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Als Konrad Lang zurückkam, stand alles in Flammen, außer dem Holz im Kamin.

Er wohnte in der Koch-Villa auf Korfu etwa vierzig Kilometer nördlich von Kerkira. Sie bestand aus einem verschachtelten Gebäudekomplex, der in Kaskaden aus Zimmern, Gärten, Terrassen und Pools zu einer sandigen Bucht abfiel. Ihr kleiner Strand war nur vom Meer aus zugänglich oder mit einer Art Drahtseilbahn, die durch alle Ebenen der Anlage führte.

Genaugenommen wohnte Konrad Lang nicht in der Villa, sondern im Pförtnerhäuschen, einem kalten, feuchten Maueranbau im Schatten des Pinienwäldchens, das die Einfahrt säumte. Konrad Lang war kein Gast der Villa, sondern so etwas wie ihr Verwalter. Gegen Kost, Unterkunft und eine Pauschale hatte er dafür zu sorgen, daß das Haus auf Abruf für Familienmitglieder und Gäste bereit war. Er hatte die Löhne der Angestellten auszuzahlen und die Rechnungen der Handwerker, die ständig mit Unterhaltsarbeiten beschäftigt waren. Das Salz und die Feuchtigkeit setzten dem Bauwerk zu.

Um die Landwirtschaft, etwas Oliven, Mandeln, Feigen, Orangen und eine kleine Schafherde, kümmerte sich der Pächter.

Während der Wintermonate, die stürmisch, regnerisch und kühl waren, hatte Konrad praktisch nichts zu tun, außer einmal am Tag nach Kassiopi zu fahren und sich mit ein paar Leidensgenossen zu treffen, die den Winter ebenfalls auf der Insel verbrachten: einem alten englischen Antiquitätenhändler, der deutschen Besitzerin einer nicht mehr sehr aktuellen Boutique, einem betagten Maler aus Österreich und einem Westschweizer Paar, das ebenfalls auf eine Villa aufpaßte. Sie schwatzten in einem der wenigen Lokale, die außerhalb der Saison offen hatten, und tranken etwas, meistens zuviel.

Den Rest der Tage brachte er damit zu, sich vor der feuchten Kälte zu schützen, die bis auf die Knochen drang. Die Koch-Villa war, wie viele Ferienvillen auf Korfu, nicht für den Winter gebaut. Das Pförtnerhaus besaß nicht einmal einen Kamin, nur zwei Elektroheizungen, die er aber nicht gleichzeitig einschalten durfte. Sonst sprang die Sicherung heraus.

So kam es, daß er sich an besonders kalten Tagen und manchmal auch Nächten im Living des untersten Gästetrakts aufhielt. Ihm gefiel es dort, weil er sich an dessen Fensterfront wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke eines Luxusliners vorkam: unter ihm ein türkisblauer Pool, vor ihm nichts als das gleichmütige Meer. Dazu kamen die Annehmlichkeiten des gut funktionierenden Kamins und des Telefons. Das Pförtnerhaus war ursprünglich das Personalhaus des untersten Gästetrakts gewesen, und er konnte Gespräche nach hier unten verlegen und so tun, als wäre er da, wo er hingehörte. Die Räume der Villa waren für Konrad nach Elvira Senns Weisungen tabu.

Es war Februar. Ein stürmischer Ostwind hatte den ganzen Nachmittag die Palmen gezaust und graue Wolkenfetzen vor die Sonne getrieben. Konrad beschloß, sich mit ein paar Klavierkonzerten im untersten Gästesalon zu verkriechen. Er lud etwas Holz und einen Kanister Benzin auf die Drahtseilbahn und fuhr hinunter.

Das Benzin war nötig, um das Holz in Brand zu setzen. Er hatte vor zwei Wochen eine Ladung Mandelholz bestellt, das lange und heiß brannte, wenn es trocken war. Aber das, was man ihm geliefert hatte, war feucht. Es gab keine andere Methode, es in Brand zu setzen. Nicht sehr elegant, aber sehr wirksam. Konrad hatte es schon Dutzende Male so gemacht.

