußte warten, bis Tomi, Jean Luc de Rivière und Peter Court heraufkamen. Sie würden mitten in einem Gespräch sein, das sie im Freizeitraum begonnen hatten, und sich nicht die Mühe geben, ihn darüber aufzuklären, worum es sich drehte. Sie würden Anspielungen machen auf Vorkommnisse, bei denen er nicht dabeigewesen war, und über Witze lachen, die ohne ihn gerissen worden waren.

Als sie hereinkamen, hatten sie ein Mädchen dabei.

»He, wie habt ihr denn die reingeschmuggelt«, sagte er lachend und stand auf.

Sie sagte: »Konrad, darf ich dir Dr. Kundert und Dr. O’Neill vorstellen.«

Koni zwinkerte den beiden zu und gab ihnen die Hand. »Sehr erfreut, Herr Doktor. Sehr erfreut, Herr Doktor.« Dann wartete er schmunzelnd, wie das Spiel weitergehen würde.

»Die beiden Herren würden dich gern untersuchen, wenn du nichts dagegen hast.«

Also eine Art Doktorspiel. »Aber ganz im Gegenteil, Mademoiselle.« Wieder zwinkerte er den andern zu.

Jetzt ging das Mädchen zur Tür und öffnete sie. »Ich bin drüben in der Villa, wenn Sie mich brauchen.«

»Halt, halt, nicht so eilig. Sie machen doch auch mit?«

»Vielleicht ein andermal«, antwortete sie und schloß die Tür.

»Warum laßt ihr sie gehen?« fragte er de Rivière und Court. Aber die waren jetzt schon wieder bei ihren Spielchen. Sie sprachen über Dinge, die für ihn keinen Sinn ergaben, sie bezogen sich auf Ereignisse, die ohne ihn stattgefunden hatten, und redeten von Leuten, von denen er noch nie im Leben gehört hatte.

»Wo ist eigentlich Tomi?« fragte er. Die beiden taten, als wüßten sie nicht, wovon er sprach.

Da ging ihm ein Licht auf. »Ich bin drüben in der Villa«, hatte das Mädchen gesagt. Dreimal darfst du raten, mit wem.

Dr. Peter Kundert war ein achtunddreißigjähriger Neuropsychologe. Er hatte Medizin und Psychologie studiert und sich als MD/PhD auf Neuropsychologie spezialisiert. Im Team von Professor Klein im Magdalenaspital war er an einem klinischen Test beteiligt, den er persönlich als Zeitverschwendung betrachtete.

Dr. Ian O’Neill war ein Biochemiker etwa gleichen Alters. Er kam aus Dublin und war als Mitglied eines Forschungsteams in einem Pharmaunternehmen in Basel am gleichen Projekt beteiligt. Er teilte Kunderts Meinung darüber.

Sie hatten sich bei der Arbeit kennengelernt und angefreundet. Bei einem Glas hatten sie sich ihre Zweifel gestanden. O’Neill erzählte Kundert zu später Stunde von einer anderen Verbindung, POM 55, der er unvergleichlich größere Chancen gab. Nicht nur deshalb, weil er viel maßgeblicher daran beteiligt war.

Kundert machte am nächsten Tag den Fehler, seinem Chef davon zu erzählen. Dieser faßte das als Kritik an seinem eigenen Projekt auf. Damit war es mit der Möglichkeit, daß O’Neills Projekt am Magdalenaspital eine Chance erhielt, natürlich vorbei.

Inzwischen waren die vorklinischen Tests von POM 55 abgeschlossen und so befriedigend verlaufen, daß die Zeit für die klinischen gekommen war, welche O’Neill koordinieren sollte. Das würde das Ende der Zusammenarbeit von Kundert und O’Neill bedeuten. Deswegen waren beide sofort interessiert, als sie von Dr. Steiner gehört hatten, es gebe einen Alzheimerpatienten in exklusiver Privatpflege, für den großes Interesse an einem experimentellen Medikament im Rahmen eines klinischen Tests bestehe. Das könnte eine Chance sein, Kundert außerhalb seiner Tätigkeit im Magdalenaspital trotzdem am Projekt zu beteiligen. Wenn auch vielleicht nicht ganz so offiziell.

