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Das Alters- und Pflegeheim »Sonnengarten« war ein sechsstöckiges Gebäude am Waldrand, nicht allzu weit von der »Villa Rhododendron« und vom Grand Hotel des Alpes, in dessen Bar Konrad Lang so manchen Negroni getrunken hatte, das ideale Nachmittagsgetränk.

Jetzt saß er im Gemeinschaftsraum des obersten Stockwerkes und begriff nicht, was er hier verloren hatte.

Das oberste Stockwerk war die geschlossene Abteilung des Heimes, in dem die sehr fortgeschrittenen Fälle untergebracht waren. Oder die, die wegliefen.

Konrad Lang war kein sehr fortgeschrittener Fall, und die Ärzte hätten ihn lieber in einer anderen Abteilung gesehen, wo die Chancen, Ansprechpartner zu finden, besser waren. Aber erstens war in der Geschlossenen ein Einzelzimmer frei geworden, zweitens war bei Konrad Lang die Weglaufgefahr erwiesenermaßen groß, und drittens war es aufgrund des rapiden Verlaufs der Krankheit bei ihm nur noch eine Frage von Monaten, bis er ohnehin in die Geschlossene überwiesen werden müßte. Doch im Moment wirkte Konrad Lang in seiner neuen Umgebung eher wie ein Besucher als wie ein Patient.

Als Rosemarie Konrad ins Heim gebracht und ihm geholfen hatte, seine Habseligkeiten in sein Zimmer mit dem Spitalbett zu bringen, hatte sie ihre Tränen nicht zurückhalten können.

Er hatte sie in die Arme genommen und getröstet. »Nicht traurig sein. Es ist ja nicht für ewig.«

Rosemarie litt unter ihrem schlechten Gewissen. Wenn sie nach einer schlaflosen Nacht, in der sie sich immer wieder vorgenommen hatte, ihn dort herauszuholen, am Morgen in den sechsten Stock kam, benahm er sich wie ein guter Freund, der vom Hotel abgeholt wurde. Sie machten lange Spaziergänge in den Herbstwäldern der Umgebung und tranken manchmal etwas in der Bar des Grand Hotel des Alpes, wo er Charlotte, die Nachmittags-Barfrau, mal mit Namen begrüßte, mal völlig ignorierte.

Wenn sie ihn dann doch wieder in den »Sonnengarten« zurückbrachte, um ihn im Stich zu lassen, inmitten von hilflosen, desorientierten, pflegebedürftigen Greisinnen und Greisen, dann war er es, der sie aufmunterte und sagte: »Du mußt jetzt gehen, sonst kommst du mir noch zu spät.«

Er brachte sie zum Lift, der nur mit dem Schlüssel der Stationsschwester gerufen und geöffnet werden konnte, und verabschiedete sich wie jemand, der auf Verständnis dafür hoffte, daß ihn lästige Verpflichtungen daran hindern, sie persönlich nach Hause zu begleiten.

In der ersten Zeit versuchte sie, die Situation für ihn dadurch erträglicher zu machen, daß sie in ihre Wohnung fuhren, um dort gemeinsam den Tag zu verbringen. Aber es stellte sich schnell heraus, daß ihm die Wohnung fremd war. Eine große Unruhe überkam ihn jedesmal, wenn sie dort waren. Immer wieder trieb es ihn aus dem Fauteuil, in den sie ihn gesetzt hatte, während sie das Mittagessen zubereitete. Dann fand sie ihn in Mantel und Hut im Korridor, wie er an der verschlossenen Wohnungstür rüttelte.

Diese Tage waren anstrengend für Rosemarie. Manchmal hörte sie ihn im Nebenzimmer sprechen, und wenn sie nachschaute, merkte sie, daß er sich mit ihr unterhielt. Wenn sie sich dann zu ihm setzte, um die Unterhaltung fortzuführen, schweiften seine Gedanken ab, und sein Gesicht bekam einen abwesenden Ausdruck. Dann konnte er plötzlich aufstehen mit den Worten: »So, es wird höchste Zeit.«

Den ganzen Tag war er auf dem Sprung, doch wenn es Zeit wurde zu gehen, konnte er sie fassungslos anschauen und sagen: »Ich möchte nicht mehr ausgehen.«

Am Abend eines solchen Tages, als sie ihn endlich aus der Wohnung gelockt hatte und sich die Lifttür im sechsten Stock des »Sonnengartens« auftat in den Gemeinschaftsraum und alle Blicke sich erwartungsvoll auf sie richteten, weigerte er sich, den Lift zu verlassen. Es brauchte alle ihre Überredungskünste und die Mithilfe eines kräftigen Pflegers, um ihn in sein Zimmer zu bringen.