Er schichtete ein paar Scheite auf, übergoß sie mit Benzin und hielt ein Streichholz dran. Dann fuhr er in der Drahtseilbahn hinauf, um sich in seiner kleinen Küche zwei Flaschen Wein, eine halbvolle Flasche Ouzo, Oliven, Brot und Käse zu holen.

Auf dem Rückweg lief er dem Pächter über den Weg, der ihm eine Stelle an der Mauer zeigen wollte, wo der Salpeter den Verputz zerfressen hatte.

Als Konrad Lang wieder nach unten fuhr, kam ihm Rauch entgegen. Er schrieb das dem Wind zu, der von einem ungewöhnlichen Winkel vom Meer her in den Kamin blies, und machte sich keine Gedanken.

Aber als die Kabine im untersten Gästetrakt hielt, stand alles in Flammen außer dem Holz im Kamin. Es war eines jener Mißgeschicke, die einem passieren, wenn man in Gedanken ist: Er hatte die Scheite in den Kamin geschichtet, aber dann den Stoß neben dem Kamin in Brand gesetzt. Die Flammen hatten während seiner Abwesenheit auf die indonesische Rattan-Sitzgruppe und von dort auf die Ikats an den Wänden übergegriffen.

Vielleicht wäre der Brand noch zu löschen gewesen, wenn nicht genau in dem Moment, als Konrad Lang die Kabine verlassen wollte, der offene Benzinkanister explodiert wäre. Konrad tat das einzig Vernünftige: Er drückte auf den obersten Knopf.

Während die Kabine langsam nach oben glitt, füllte sich der Schacht rasch mit beißendem Rauch. Zwischen der zweitobersten und der obersten Ebene fing sie an zu bocken, ruckte ein paarmal und hing dann fest.

Konrad Lang hielt sich seinen Pullover vor den Mund und schaute in den Rauch, der rasch immer schwärzer und undurchdringlicher wurde. In Panik hebelte er an der Kabinentür, brachte sie irgendwie auf, hielt den Atem an und krabbelte die Stufen neben der Trasse hinauf. Schon nach ein paar Metern erreichte er die oberste Ebene und rettete sich hustend und keuchend ins Freie.

Die Koch-Villa auf Korfu war kurz vor dem Brand von einer holländischen Innenarchitektin völlig neu eingerichtet worden. Sie war vollgestopft mit indonesischen und marokkanischen Antiquitäten, Textilien und Ethnokitsch. Das Zeug brannte wie Zunder.

Der Wind trieb die Flammen durch den Seilbahnschacht in die Wohnräume aller Etagen und von dort in die Schlafzimmer und Nebenräume.

Als die Feuerwehr kam, hatte das Feuer bereits vom Haus abgelassen und wurde vom Sturm über die Palmen und Bougainvilleen gegen den Pinienwald gejagt. Die Männer beschränkten sich darauf, ein Übergreifen der Flammen auf die Pinien und die umliegenden Oliven zu verhindern. Es hatte wenig geregnet für die Jahreszeit.

Konrad verzog sich mit einer Flasche Ouzo ins Pförtnerhaus. Erst als die Königspinie vor dem Fenster in einem Flammenbündel explodierte, torkelte er hinaus und schaute von weitem zu, wie das Feuer das weiße Häuschen mit all seinen Habseligkeiten vernichtete.

Zwei Tage später war Schöller zur Stelle. Er ließ sich von Apostolos Ioannis, dem Leiter der griechischen Tochter von »Koch Ingeneering«, durch die Brandstätte führen und stocherte da und dort mit der Schuhspitze im verkohlten Schutt. Den Notizblock steckte er bald wieder weg. Die Villa war vollständig ausgebrannt.

Schöller war der persönliche Assistent von Elvira Senn. Ein dünner, akkurater Mann Mitte Fünfzig. Er besaß keinerlei offizielle Funktion im Unternehmen, seinen Namen suchte man vergebens im Handelsregister, aber er war Elviras verlängerter Arm und als solcher bis in die Konzernspitze gefürchtet.