Kundert und O’Neill waren beide etwas euphorisch über den Zustand des Patienten. Der Verlust oder eine große Beeinträchtigung des Sprachvermögens wäre ein Zeichen dafür gewesen, daß die Krankheit zu weit fortgeschritten, die Schäden irreversibel waren. Keine Ethik-Kommission hätte ihnen in diesem Fall die Einwilligung zum Test gegeben.

Sie saßen in Simones Zimmer wie zwei kleine Buben, die gleich ein neues Spielzeug bekommen sollten, wenn sie es nur richtig anstellten.

Kundert war großgewachsen und leicht gebeugt, wie wenn er sich kleiner machen wollte. Sein Gesicht schien immer zu lächeln, und er trug eine Brille, die er zum Sprechen abnahm und in der Hand hielt. Sein Haar war schwarz und dicht und schon von weißen Strähnen durchsetzt. Es ringelte sich im Nacken zu festen kleinen Löckchen.

O’Neill war klein und kompakt, sein braunes Haar war stumpf von all dem Lack, den er brauchte, um es daran zu hindern, wie ein Trockengesteck in alle Himmelsrichtungen abzustehen. Er hatte ein Gesicht wie ein Straßenköter, der keiner Rauferei aus dem Wege geht.

Es war Kundert, der sprach.

»Herr Lang ist zwar verwirrt und desorientiert, aber überraschend präsent, auch wenn sich nicht klar erschließt, an welchem Ort und in welcher Zeit. Er hat uns de Rivière und Court genannt.«

»Seine Zimmergenossen im ›St. Pierre‹, in den Vierzigerjahren«, erklärte Simone.

»Er spricht überraschend flüssig und verfügt über einen erstaunlichen Wortschatz. Sogar Französisch und Englisch hat er gesprochen. Das heißt, das, was wir Aphasie nennen, die Störung des Sprachvermögens, ist noch nicht eingetroffen oder noch nicht sehr weit fortgeschritten.«

»Das war nicht immer so, es gab Phasen, da sprach er kein Wort. Erst seit ich Fotos aus seiner Jugend gefunden habe, ist er wieder so interessiert und eloquent.«

»Es ist wichtig, daß Sie solche Fotos weiterhin mit ihm anschauen während einer eventuellen Behandlung.«

»Glauben Sie, daß eine Chance besteht, ihn zu heilen?« fragte Simone.

Die beiden sahen sich an. Dr. O’Neill übernahm. Er sprach ein druckreifes Hochdeutsch, aber mit englischem Akzent und dem seltsamen Tonfall der Iren, der jeden Satz in einer Frage enden läßt.

»Es gibt drei wichtige Charakteristiken im Gehirn eines Alzheimerpatienten: erstens die Plaques, die sich zwischen den Hirnzellen ablagern und die hauptsächlich aus giftigem fibrillärem Amyloid bestehen; zweitens die entzündlichen Nervenzellen in deren Umgebung; drittens die Neurofibrillen, die Zellenskelette, die überphosphorisiert sind und dadurch aufhören zu funktionieren. In welchem Zusammenhang diese drei Faktoren zueinander stehen, wissen wir nicht.«

Simone mußte O’Neill etwas hilflos angeschaut haben. Er fühlte sich veranlaßt hinzuzufügen: »Drei wichtige krankhafte Veränderungen, und wir wissen nicht, ob die eine die andere bedingt und, wenn ja, welche welche. Das heißt, wir können versuchen, das Amyloid ungiftig zu machen oder die Entzündung der Zellen zu stoppen oder die Überphosphorisierung der Neurofibrillen.«

»Sag ihr doch, wovon wir ausgehen«, drängte Kundert.