Als sie ihn später verließ, hatte er Tränen in den Augen.

Die Stationsärztin sagte am nächsten Tag zu ihr, es sei besser, wenn sie ihn nicht mehr mit nach Hause nehmen würde. Es verwirre ihn. Es falle ihm dann jedesmal so schwer, sich hier wieder zurechtzufinden. Er müsse langsam merken, daß er hier zu Hause sei.

So wurde die geschlossene Abteilung des Alters- und Pflegeheims »Sonnengarten« Konrad Langs neues Zuhause.

Frau Spörri, eine adrette kleine Frau mit blauen Haaren, früher Produktionsdirectrice in einer Kleiderfabrik, trug immer ein Jackett-Kleid, ein kleines Hütchen und weiße Handschuhe. Immer hatte sie ihre Handtasche dabei und manchmal – man wußte nicht, nach welchen Kriterien – einen Schirm. Sie saß im Sofa oder auf einem Stuhl in aufrechter Haltung, ihre Handtasche auf den Knien, und wartete mit verträumtem, geduldigem Lächeln darauf, daß man sie abholte.

Herr Stohler, ein großer, gebeugter Mann in einer weiten Hausjacke, früher Auslandskorrespondent einer großen Zeitung, pflegte reglos am Tisch zu sitzen, unvermittelt aufzustehen, auf einen anderen Bewohner zuzugehen und in einem Kauderwelsch aus Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch und Kisuaheli auf ihn einzureden.

Frau Ketterer, eine schwere, grobschlächtige, frühere Haushaltslehrerin saß breitbeinig auf ihrem Platz und wartete auf eine Gelegenheit, Frau Spörri zuzurufen: »Haben Sie gesehen, wie die wieder blöd gegafft hat?« Oder: »Sehen Sie die? Im Nachthemd im Restaurant!«

Frau Schwab, Hausfrau und Mutter, Großmutter und Urgroßmutter mit schütterem Haar und spitzem Kinn, die schon lange auf ihr Gebiß verzichtete, trug immer einen hellblauen, rosaroten, gelben oder lindgrünen gesteppten Schlafrock, je nachdem, welcher nicht in der Wäsche war. Sie plapperte unentwegt mit hoher Kinderstimme in Babysprache auf eine nackte Puppe ein.

Herr Kern, ein ehemaliger Zugführer, dem man nicht ansah, warum man ihn hierher gebracht hatte, sorgte für Ruhe und Ordnung im Gemeinschaftsraum. »Haltet doch eure blöden Mäuler«, herrschte er in regelmäßigen Abständen Frau Schwab und ihre Puppe an. »Red doch Deutsch!« befahl er Herrn Stohler, wenn der wieder mal einen Redeschwall auf jemanden herunterprasseln ließ.

Herr Aeppli, gewesener Archivar der Stadtverwaltung, immer in einem abenteuerlichen Aufzug aus Kleidungsstücken anderer Heimbewohner, ging von Zimmer zu Zimmer und machte Bestandsaufnahmen und Schrankkontrollen.

Herr Huber, einst Griechisch- und Lateinlehrer am städtischen Gymnasium, lag mit offenem Mund in seinem Rollstuhl und starrte an die Decke.

Herrn Klein, früherer Kunstsammler und Architekt vieler trostloser Vorortssiedlungen, plagte neben seiner Demenz das Parkinsonsyndrom mit heftigem Zittern, was ihn völlig auf fremde Hilfe angewiesen machte.

Insgesamt bewohnten vierunddreißig Frauen und Männer in verschiedenen, fortgeschrittenen Stadien der Demenz den sechsten Stock des »Sonnengartens«. Sie saßen allein oder in Gesellschaft ihrer ratlosen Angehörigen oder gingen ruhelos die Gänge auf und ab und grüßten sich jedesmal wie Fremde, wenn sich ihre Wege kreuzten.

Medizinisch und therapeutisch betreut wurden sie von Fachleuten aus der Schweiz. Gepflegt, gewaschen, gefüttert und gekleidet von Schwestern und Pflegern aus Osteuropa, dem Balkan und Asien.

Konrad Lang schien nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß er sich in einem Heim befand. Er hielt höfliche Distanz zu den Mitbewohnern und dem Pflegepersonal und nahm seine Mahlzeiten an einem separaten Tischchen ein, eine der alten Zeitschriften neben sich, die wohlmeinende Besucher im Gemeinschaftsraum zurückgelassen hatten. Er benahm sich wie ein besserer Herr in einer etwas heruntergekommenen Pension. Rosemarie hoffte, er fühle sich auch so.