Bisher hatte Konrad Lang seine Angst vor Schöller damit überspielt, daß er ihn mit der Herablassung des Höhergeborenen behandelte. Obwohl Schöller derjenige war, der die Weisungen erteilte, war es Konrad gelungen, sie entgegenzunehmen, als wären sie das Resultat vorangegangener vertraulicher Konsultationen mit Elvira. Auch wenn Schöller genau wußte, daß alle Kontakte zwischen Elvira Senn und Konrad Lang über ihn liefen, die Tatsache, daß die Grande Dame der Schweizer Hochfinanz für ihn immer wieder Fäden zog, ihn sein Leben lang immer wieder irgendwo in ihrem weitverzweigten Imperium und ihrem internationalen Bekanntenkreis als Gesellschafter, Verwalter oder Mädchen für alles unterbrachte, nahm er dem hochnäsigen Alten persönlich übel. Nur weil dieser einen Teil seiner Jugend mit ihrem Stiefsohn Thomas Koch verbracht hatte, fühlte sie sich verpflichtet, ihn zwar auf Distanz aber doch immer irgendwie über Wasser zu halten.

Lang war eine der lästigsten Aufgaben in seinem Pflichtenheft. Schöller hoffte, der Brand würde ausreichen, um sie endlich ein für allemal abzuhaken.

Stundenlang hatte Konrad Lang starr im Widerschein der Flammen mitten im Tumult der Löschmannschaften gestanden. Nur wenn er einen Schluck aus der Flasche brauchte, bewegte er sich, oder wenn er den Kopf einzog, weil das Löschflugzeug tief über die Pinien dröhnte, um eine weitere Ladung Wasser abzuwerfen. Irgendwann kam der Pächter mit zwei Männern, die ihn zum Vorfall befragen wollten. Als sie merkten, daß Konrad Lang nicht vernehmungsfähig war, brachten sie ihn nach Kassiopi, wo er die Nacht in einer Polizeizelle verbrachte.

Am nächsten Morgen bei der Befragung konnte er sich nicht erklären, wie das Feuer entstanden war. Das war nicht einmal gelogen.

Die Erinnerungen an die Entstehung des Brandes tauchten erst im Laufe des Tages in kleinen Portionen wieder auf. Aber da hatte er schon empört jegliche Schuld von sich gewiesen und hielt diese Aussage verzweifelt aufrecht. Vielleicht wäre er damit durchgekommen, hätte der Pächter nicht ausgesagt, er habe Konrad Lang an diesem Nachmittag mit einem Kanister Benzin auf dem Weg in den untersten Gästetrakt gesehen.

Lang wurde daraufhin bis zur Abklärung des Verdachtes auf vorsätzliche Brandstiftung ins Polizeihauptquartier in Kerkira gebracht. Dort befand er sich auch noch, als Schöller in seinem Zimmer im Corfu Hilton International den Ruß abduschte, sich umzog und ein Tonic aus der Minibar nahm.

Als Konrad Lang eine Stunde später aus seiner Zelle geholt und in das kahle Büro geführt wurde, in dem ihn Elviras Assistent mit einem Beamten erwartete, hatte er über fünfzig Stunden in Polizeigewahrsam verbracht und jede Überheblichkeit abgelegt. Er, der Wert darauf legte, in jeder Situation korrekt gekleidet und sauber rasiert zu sein, trug jetzt eine rußgefleckte Kordhose, verdreckte Schuhe, ein schmutziges Hemd, eine zerknitterte Krawatte und den ehemals gelben Kaschmirpullover, den er als Atemschutz benutzt hatte. Sein kurz getrimmter Schnurrbart hob sich kaum mehr von den Bartstoppeln ab, das graue Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht, und die Säcke unter den Augen waren dunkler und schwerer als sonst. Er war fahrig und zittrig, und das kam nicht allein von der Aufregung, sondern vor allem vom brüsken Alkoholentzug. Lang war etwas über dreiundsechzig, aber an diesem Nachmittag sah er aus wie fünfundsiebzig. Schöller übersah die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

Konrad Lang setzte sich und wartete, bis Schöller etwas sagen würde. Aber Schöller sagte nichts. Er schüttelte nur den Kopf. Und als Lang hilflos die Schultern hob, schüttelte er ihn weiter.