»Unsere Hypothese ist: Das giftige Amyloid ist schuld an der Entzündung der umliegenden Nerven und an der Hyperphosphorisierung.« O’Neill wartete auf den Effekt, den seine These auf Simone haben würde. Aber sie nickte nur und wartete, daß er weitersprach.

»Wir wissen, daß das Amyloid giftig wird, wenn es fibrillär wird. Also müssen wir das verhindern.«

»Und das können Sie?«

Dr. Kundert und Dr. O’Neill wechselten einen Blick. O’Neill antwortete: »Ich behaupte: Ja, wir können es.«

Dr. Kundert fügte enthusiastisch hinzu: »Die bisherigen Ergebnisse sind beeindruckend. Es funktioniert in der Zellkultur, es funktioniert bei Ratten, und die vorklinischen Tests bei gesunden Freiwilligen haben keine Nebenwirkungen gezeigt.«

»Aber bei einem Alzheimerpatienten haben Sie es noch nie ausprobiert?«

»Herr Lang würde zu den ersten gehören.«

»Was riskiert er?«

»Daß die Krankheit fortschreitet.«

»Das riskiert er auch so«, antwortete Simone.

Ein Nachmittag im Oktober. Koni stand vor dem Treibhaus neben dem Komposthaufen. Es roch modrig nach den feuchten, bemoosten Backsteinen, die das Fundament und den Boden des Gebäudes bildeten. Von hier aus konnte er den mit rutschigem Laub bedeckten Weg zum Gärtnerhaus und zum Hauptgebäude überblicken.

Die Abmachung war, daß er zweimal gegen die Glasscheibe hinter sich klopfte, wenn Gefahr drohte. Und daß er mit dem Rücken zum Treibhaus stehen mußte und den Kopf nie und unter keinen Umständen drehen durfte.

An diesen Teil der Abmachung hielt sich Koni nur bedingt. Er verbarg in der rechten Hand einen kleinen runden Taschenspiegel, mit dem er unter der linken Achsel hindurch ins Treibhaus spähte.

Viel war nicht zu sehen. Im Treibhaus war es duster, und die Blumentöpfe und die Fächer der schon eingewinterten Kübelpalmen versperrten die Sicht. Aber aus einem bestimmten Winkel konnte er manchmal im Grünschwarz des Gewächshauses undeutlich das weiße Fleisch von Geneviève, der fügsamen Tochter des Hausgärtners, schimmern sehen, vielleicht eine Brust, vielleicht eine Hinterbacke.

Es hieß von Geneviève, sie ließe alles mit sich machen. Diese Vorstellung allein verwandelte die Rendezvous mit ihr in hektische, kurze Begegnungen, bei denen sich die unerfahrenen Liebhaber hoffnungslos verzettelten.

Koni gehörte nicht zu den Liebhabern, seine Rolle war die Absicherung der Treffs. Es war allen als die natürliche Aufgabenteilung erschienen, anfangs auch Koni.

Aber in letzter Zeit, seit er auf den Trick mit dem Taschenspiegel gekommen war, hatte er sich nach und nach in die andere Rolle versetzt und stellte sich vor, er sei es, der dieses rosa Höschen herunterzerrte – oder war es ein Büstenhalter? – und diesen Hintern – oder war es ein Busen? – freilegte.

Koni stand vor dem Treibhaus neben dem Komposthaufen. Im Spiegelchen rang Tomi mit den widerstandslosen Gliedmaßen von Geneviève. Koni versuchte in dem ständig wechselnden Bild etwas Genaues auszumachen.

Plötzlich roch es nach kaltem Stumpen. Er blickte auf und sah in das mißtrauische Gesicht des Hauptgärtners. Koni verlor die Nerven und klopfte zweimal an die Scheibe.

Jetzt saß er in seinem Zimmer in seinem Sessel und wartete auf die Folgen.