Die einzige Kritik, die sie manchmal von ihm zu hören bekam, war: »Hier stinkt’s.«

Damit hatte er alles andere als unrecht.

Der eiserne Staketenzaun zum unteren Nachbargrundstück wurde durch einen zeitgemäßen Sicherheitszaun ersetzt. Und wo sie schon dabei waren, ließ Urs Koch die ganze Grundstücksgrenze sanieren. Die elektronischen Überwachungsanlagen wurden vervollständigt und auf den neuesten technischen Stand gebracht, die Verträge mit dem Sicherheitsdienst um ein paar zusätzliche Dienstleistungen erweitert.

Das und die Gewißheit, daß sich Konrad Lang in der geschlossenen Abteilung im sechsten Stock eines Heimes befand, aus dem man normalerweise nicht mehr lebend herauskam, hätte Elvira Senn eigentlich genügen müssen, um sich vor weiteren Heimsuchungen aus der Vergangenheit sicher zu fühlen. Aber sie ertappte sich immer wieder dabei, daß sie an Konrad dachte. Dr. Stäublis Worte, daß Menschen mit Altersdemenz manchmal tief in ihrem Altgedächtnis versänken und plötzlich in greifbare Nähe zu ihren frühen Kindheitserinnerungen gerieten, gingen ihr nicht aus dem Sinn.

Sie sagte sich zwar, daß niemand auf das Geschwätz eines geistig Verwirrten achten würde, aber eine echte Beruhigung war ihr das nicht. Es machte sie nervös, daß Konrad ausgerechnet jetzt, wo er außer Kontrolle zu geraten schien, ihrem Einfluß entzogen war. Sie war eine Frau, die es gewohnt war, nichts dem Zufall zu überlassen.

Darum lud sie die stumm an ihrer Ehe mit Urs leidende Simone ins »Stöckli« zum Tee und brachte das Gespräch auf den alten Mann, was sich als nicht sehr schwierig herausstellte.

»Was wohl Koni macht«, sagte sie gedankenverloren.

Simone war überrascht. »Konrad Lang?«

»Ja. Wie er so dahockte wie ein Erdmännchen. Er konnte einem direkt leid tun.«

»Mir tat er sehr leid.«

»Eine schreckliche Krankheit.«

Simone schwieg.

»Dabei hat alles so gut für ihn ausgesehen: eine Frau mit Geld, die Aussicht, für den Rest seines Lebens das zu tun, was er am liebsten tut: rein gar nichts. Und jetzt im Heim.«

»Er ist im Heim?«

»Irgendwo hört die Liebe auf. Die Frau ist noch jung.«

»Das finde ich sehr egoistisch.«

»Es ist nicht jedermanns Sache, einen dementen Mann zu pflegen.«

»Aber ihn ins Heim abzuschieben ist schäbig.«

»Vielleicht geht es ihm dort gut. Unter seinesgleichen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

Elvira seufzte. »Ich eigentlich auch nicht.« Sie schenkte Tee nach. »Vielleicht könntest du ihn einmal besuchen gehen.«

»Ich?«

»Sehen, wie es ihm geht. Ob er alles hat, was er braucht. Ob man etwas für ihn tun kann. Es würde mich beruhigen.«

Simone zögerte. »Ich gehe nicht gern in Krankenhäuser.«

»Es ist kein Krankenhaus. Es ist ein Altersheim. Das ist nicht schlimm.«

»Warum gehst du nicht?«

»Das ist unmöglich.«

»Oder wenigstens zusammen?«

»Vielleicht hast du recht. Vergessen wir die Sache. Vergessen wir Konrad.«

Simones erster Eindruck war der durchdringende Geruch im Lift, der überhandnahm, als sich die Tür zum sechsten Stock öffnete.

Als sie aus dem Lift trat, wurde es still im Aufenthaltsraum. Jede Bewegung erstarrte, bis auf Herrn Kleins Zittern.

Sie schaute sich um und entdeckte an einem Tischchen am Fenster Konrad Lang, der vor sich hin stierte. Sie ging zu seinem Tisch.

»Guten Tag, Herr Lang.«

Konrad Lang blickte erstaunt auf. Dann erhob er sich, streckte Simone die Hand entgegen und sagte: »Kennen wir uns nicht aus Biarritz?«

Simone lachte. »Natürlich, Biarritz.«

Als sie sich zu ihm setzte, besann sich der Aufenthaltsraum wieder auf sein Plappern, Stammeln, Kichern und Keifen.

Was Simone von Konrad Lang zu berichten hatte, beruhigte Elvira nicht.