»Was nun?« fragte Konrad Lang schließlich.

Schöller schüttelte immer noch den Kopf.

»Das Mandelholz. Es brennt nicht, wenn es feucht ist. Ein Unfall.«

Schöller verschränkte die Arme und wartete.

»Sie haben keine Ahnung, wie kalt es hier im Winter werden kann.«

Schöller schaute zum Fenster. Draußen ging ein strahlender Tag zur Neige.

»Das ist nicht normal für diese Jahreszeit.«

Schöller nickte.

Lang wandte sich an den Beamten, der etwas Englisch sprach. »Sagen Sie ihm, daß ein Tag wie heute für diese Jahreszeit sehr ungewöhnlich ist.«

Der Beamte zuckte die Achseln. Schöller blickte auf die Uhr.

»Sagen Sie denen, daß ich kein Brandstifter bin. Sonst behalten die mich hier.«

Schöller stand auf.

»Sagen Sie denen, daß ich ein alter Freund des Hauses bin.«

Schöller schaute auf Konrad Lang herab und schüttelte wieder den Kopf.

»Haben Sie Elvira erklärt, daß es ein Unfall war?«

»Ich werde Frau Senn morgen unterrichten.« Schöller ging zur Tür.

»Was werden Sie ihr sagen?«

»Ich werde ihr empfehlen, Anzeige zu erstatten.«

»Ein Unfall«, stammelte Konrad Lang noch einmal, als Schöller den Raum verließ.

Schöller nahm am nächsten Tag die einzige Maschine, die außerhalb der Saison vom Ioannis-Kapodistrias-Flughafen nach Athen flog. Er hatte einen akzeptablen Anschluß und war am späten Nachmittag in Elvira Senns Arbeitszimmer im »Stöckli«. So nannten die Kochs den Bungalow aus Glas, Stahl und Sichtbeton, den Elvira sich von einem prominenten spanischen Architekten als Alterssitz in den Park der »Villa Rhododendron« hatte bauen lassen. Der Park bestand aus etwa neunzehntausend Quadratmetern leicht abfallendem Gelände mit verschlungenen Weglein durch unzählige Arten von Rhododendren und Azaleen und alten Baumbestand. Das Zimmer war, wie alle Räume, nach Südwesten ausgerichtet und bot eine prächtige Aussicht auf den See, den Hügelzug am anderen Ufer und an klaren Tagen bis hinauf zur Alpenkette.

Elvira Senn war mit neunzehn als Kindermädchen zu Wilhelm Koch gekommen, dem verwitweten Gründer der Koch-Werke. Dessen Frau war kurz nach der Geburt ihres einzigen Kindes verstorben. Elvira hatte ihn kurz darauf geheiratet und sich zwei Jahre nach seinem frühen Tod wieder verheiratet, diesmal mit dem leitenden Direktor der Koch-Werke, Edgar Senn. Er war ein tüchtiger Mann, der in den Kriegsjahren die Werke – eine nicht sehr innovative aber solide Maschinenfabrik – zum Blühen gebracht hatte. Er produzierte nicht lieferbare Ersatzteile deutscher, englischer, französischer und amerikanischer Autos, Motoren und Maschinen. Nach dem Krieg nutzte er diese Erfahrung und stellte viele der gleichen Produkte in Lizenz her. Die Gewinne der Wirtschaftswunderjahre investierte er in großem Stil in Immobilien, verkaufte rechtzeitig und verschaffte sich so die Mittel für eine breite Diversifikation. So überstanden die Koch-Werke die Rezession. Nicht ganz unbeschadet, aber gut.