Plötzlich ging die Tür auf, und Geneviève kam mit einem Staubsauger herein. Sie lächelte ihn an, steckte den Stecker ein und fing an zu saugen. Er schaute ihr zu, wie sie die Kehrdüse zwischen den Tisch- und Stuhlbeinen durchmanövrierte und dabei langsam näher kam. Sie schob das Klubtischchen, das zwischen seinem Sessel und dem Sofa stand, beiseite und saugte den Teppich vor seinen Füßen.

Jetzt schob sie die Düse unter das Sofa. Als das Rohr an dessen unteren Rand anstieß, bückte sie sich. Ihr Hintern war jetzt genau auf Konrads Augenhöhe. Sie trug eine lindengrüne Arbeitsschürze, die ihr bis knapp über die Kniekehle reichte.

Konrad wußte, daß Geneviève nichts dagegen haben würde, wenn er den Saum der Schürze mit beiden Händen packen und hochheben würde.

Er tat es. Für einen Sekundenbruchteil schaute er in ein enttäuschendes Geknäuel von in milchige Strumpfhosen gestopften Wäscheteilen, dann hörte er einen Schrei, dann brannte ihm eine Ohrfeige auf der Backe.

Sofort kamen ihm die Tränen.

»’tschuldigung, ’tschuldigung, aber nicht machen Rock hoch, Herr Lang«, jammerte Svaja Romanescu, als Schwester Irma hereinkam, die den Vorfall am Monitor beobachtet hatte.

»Wir schlagen Patienten nicht, auch wenn sie schmutzige alte Männer werden.«

Eine der Neuerungen, die Dr. Kundert eingeführt hatte, war die Aufzeichnung der Monitorüberwachung. Es gab zwei Sätze Bänder für jeweils vierundzwanzig Stunden, die alternierend überspielt wurden, falls nichts Besonderes vorgefallen war. So hatte er die Möglichkeit, Beobachtungen, die das Pflegepersonal während seiner Abwesenheit gemacht hatte, zu studieren. Etwas, das vor allem im Hinblick auf die bevorstehende Behandlung mit POM 55 nützlich war, mit der sie alle fest rechneten. Seine Besuchszeiten waren sehr unterschiedlich, weil er unverändert im Magdalenaspital Dienst tat. Er wollte die Entscheidung des Pharmaunternehmens abwarten, ob sie dem Test unter diesen Umständen und in dieser Besetzung zustimmten. Erst dann wollte er seinen Professor informieren und die Kündigung einreichen.

Dr. Wirth war auch nicht eingeweiht, aber da seine Besuche sich nach einem genauen Stundenplan richteten, war es einfach, eine Begegnung der beiden Neurologen zu vermeiden.

Auch Dr. Stäubli ging Kundert auf Simones Wunsch vorläufig noch aus dem Weg. Auf die Diskretion des Hausarztes seiner alten Patientin Elvira gegenüber wollte sie sich nicht verlassen. Aus diesem Grund achtete sie auch darauf, daß er nichts von ihren Fotositzungen mit Konrad erfuhr.

Simone und Dr. Kundert schauten sich mit Schwester Ranjah die Aufzeichnung der Szene am Monitor an. Konrad Lang, wie er bewegungslos im Sessel saß, den Kopf hob und lächelte. Svaja Romanescu, wie sie mit dem Staubsauger am linken Bildrand sichtbar wurde. Wie sie das Klubtischchen wegschob, wie sie unter dem Sofa saugte, wie sie sich bückte und wie ihr Koni mit großer Selbstverständlichkeit den Rock hochhob und dafür eine Ohrfeige fing.

»Es entspricht einfach nicht seinem Charakter«, wunderte sich Simone.

»Daß sich der Charakter eines Patienten ändert, ist nicht ungewöhnlich bei Alzheimer.«

»Es sind die Fotos«, ließ sich Schwester Ranjah vernehmen. »Die Fotos, die Sie mit ihm anschauen, da war er in einem Alter, wo Buben so sind.«

»Wäre das eine Erklärung?« fragte Simone.

»Die Patienten leben oft sehr intensiv in der Vergangenheit. Wenn Konrad Lang in dem Zeitabschnitt lebt, in dem er sich in der Pubertät befand, ist die Theorie nicht abwegig. Darf ich die Fotos einmal sehen?« bat Dr. Kundert.