»Den muß man da rausholen, und zwar rasch«, sagte sie, als sie aufgeregt von ihrem Besuch im »Sonnengarten« zurückkam. »Sonst wird er tatsächlich noch krank.«

Auf sie habe er nicht wie ein Alzheimerpatient gewirkt. Er habe sie sofort erkannt, obwohl sie sich erst zweimal getroffen hätten, und sofort auf seinen Witz mit Biarritz angespielt und ihr ausführlich von Biarritz nach dem Krieg erzählt, als ob es erst gestern gewesen wäre.

Er sei dort umgeben von völlig dementen Alten, mit denen er kein vernünftiges Wort reden könne. Und das Beste sei: An keinen einzigen Besuch dieser Rosemarie Haug könne er sich erinnern.

»Der Mann ist vielleicht manchmal etwas durcheinander, aber wer ist das nicht? Wenn der dorthin gehört, dann gibt es noch ein paar Dutzend andere, allein in meinem Bekanntenkreis. Der muß da raus, sonst geht er drauf.«

Elvira hatte sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr so enthusiastisch gesehen. Simone war wild entschlossen, Konrad aus dem Heim herauszuholen.

»Der Ärmste«, war Elviras Kommentar, »konntest du mit einem Arzt reden?«

»Ich habe es versucht. Aber mir gibt man keine Auskunft, weil ich keine Angehörige bin.«

»Vielleicht solltest du mit dieser Haug Kontakt aufnehmen.«

»Das habe ich vor. Aber ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann.«

»Du kannst mit meiner vollen Unterstützung rechnen«, versprach Elvira.

Als Simone das »Stöckli« verließ, dachte sie, vielleicht ist sie doch keine kalte alte Frau.

Damit begann ein kurzer Kampf um Konrad Langs Befreiung aus dem Alters- und Pflegeheim »Sonnengarten«.

Simone versuchte vergeblich, sich mit Rosemarie Haug zu treffen. Schließlich sagte ihr deren Hauswart, sie sei für eine Weile verreist.

Typisch, dachte Simone.

Sie fand über die Heimverwaltung den Namen des einweisenden Arztes heraus und erhielt ohne weiteres einen Termin, als sie ihm erklärte, daß es sich um Konrad Lang handele.

Der Arzt hieß Dr. Wirth und war nicht unsympathisch. Er empfing sie in seinem Büro in der Klinik und hörte ihr geduldig zu, als sie ihm erklärte, daß nach ihrem Eindruck Konrad Lang nicht in diese Umgebung gehöre und sie das Gefühl habe, wenn er jetzt nicht krank sei, werde er es dort bestimmt.

»Kennen Sie Konrad Lang gut?« war seine erste Frage, als sie geendet hatte.

»Nein, aber die Familie meines Mannes kennt ihn sehr gut. Er ist praktisch mit meinem Schwiegervater aufgewachsen.«

»Teilt er ihren Eindruck?«

Simone wurde etwas verlegen. »Er hat ihn nicht besucht. Er ist sehr beschäftigt.«

Dr. Wirth nickte verständnisvoll.

»Das Verhältnis der beiden ist nicht sehr gut. Gewisse Vorkommnisse aus der Vergangenheit.«

»Der Brand auf Korfu.«

»Ja, unter anderem. Ich kenne die genauen Gründe auch nicht. Ich bin neu in der Familie.«

»Sehen Sie, Frau Koch, ich verstehe sehr gut, was Sie empfinden, aber ich kann Ihnen versichern, Ihr Eindruck ist falsch. Wenn Ihnen Herr Lang einen präsenten Eindruck gemacht hat, dann deshalb, weil er mit den Floskeln und Formen seiner Erziehung vieles übertünchen kann und weil Sie ihn vielleicht in einem guten Moment angetroffen haben. Hochs und Tiefs sind typisch für die Krankheit. Aber wir müssen unsere Dispositionen für die Tiefs treffen.«

»Das sehe ich anders. Man sollte sein Leben nach den Hochs ausrichten.«

»Was schlagen Sie also vor?«

»Sie holen ihn dort raus.«

»Und dann, wer pflegt ihn?«

»Mit Frau Haug ist wohl nicht mehr zu rechnen?« erkundigte sich Simone etwas spitz.