Schon immer hatte man gemunkelt, seine geschickte Hand werde von der noch geschickteren seiner Frau geführt. Als Edgar Senn 1965 mit sechzig an einem Herzinfarkt starb und das Unternehmen unbeirrt weiter gedieh, fanden sich viele in diesem Verdacht bestätigt. Heute waren die Koch-Werke ein gut ausbalancierter Mischkonzern, ein wenig Maschinen, ein wenig Textil, ein wenig Elektronik, ein wenig Chemie, ein wenig Energie. Sogar ein wenig Ökotechnik.

Vor zehn Jahren, als Elvira verlauten ließ, es sei Zeit, den Jungen Platz zu machen, war sie ins »Stöckli« gezogen. Aber die Zügel, die sie laut Pressemeldung damals ihrem inzwischen dreiundfünfzigjährigen Stiefsohn Thomas übergeben hatte, hielt sie immer noch fest in der Hand. Sie blieb zwar nicht Mitglied des Verwaltungsrats, aber die Beschlüsse der Sitzungen, die regelmäßig bei ihr im »Stöckli« stattfanden, waren weitreichender und bindender als alles, was in diesem Gremium beschlossen wurde. Und das wollte sie so halten, bis Thomas’ Sohn Urs so weit war, ihre Rolle zu übernehmen. Thomas selbst gedachte sie zu überspringen. Aus Gründen, die mit seinem Charakter zu tun hatten.

Sie nahm die Nachricht vom Totalschaden in Korfu mit der erwarteten Gelassenheit auf. Ein einziges Mal in ihrem Leben war sie dort gewesen – vor über zwanzig Jahren.

»Wie sieht denn das aus, wenn ich ihn ins Gefängnis bringe?«

»Sie bringen ihn nicht ins Gefängnis. Dafür ist die Justiz zuständig. Brandstiftung ist auch in Griechenland ein Offizialdelikt.«

»Konrad Lang ist kein Brandstifter. Er wird nur etwas alt.«

»Wenn Sie wollen, daß es als fahrlässige Brandstiftung gewertet wird, müssen wir zu seinen Gunsten aussagen.«

»Und was machen sie dann mit ihm?«

»Er wird zu einem Bußgeld verurteilt. Falls er es bezahlen kann, muß er nicht ins Gefängnis.«

»Ich muß Sie nicht fragen, was Sie an meiner Stelle tun würden.«

»Nein.«

Elvira überlegte. Die Vorstellung, Konrad Lang tausendfünfhundert Kilometer weiter südlich sicher verwahrt zu wissen, war ihr nicht ganz unangenehm. »Wie sind die griechischen Gefängnisse?«

»Mit ein paar Drachmen kann man es sich dort ganz erträglich einrichten, sagt Ioannis.«

Elvira Senn lächelte. Sie war eine alte Frau, obwohl man es ihr nicht ansah. Sie hatte ihr Leben lang viel Zeit, Energie und Geld darauf verwendet, nicht alt zu werden. Sie hatte mit etwas über vierzig begonnen, in regelmäßigen Abständen kleine kosmetische Korrekturen vorzunehmen, vor allem im Gesicht. Das hatte ihr eine Zeitlang zwar etwas frühzeitig Guterhaltenes verliehen, aber inzwischen war sie achtundsiebzig und sah an guten Tagen aus wie keine Sechzig. Nicht nur dank dem Geld und der Chirurgie, auch die Natur hatte es gut mit ihr gemeint. Sie besaß ein rundes Puppengesicht und hatte sich daher nicht, wie andere Frauen, irgendwann zwischen Gesicht und Figur entscheiden müssen. Sie konnte es sich leisten, schlank zu bleiben. Sie war gesund, abgesehen von einer Diabetes (»Altersdiabetes« hatte es ihr Hausarzt ungalant genannt), wegen der sie sich seit einigen Jahren zweimal täglich aus einer Art Füllfeder ein Verzögerungsinsulin spritzen mußte. Sie hielt sich diszipliniert an ihre Diät, schwamm täglich, nahm Massagen und Lymphdrainagen, verbrachte zweimal im Jahr drei Wochen in einer Klinik auf Ischia und versuchte sich nicht zu ärgern, was ihr nicht immer leicht fiel.