Schwester Ranjah schaute Simone fragend an. Als diese nickte, ging sie aus dem Zimmer und kam mit dem Stapel Kopien aus dem Album zurück, das aus der Zeit des »St. Pierre« stammte. Die anderen bewahrte Simone in ihrem Zimmer auf.

Kundert schaute sich die Bilder an. »Nicht die schlechteste Zeit im Leben eines Mannes«, bemerkte er schließlich. »Wenn alles gutgeht, haben wir Erfolg, bevor er auch daran die Erinnerung verliert.«

Simone war sich nicht so sicher, ob das gelingen würde. Schon in den nächsten Tagen glaubte sie Anzeichen dafür zu entdecken, daß Konrads Interesse an diesen Bildern nachließ. Auch die Namen seiner Mitschüler und die Umstände, unter denen die Fotos gemacht worden waren, waren ihm nicht mehr so geläufig. Viele von Konrads Reaktionen, die Art, wie er mitten in einem seiner Lieblingsthemen den Faden verlor oder wie er abschweifte, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Bild lenken wollte, kamen ihr bekannt vor. Genauso war es gewesen, als er begonnen hatte, das Interesse an Thomas’ Fotos aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren zu verlieren.

Wie wenn sie nicht schon genug Probleme mit anderen Leuten hätte, stellten sich jetzt auch noch bei ihr welche ein: Die ersten drei Monate ihrer Schwangerschaft waren ohne die Nebenerscheinungen abgelaufen, über die andere Frauen häufig klagten: Übelkeit und Erbrechen am Morgen, plötzliche Schwindelanfälle den Tag über. Aber jetzt, im vierten Monat, wo diese Symptome normalerweise verschwanden, fingen sie bei Simone erst an.

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, hatte ihr Frauenarzt gesagt.

»Sagen Sie das meinem Mann«, hatte sie geantwortet.

Urs Koch hatte sie anfänglich durch seine übertriebene Fürsorge gerührt, aber jetzt ging er ihr damit auf die Nerven. Jedesmal, wenn sie nachts aufstand, fragte er: »Bist du okay, Schatz?«, und wenn sie länger auf der Toilette war, klopfte er an die Tür und raunte: »Brauchst du etwas, Schatz?« »Schatz« hatte er sie bisher nie genannt.

Das Erbrechen am Morgen konnte sie schlecht vor ihm verheimlichen, und es dauerte nicht lange, bis er es als Druckmittel gegen Konrad Lang benutzte.

»Ich bewundere ja dein Engagement, aber jetzt ist die Zeit gekommen, wo du auch auf dich achten mußt. Überlaß ihn den Fachleuten!«

In diese Situation fiel auch die Rückkehr von Elvira.

Simone hatte sich während deren Abwesenheit immer wieder gefragt, ob sie im »Stöckli« wohl alles so zurückgelassen hatte, wie sie es angetroffen hatte. Ob vielleicht die Alben im Geheimfach des Sekretärs in einer bestimmten Reihenfolge gelegen oder ob die Leute vom Kopierdienst verräterische Buchzeichen oder Notizen zwischen den Seiten vergessen hatten.

Sie war nervös, als der Abend kam, an dem Urs und sie Elvira zu einem kleinen Begrüßungsessen empfingen.

Als Simone Elviras zwei abweisende Küsse entgegennahm, ließ sich diese jedenfalls nichts anmerken. Sie sah erholt aus. Ihr Gesicht war diskret und gleichmäßig gebräunt, und ihr Haar brachte das mit einer dezent helleren Tönung schmeichelhaft zur Geltung.