Dr. Wirth reagierte gereizt. »Frau Haug hat mehr getan für Konrad Lang, als man einer Frau nach so kurzer Bekanntschaft zumuten kann. Ich war es, der sie überredet hat zu diesem Schritt.«

»Ich hoffe, sie genießt ihre wiedergewonnene Freiheit.«

»Frau Haug ist mit einer Erschöpfungsdepression in einer Klinik am Bodensee, und ich hoffe, sie kommt bald wieder auf die Beine. Wenn jemand seine Verpflichtungen Herrn Lang gegenüber vernachlässigt hat, ist es die Familie Koch, Frau Koch.«

Simone schwieg betreten. Dann sagte sie, etwas weniger selbstbewußt: »Vielleicht ist es nicht zu spät, einiges wiedergutzumachen.«

»Wie stellen Sie sich das vor?«

»Privatpflege. Ich könnte mir vorstellen, daß man eine Privatwohnung entsprechend einrichtet und privates Pflegepersonal einstellt.«

»Vierundzwanzig Stunden, Frau Koch, das bedeutet rund um die Uhr drei bis vier ausgebildete Fachleute für die Pflege plus Leute für Therapie, Diätküche, Reinigung, medizinische Betreuung. Eine kleine Klinik für einen einzigen Patienten.«

»Ich habe die volle Unterstützung von Frau Senn.«

Als Simone Koch die Klinik verließ, besaß sie Dr. Wirths Versprechen, sich die Sache zu überlegen und mit den Kollegen und den zuständigen Stellen zu erläutern. Er zweifelte nicht daran, daß die Behörden und die Heimverwaltung das Angebot mit Handkuß entgegennehmen würden. Er war nur nicht sicher, wie Rosemarie darauf reagieren würde. Er würde jedenfalls seinen Teil dazu beitragen, sie zu überzeugen.

Simones Plan, das kleine Gästehaus in ein Minipflegeheim umzuwandeln, ging Elvira dann doch etwas zu weit. Sie wollte ihn zwar unter Kontrolle haben, aber so eng nun doch wieder nicht.

»Glaubst du nicht, eine Privatklinik wäre die vernünftigere Lösung?«

»Er braucht keine Klinik«, beharrte Simone, »er braucht nur etwas Betreuung, wenn er eines seiner Tiefs hat.«

»Ich habe ihn hier gesehen, er war völlig verwirrt.«

»Da hatte er eben ein Tief.«

»Wenn du Koni hierher bringst, dreht dein Mann durch. Von Thomas ganz zu schweigen. Es muß eine Lösung geben, die uns alle weniger belastet.«

»Manchmal kann man nicht vor seiner Verantwortung davonlaufen.«

»Wir sind nicht für Konrad Lang verantwortlich.«

»Irgendwie gehört er zur Familie.«

Elvira reagierte gelassen. »Was weißt du schon von der Familie«, war alles, was sie entgegnete.

»Kommt nicht in Frage«, war Rosemarie Haugs Antwort, als ihr Felix Wirth am Wochenende von Simone Kochs Besuch erzählte. Sie saßen im Wintergarten der Rehabilitationsklinik am Bodensee, tranken Kaffee und schauten auf den Nebel, der das Seeufer verhängte.

»Jetzt packt sie das schlechte Gewissen. Jetzt denken sie, sie können mit Geld gutmachen, was sie ihm in sechzig Jahren angetan haben. Sie wollen ihn zum letzten Mal ausnützen. Diesmal zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens.«

»Andererseits«, gab Felix Wirth zu bedenken, »wäre das für ihn die letzte Gelegenheit, wenigstens den Lebensabend in dem Stil zu führen, zu dem er erzogen wurde.«

»Als ich vorschlug, ihn privat zu pflegen, hast du es mir ausgeredet.«

»Wir reden von vier- bis fünfhunderttausend Franken im Jahr. Für einen Mann, den du kaum kennst und der sich nicht an dich erinnert.«

»Weißt du, was seine letzten Worte an Thomas Koch waren? Leck mich! Ich finde, wir sollten das respektieren.«

Der Nebel verfing sich in den kahlen Obstbäumen am Ufer.

»Ich muß hier weg, Felix.«

Konrad Lang saß an einem Ort, wo viele Leute waren, als etwas Interessantes passierte: Gene Kelly tanzte aus dem Fernsehapparat. Zuerst tanzte er auf einer Zeitung, die er dabei in zwei Stücke zerriß, dann tanzte er auf der einen Hälfte, die er wieder in zwei Stücke zerriß, dann auf der anderen Hälfte, die er wieder in zwei Stücke zerriß. Dann war er plötzlich im Zimmer und tanzte weiter.

Konrad Lang sagte zu einer alten Frau, die neben ihm saß und sich mit einem Säugling unterhielt: »Haben Sie gesehen? Jetzt ist er drin.« Aber die Frau redete weiter. Und dann passierte noch etwas Interessantes: Sie war plötzlich im Fernsehapparat, und jetzt sah man, daß der Säugling eine Puppe war und die alte Frau eine Hexe mit spitzem Kinn und spitzer Nase.