Schöller blieb am Ball. »Man kann Ihnen wirklich keinen Vorwurf machen, nach allem, was Sie für ihn getan haben. Nach diesem Vorfall bringen Sie ihn nirgendwo mehr unter. Oder können Sie jetzt noch die Verantwortung für ihn übernehmen?«

»Es wird heißen, ich hätte ihn ins Gefängnis gebracht.«

»Im Gegenteil. Man wird es Ihnen hoch anrechnen, daß Sie ihn nicht auf Schadensersatz verklagen. Niemand wird von Ihnen erwarten, daß Sie jemanden, der Ihnen eine Fünfmillionenvilla in Brand gesteckt hat, aus dem Gefängnis holen.«

»Fünf Millionen?«

»Der Versicherungswert liegt bei etwa vier.«

»Wieviel hat sie uns gekostet?«

»Etwa zwei. Plus etwa anderthalb, die Herr Koch letztes Jahr investiert hat.«

»In die holländische Innenarchitektin?«

Schöller nickte. »So günstig werden wir ihn nie mehr los.«

»Was muß ich tun?«

»Das ist ja das Angenehme: nichts.«

»Dann tu ich es.«

Elvira setzte ihre Lesebrille auf und wandte sich einem Papier zu, das vor ihr auf dem Pult lag. Schöller erhob sich.

»Und Thomas«, sagte sie, ohne aufzublicken, »Thomas muß man diesen Aspekt der Geschichte ja nicht unter die Nase reiben.«

»Von mir erfährt Herr Koch nichts.«

Noch bevor Schöller die Tür erreicht hatte, klopfte es, und gleich darauf stand Thomas Koch im Zimmer.

»Koni hat Korfu niedergebrannt.« Er bemerkte den Blick nicht, den Elvira und Schöller tauschten.

»Trix van Dijk hat eben angerufen. Die Villa sehe aus wie nach einem Bombenangriff.« Dann grinste er. »Sie war mit einem Team von The World of Interiors dort. Die wollten eine Titelstory machen und sie groß herausbringen. Aber da gab es keine Interiors mehr. Sie sagt, sie bringt Koni um. So, wie sie klang, glaube ich’s ihr.«

Thomas Koch war kahl bis auf einen schwarzen Haarkranz, der, wenn die Sonne kurz durch ein Wolkenloch ins Zimmer schien, etwas unnatürlich reflektierte. Sein Gesicht wirkte zu klein für seinen fleischigen Kopf. Auch wenn es so breit grinste wie in diesem Moment.

»Ich glaube, Schöller, Sie sollten in Korfu nach dem Rechten sehen. Erledigen Sie die Formalitäten, und halten Sie mir um Himmels willen die van Dijk vom Leib.« Koch ging zur Tür.

»Ach, und holen Sie Koni aus dem Gefängnis. Erklären Sie denen, daß er kein Brandstifter ist, nur ein Säufer.«

Als Thomas Koch die Tür hinter sich schloß, hörten sie ihn noch kichern: »The World of Interiors!«

Drei Wochen später trafen sich Konrad Lang und Schöller wieder. Apostolos Ioannis hatte im Auftrag des Schweizer Hauptsitzes eine Kaution geleistet, Konrad Lang mit provisorischen Papieren, dem Allernötigsten an Kleidung, etwas Taschengeld, Schiffs- und Bahnkarten zweiter Klasse ausgestattet.

Konrad Lang war bei unruhiger See mit der Fähre acht Stunden nach Brindisi gereist und hatte sich dort drei Stunden auf dem Bahnhof herumgedrückt. Als er am nächsten Tag pünktlich um Viertel nach fünf bei der Adresse ankam, die ihm Ioannis als Treffpunkt angegeben hatte, wurde es bereits dunkel.