Sie erzählte ein wenig von gemeinsamen Bekannten, die sie oben getroffen hatte, hielt sich kurz über Thomas’ Entschluß auf, die Weihnachtskreuzfahrt mit drei Wochen Acapulco abzurunden, wie er sich am Telefon ausgedrückt hatte, und kam dann zur Sache:

»Wie geht es unserem Patienten?«

»Den Umständen entsprechend.«

»Sitzt da und starrt vor sich hin?«

»Nein, redet.«

»Worüber?«

»Von früher.«

»Was?«

»Im Moment aus seinen Tagen im ›St. Pierre‹.«

»Das muß über fünfzig Jahre her sein.«

»Er geht rückwärts. Immer tiefer in seine Erinnerungen zurück.«

»Sie macht sich kaputt mit diesem Koni. Dabei sollte sie sich schonen.« Urs lächelte Simone an: »Sollen wir es ihr sagen?«

Simone stand auf und verließ den Raum.

Urs blieb verdattert sitzen.

»Mach schon, geh ihr nach!«

»Entschuldige, es ist… Simone…«

»Ich habe schon verstanden. Ich freue mich für euch.«

Kaum war Urs draußen, stand auch Elvira auf.

Dr. Stäubli hatte spät noch einen Anruf bekommen. Kurz nach zehn Uhr kam er ans Tor der »Villa Rhododendron« und traf dort einen hochgewachsenen jüngeren Mann, der gerade auf Nummer vier der anonymen Klingelknöpfe drückte, die Nummer des Gästehauses. Die beiden Männer nickten sich zu. Aus der Gegensprechanlage kam Simones Stimme. »Dr. Kundert?«

»Ja, ich bin’s.«

Der Türöffner surrte.

»Darf ich mit hinein?« fragte Dr. Stäubli.

Kundert zögerte. »Ich weiß nicht, man nimmt es hier sehr genau mit den Sicherheitsvorschriften. Werden Sie in der Villa erwartet?«

»Nein, heute im ›Stöckli‹. Aber ich bin auch oft im Gästehaus bei unserem Patienten Konrad Lang. Ich bin Dr. Stäubli.«

Auf dem Weg fragte er Kundert: »Sind Sie ganz neu zu uns gestoßen?«

»Ja, ganz neu.«

»Psychiatrie?«

»Neuropsychologie.«

»Und Dr. Wirth?«

Sie hatten die Abzweigung zum Gästehaus erreicht. Stäubli blieb stehen und wartete auf eine Antwort.

»Hat mich sehr gefreut«, sagte Kundert etwas hastig und ließ Stäubli stehen.

Im »Stöckli« wurde er von einer unruhigen Elvira erwartet.

»Sie sehen aber nicht aus wie ein Notfall«, lächelte Stäubli.

»Die Bräune verdeckt die Blässe. Mein Zucker ist zu hoch. Und manchmal schwankt der Boden.«

»Sie sind achtzig und soeben von fünfzehnhundert Metern heruntergekommen.«

»Ich bin noch nicht achtzig.«

Er folgte ihr ins Schlafzimmer. Schon als er ihren Blutdruck maß, wollte sie wissen: »Wie geht es ihm?«

»Nicht anders als vorgestern, bei unserem letzten Telefongespräch.«

»Da hatten Sie nichts von seinen detaillierten Erinnerungen an die Zeit vor fünfzig Jahren erwähnt.«

»Das hab ich nicht getan, weil es nicht stimmt. Um Ihren Blutdruck würde Sie mancher beneiden. Ich zum Beispiel.«

»Simone sagt, er erzähle detailliert aus der Zeit vom ›St. Pierre‹.«

»Er redet zwar momentan wieder, aber wirres Zeug. Wenn sie das versteht, ist mit ihr etwas nicht in Ordnung.«

»Sie ist schwanger.«

»Dann sollte sie nicht mitten in der Nacht mit jungen Ärzten Krankenschwester spielen.«

»Tut sie das?«

»Gerade jetzt. Bin mit ihm hereingekommen. Ein Dr. Kundert, Neuropsychologe.«

»Und was ist mit Dr. Wirth?«

»Habe ich auch gefragt.«

»Und?«

Stäubli zuckte die Schultern. »Und die Zuckerwerte?«

Elvira zeigte auf den Schminktisch. Dort lagen die Tabellen für ihre Blutzucker-, Urinzucker- und Ketonkörperwerte. Stäubli studierte sie.