Das machte ihm angst, und er schrie: »Achtung, Achtung, Hexe, Hexe!« Da kam ein großer Mann auf ihn zu und sagte: »Halt’s Maul, sonst knallt’s.«

Da wußte er, daß er schleunigst hier raus mußte.

Er stand auf und ging zum Lift, aber der hatte keinen Knopf. Er ging den Gang hinunter bis zu einer Tür, die zu einer Feuertreppe führte.

Sie war verschlossen. Aber der Schlüssel hing daneben in einem kleinen Glaskästchen. Das war auch verschlossen. Aber daneben war ein kleiner Hammer, auch in einem Glaskästchen. Er rammte den Ellbogen in die Scheibe dieses Kästchens, bis er den Hammer herausnehmen konnte. Er schlug damit das Glas des Schlüsselkästchens ein, nahm den Schlüssel und öffnete die Tür. Hinter sich hörte er das Keifen der Hexe. Er trat auf die oberste Plattform der sechsstöckigen Feuerleiter. Langsam fing er an hinunterzusteigen.

Als er die Plattform des fünften Stocks erreicht hatte, hörte er oben Gene Kelly rufen: »Herr Lang!«

Ein Trick der Hexe. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging er weiter.

Auf der Plattform des dritten Stocks sah er sie kommen: Gebirgsfüsiliere in Winteruniform. Sie stiegen langsam die Treppe hoch und dachten, er hätte sie nicht gesehen. Auch über sich hörte er Schritte auf den Blechstufen. Als er hinaufsah, sah er weiße Hosenbeine. Noch mehr Gebirgsinfanterie.

Er setzte sich aufs Geländer und wartete. Lebend kriegten die ihn nicht.

Schon von weitem sah Rosemarie Haug, daß im »Sonnengarten« etwas nicht in Ordnung war. Auf allen Plattformen der Feuertreppe, die an der Westfassade des sechsstöckigen Gebäudes hinunter zum Erdgeschoß führte, standen Pfleger und Schwestern und Feuerwehrleute und Polizisten. Außer auf der dritten. Dort saß ein einsamer Mann auf dem Geländer.

Vor dem Haus standen Polizeifahrzeuge, Krankenwagen und Feuerwehrautos. Als sie näher kam, erkannte sie am Fuß der Feuertreppe ein drei Meter hohes, luftgefülltes Sprungkissen. Als sie den Wagen geparkt hatte, wußte sie plötzlich, wer der einsame Mann war. Sie rannte los.

An der Absperrung hielt sie ein Polizist auf.

»Ich muß hier durch«, keuchte sie.

»Sind Sie verwandt?«

»Nein. Doch. Ich bin die Freundin. Lassen Sie mich rauf. Ich werde mit ihm reden.«

Zehn Minuten später, nachdem der diensttuende Arzt der Polizei bestätigt hatte, daß Frau Haug die einzige Angehörige des Patienten sei, ging Rosemarie Haug ganz langsam die Treppe hinauf.

»Jetzt hast du mir aber einen Schrecken eingejagt, Konrad«, sagte sie möglichst munter, »wenn du wüßtest, wie das aussieht von unten, halsbrecherisch, die sind alle ganz aufgeregt, die kennen deinen Humor nicht.«

Sie hatte die zweite Plattform erreicht und näherte sich der Treppe zur dritten, vorbei am letzten Vorposten der Retter.

»Ich komme jetzt rauf, Konrad, und dann gehen wir ins Des Alpes, darauf brauche ich jetzt einen, du nicht?«

Konrad antwortete nicht. Rosemarie hatte den Absatz zum letzten Treppenstück vor der dritten Plattform erreicht und ging langsam weiter.

»Willst du mir nicht entgegenkommen, Konrad, ich schaff’s fast nicht mehr, und wenn man denkt, drinnen hat es einen Lift, und kühl ist es auch, ich komme jetzt, Konrad. Okay?«

Jetzt konnte sie ihn sehen. Er saß auf dem Geländer mit dem Rücken zum Abgrund und wirkte unbeteiligt.

Sie nahm die letzten zwei Stufen und stand auf der Plattform, keine drei Meter vor ihm.

»Uff, hier bin ich, willst du mich nicht begrüßen? So kenne ich dich ja gar nicht, bleibt einfach sitzen.«

Ohne ein Zeichen des Erkennens ließ sich Konrad Lang rücklings über das Geländer fallen.