Tannenstraße 134 war ein Wohnblock in einer stark befahrenen Straße ohne eine einzige Tanne. Sie befand sich in einem Arbeiterviertel der Stadt. Konrad Lang stand einen Moment unschlüssig vor dem Hauseingang. Auf seinem Zettel war kein Stockwerk erwähnt. Er studierte die Namensschilder. Sie waren alle schwarz und sauber in einen Aluminiumraster eingelassen. Neben einer Klingel im dritten Stock war der Name »Konrad Lang« eingraviert. Er drückte auf den Knopf. Kurz darauf surrte der Türöffner. Drei Treppen höher erwartete ihn Schöller in einer Wohnungstür. »Willkommen zu Hause«, grinste er.

Langs Reise hatte dreiunddreißig Stunden gedauert. Er sah fast so schlimm aus wie bei ihrer letzten Begegnung im Polizeihauptquartier von Kerkira.

Schöller führte ihn durch die kleine Zweizimmerwohnung. Sie war mit günstigen, einfachen Möbeln eingerichtet, in den Küchenschränken und Schubladen befand sich das Nötigste an Geschirr und Besteck. Es waren ein paar Pfannen da und ein paar Grundnahrungsmittel, im Schlafzimmerschrank lag Bett- und Frotteewäsche, im Wohnzimmer stand ein Fernseher. Alles war neu, die Böden waren mit Spannteppichen ausgelegt und die Zimmer frisch gestrichen. Wie eine noch nie benutzte Ferienwohnung, dachte Konrad Lang. Wenn das Quietschen der Trams und das Hupen der Autos nicht wäre. Er setzte sich auf den verstellbaren Fernsehsessel.

»Folgende Abmachung«, sagte Schöller, nahm auf dem kleinen Sofa daneben Platz und legte ein Papier vor sich auf das Clubtischchen. »Frau Senn kommt für die Wohnung auf. Falls Sie die Einrichtung ergänzen wollen, können Sie eine Wunschliste aufstellen. Ich bin bevollmächtigt, Ihnen innerhalb eines vernünftigen Rahmens entgegenzukommen. Versicherungen, Krankenkasse, Zahnarzt werden übernommen. Ebenso die Bekleidung. Eine Mitarbeiterin von mir wird sich morgen bei Ihnen melden und Sie beim Einkauf Ihrer Garderobe begleiten und beraten. Die Beratung wird vor allem finanzieller Natur sein. Der Spielraum, über den sie verfügt, ist beschränkt.«

Schöller drehte sein Papier um. »Schräg vis-à-vis befindet sich das Café Delphin, ein sehr angenehmes Tea-Room, in welchem Sie frühstücken können. Für die anderen Mahlzeiten ist das Blaue Kreuz vorgesehen, ein sehr reelles alkoholfreies Restaurant, vier Tramstationen von hier. Kennen Sie es?«

Konrad Lang schüttelte den Kopf.

»In beiden Lokalen haben Sie eine laufende Rechnung, die von Frau Senn übernommen wird. Für Ausgaben außerhalb dieses Arrangements steht Ihnen ein Taschengeld von wöchentlich dreihundert Franken zur Verfügung, die Sie jeweils am Montag beim Leiter der Filiale Rosenplatz der Kreditbank beziehen können. Er hat Anweisung, Ihnen keine Vorschüsse zu gewähren. Frau Senn hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß sie für das alles keine Gegenleistung erwartet oder wünscht. Außer, daß Sie vorsichtig mit Feuer umgehen, möchte ich dem persönlich doch hinzufügen.«

Schöller schob Konrad Lang das Papier über das Tischchen hin und holte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche. »Lesen Sie sich das genau durch, und unterschreiben Sie es in beiden Ausfertigungen.«

Lang nahm ihm den Kugelschreiber aus der Hand und unterschrieb. Er war zu müde zum Lesen. Schöller griff sich seine Kopie, stand auf und ging hinaus. Bei der Wohnungstür drehte er sich um und kam noch einmal zurück. Er konnte es nicht lassen: »Wenn es nach mir gegangen wäre, wären Sie in Korfu geblieben. Frau Senn ist viel zu großzügig.«

Er bekam keine Antwort. Konrad Lang war im Fernsehsessel eingeschlafen.