»Die Schwankungen sind innerhalb der Toleranzgrenzen.«

»Ich kann nur sagen, wie ich mich fühle«, gab Elvira kühl zurück. »Sie sagen immer, die selbstgemessenen Werte seien ungenau.«

Dr. Stäubli begann, in seinem Arztkoffer zu kramen.

»Was ist mit Dr. Wirth?«

»Ich werde ihn selbst fragen.«

»Halten Sie mich auf dem laufenden.« Elvira wandte das Gesicht ab, als Dr. Stäubli sie in die Fingerkuppe stach und einen Blutstropfen auf den Teststreifen strich.

Zwei Tage später stand Dr. Kundert auf der Straße.

Stäubli hatte sich bei Wirth erkundigt, was genau Kunderts Aufgabe bei Konrad Lang sei. Wirth hatte von Kundert schon gehört. Er galt als großes Talent im Team von Professor Klein, dem Chefarzt für Geriatrie im Magdalenaspital.

Dieser reagierte auf Wirths Anfrage überrascht und zitierte Kundert.

Kundert stand ihm einigermaßen tapfer und relativ ehrlich Rede und Antwort. Das Gespräch dauerte zehn Minuten. Dann hatte Kundert die fristlose Entlassung in der Tasche. Grund: grobe Verletzung des Anstellungsvertrags. Wogegen juristisch nichts einzuwenden war.

Jetzt saß er, noch gebeugter als sonst, bei Simone. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als eine Stelle zu suchen, und zwar möglichst weit weg. Der Arm des Professors ist lang.«

»Könnten Sie sich vorstellen, sich als Mitglied des Pflegeteams fest anstellen zu lassen?« erkundigte sich Simone. »Wenigstens vorübergehend. Bis Sie eine Lösung gefunden haben.«

»O’Neills Chef wird mir den Test nicht geben. Wahrscheinlich hat er genau in diesem Moment den tobenden Professor Klein am Draht und muß es ihm schwören.«

»Trotzdem.«

»Was haben Sie davon, wenn wir den Test doch nicht machen können?«

»Ich muß das Gesicht von Wirth nicht mehr sehen.«

Kundert lächelte. »Das ist allerdings ein Grund.«

Ein Spitalarzt verdient zwar kein Vermögen, aber zuviel für das Budget, über das Simone für Konrad Lang verfügte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Urs zu sprechen.

»Du bist sicher, daß es dich entlasten würde?«

»Ganz sicher. Der Mann stünde vollamtlich zur Verfügung.«

»Was meint Elvira dazu? Die Sache läuft schließlich über ihr Konto.«

»Ich wäre froh, wenn wir nicht jedes Problem meiner Schwangerschaft mit ihr besprechen müßten.«

Der überraschende Aspekt, daß es sich bei der Festanstellung eines Neuropsychologen für einen ungeliebten Hausfreund um die Lösung eines Schwangerschaftsproblems seiner Frau handelte, überzeugte Urs Koch. Dr. Peter Kundert wurde mit sofortiger Wirkung eingestellt. Aus buchhalterischen Gründen als Werksarzt der Koch-Werke, aber intern hundertprozentig freigestellt für die Betreuung des Patienten Konrad Lang.

Genau dieser buchhalterische Kunstgriff war es, der der Forschungsleitung des Pharmaunternehmens, bei dem Ian O’Neill tätig war, die Legitimation gab, Dr. Kundert, den Werksneuropsychologen eines Schweizer Mischkonzerns, in die klinischen Tests von POM 55 mit einzubeziehen.

Die Argumente des kämpferischen Dr. O’Neill und eine in den letzten Jahren immer heftiger gewordene Abneigung des Forschungsleiters gegenüber dem großspurigen, eingebildeten Professor Klein vom Magdalenaspital taten ihr übriges.