Er war der einzige, der nicht schrie.

Konrad Lang fiel weich und verletzte sich erst leicht bei der Balgerei mit den Feuerwehrleuten, die ihn aus dem Luftkissen befreien wollten.

Vier Mann mußten ihn festhalten, damit ihm der Arzt ein Sedativum spritzen und ihn die Pfleger in sein Zimmer bringen konnten.

Rosemarie brauchte auch ein Beruhigungsmittel.

Und der Verwalter des »Sonnengartens« auch. »Das mußte ja einmal kommen«, sagte er dem Einsatzkommandanten. »So eine hirnverbrannte Vorschrift. Notschlüssel für die Feuertür in einer geschlossenen Abteilung! Montiert doch gleich Sprungbretter!«

Rosemarie Haug blieb an Konrads Bett. Bevor er einschlief, sagte er zu ihr: »Gute Nacht, Schwester.«

Als sie am selben Abend Felix Wirth am Telefon von dem Vorfall erzählte, fragte dieser, ob sie immer noch etwas dagegen einzuwenden habe, daß die Kochs sich um Konrads weiteres Schicksal kümmerten.

»Soll ich mich einem Mann aufdrängen, der bei der Wahl zwischen mir und dem Sprung aus dem dritten Stock den Sprung wählt?«

Simone hatte Konrad Lang seit ihrem ersten Besuch fast jeden Tag besucht. Sie fühlte sich mit ihm auf gewisse Weise verbunden. Die Familie Koch hatte sein Leben bestimmt, obwohl sie ihn nie aufgenommen hatte. Sie hatte ihn für ihre Zwecke ausgenützt, und als sie ihn nicht mehr brauchen konnte, verstoßen. Das eine war ihr bereits passiert, auf das andere konnte sie sich schon langsam vorbereiten.

Am Tag nach dem Sprung traf sie ihn vergnügt und aufgeräumt wie schon lange nicht mehr. Kein Hauch einer Erinnerung an den Vortag trübte seine Laune.

»Küß die Hand, gnä’ Frau«, sagte er zu der hübschen Unbekannten, deren Besuch offenbar ihm galt. Als er sich über ihre Hand beugte, sah sie, daß er blaue Flecken am Nacken hatte und sein linkes Ohr angerissen war.

Als sie die Stationsschwester zur Rede stellte, erzählte ihr diese vom gestrigen Vorfall. Für Simone war klar: Selbstmordversuch.

Sie machte mit ihm einen langen Spaziergang in der Hoffnung, daß er ihr dabei mehr über den Vorfall erzählen würde.

Konrad genoß den Spaziergang wie ein Kind. Er watete im tiefen Laub, setzte sich auf jede Bank am Wegrand und schaute fasziniert einer Gruppe Forstarbeitern zu, die mit einer großen Kettensäge eine gefällte Buche zerteilten.

Fragen über den Sprung von der dritten Plattform überging er mit verständnislosem Lächeln.

Es dämmerte bereits, als sie am Grand Hotel des Alpes vorbeikamen. Konrad ging schnurstracks zum Eingang, nickte den Türstehern zu wie alten Bekannten und führte die überraschte Simone direkt in die Bar.

»Small world«, sagte er zur Barfrau, die ihnen die Mäntel abnahm. Sie nannte ihn Koni und brachte ihm »einen Negroni wie immer«.

Simone bestellte ein Glas Champagner und wußte nun endgültig, daß dieser Mann nicht in ein Pflegeheim gehörte.

»Gloria von Thurn und Taxis hat dem Fürsten zum Sechzigsten einen Geburtstagskuchen mit sechzig Penissen aus Marzipan machen lassen. Er war nämlich schwul. Aber das war nur Eingeweihten bekannt. Wußtest du das?«

»Nein, das wußte ich nicht«, kicherte Simone Koch und freute sich, daß er sie duzte.

Als der Pianist zu spielen begann, bestellten sie noch eine Runde. Plötzlich stand Konrad auf und ging zu zwei alten Damen in großgeblümten Kostümen, die an einem kleinen Tischchen nahe beim Piano saßen. Er wechselte ein paar Worte mit ihnen, und als er zurückkam, hatte er feuchte Augen.

»Sind Sie traurig, Herr Lang?« fragte Simone.

»Nein, glücklich«, antwortete er, »glücklich, daß Tante Sophie und Tante Klara noch leben.«

»Ach, und ich dachte, Sie hätten keine Angehörigen.«

»Wie kommen Sie denn darauf?« entgegnete er.

Als Simone Elvira Senn von Konrads Selbstmordversuch berichtete, war diese nicht sehr interessiert.

Aber als sie sie fragte, wer Tante Sophie und Tante Klara seien, horchte sie auf.

»Hat er von Tante Sophie und Tante Klara erzählt?«

»Was heißt erzählt, getroffen hat er sie.«

»Die beiden sind seit sechzig Jahren tot«, schnaubte Elvira.

Als Simone eine Viertelstunde später ging, hatte Elvira ihr versprochen, sich die Sache mit dem Gästehaus noch einmal zu überlegen.

Die Heimverwaltung war schnell überzeugt. Für sie bedeutete das einen freien Pflegeplatz, und sie wurde darüber hinaus einen Patienten los, der in letzter Zeit viel Unruhe gestiftet hatte. Am Tag nach seinem Sprung von der Feuertreppe war er von seiner neuen Besucherin angetrunken nach Hause gebracht worden und hatte die kleine Frau Spörri angepöbelt.

Die Behörden begrüßten die Privatinitiative der Familie Koch im Hinblick auf den herrschenden Pflegenotstand und die Tatsache, daß sie dadurch auch finanziell entlastet wurden. Konrad Lang war mittellos, ohne Angehörige und ein Mündel der Stadt.

Thomas Koch war vor allem überrascht über den Sinneswandel von Elvira. »Ich verstehe dich nicht«, sagte er. »Jetzt, wo du ihn endlich los sein könntest, holst du ihn hierher.«

»Er tut mir leid.«

»Das kannst du ja auch anders beweisen.«

»Ich bin bald achtzig. Ich muß nichts mehr beweisen.«

Thomas war die Vorstellung, von der Hinfälligkeit seines gleichaltrigen früheren Spielkameraden ständig an die Vergänglichkeit des Lebens gemahnt zu werden, unangenehm. »Bring ihn meinetwegen in einer Privatklinik unter, aber doch nicht hier.«

»Weißt du, ich vergesse nie, wie du damals gebettelt hast, bitte Mama, bitte, darf er bleiben.«

»Da war ich ein Kind.«

»Er auch.«

Thomas Koch schüttelte seinen fleischigen Kopf. »So hast du noch nie geredet.«

»Vielleicht schließt sich so der Kreis.« Elvira stand von ihrem Sessel auf als Zeichen dafür, daß sie die Diskussion als beendet betrachtete.

»Aber ich kümmere mich nicht um ihn«, sagte Thomas Koch.

Bei Urs brauchte es etwas mehr.

»Das darf nicht dein Ernst sein«, lachte er.

»Ich weiß, es muß dir etwas exzentrisch vorkommen.«

»Exzentrisch ist gut. Warum willst du das tun?«

»Vielleicht für seine Mutter, Anna Lang. Sie war mir damals, als es mir schlechtging, eine gute Freundin.«

»Bevor sie mit einem Nazi durchbrannte und ihr Kind sitzenließ.«

Elvira hob die Schultern. »Soll jetzt auch noch ich das Kind sitzenlassen?«

»Koni ist kein Kind. Er ist ein aufdringlicher alter Mann, der uns sein Lebtag auf der Haube gesessen hat und jetzt so gaga geworden ist, daß man ihn einliefern mußte. Durfte.«

»Er war nicht immer ein aufdringlicher alter Mann. Er war auch ein guter Spielkamerad und treuer Freund von deinem Vater.«

»Dafür wurde er wohl reichlich entschädigt. Sein ganzes Leben keinen Finger gerührt.«

Elvira schwieg. Urs hakte nach.

»Ich bitte dich, mach diese Dummheit nicht. Dafür ist der Staat zuständig. Von dem, was wir allein privat an Steuern bezahlen, könnte man Dutzende von Konis pflegen. Diese Pflegeheime sind gut.«

»So gut, daß sich die Patienten der geschlossenen Abteilung von der Feuertreppe stürzen können.«

»Das einzige, was ich denen vorwerfe, ist, daß sie ein Sprungkissen darunter gelegt haben.«

»Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich dafür bin. Simone braucht eine Aufgabe.«

»Ach ja?«

»Schau sie dir doch an. Aber das tust du wohl nicht.«

»Simone hat sich die Ehe anders vorgestellt. Deswegen braucht sie nicht gleich Mutter Teresa zu spielen.«

»Seit sie sich um Koni kümmert, geht es ihr besser.« Etwas anzüglich fügte Elvira hinzu: »Vielleicht spricht er ihre Muttergefühle an.«

Urs wollte etwas einwenden, überlegte es sich aber anders und stand abrupt auf.

»Du bist wohl nicht davon abzubringen.«

»Ich denke nicht.«