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Das Gästehaus der »Villa Rhododendron« war ursprünglich ein Waschhaus gewesen mit Dienstmädchenzimmern im oberen Stock. Es bestand, wie die Villa, aus rotem Backstein und besaß einen Taubenschlag in der Form ihres Turmes. Es lag auf der Rückseite der Villa, mit Blick auf Küche und Wirtschaftsräume im schattigen Teil des Parks.

In den Fünfzigerjahren war es zum Gästehaus umgebaut worden, mit einem Wohnzimmer mit Ohrensesseln und Rauchtischchen, Nußbaumregalen, einer eingebauten Bar, einem kleinen Klavier, massiven Nußbaumtüren mit Messingfallen und Wappenscheiben an den doppelverglasten Fenstern. Neben dem Wohnzimmer befanden sich ein Schlafzimmer, ein Bad und eine Toilette. Im oberen Stock gab es vier weitere Schlafzimmer und noch ein Bad. Küche gab es keine.

Es war nie ein besonderer Erfolg gewesen. Als Gästehaus war es von der Lage her etwas diskriminierend, wenn man es mit den großen, luftigen Gästezimmern mit Seesicht der Villa verglich, und Personalwohnungen hatte man genug seit dem Ausbau des Dachstocks in den Sechzigerjahren.

So hatte das Gästehaus meistens leer gestanden, mit kurzen Unterbrechungen während gewisser Ehekrisen, wenn es von Thomas Koch oder seinen Frauen als Schmollwinkel benutzt wurde.

Simone Koch besann sich auf ihr Organisationstalent, mit dem sie während ihrer kurzen beruflichen Laufbahn als Sekretärin in einer Filmproduktionsgesellschaft ihre Arbeitgeber verblüfft hatte. Diese hatten sie ohne große Erwartungen ihrem Vater zuliebe eingestellt, der in einflußreicher Position bei einem der wichtigsten Werbeauftraggeber des Landes tätig war.

In knapp zwei Wochen hatte sie das Gästehaus für die Bedürfnisse von Konrad Lang und seinen Betreuern umfunktioniert. Das Bad war jetzt kleiner, aber nach Spitalstandards eingerichtet, im gewonnenen Raum wurde eine moderne, kompakte Küche eingebaut, die Toilette war mit Stützen und Handgriffen versehen, im Schlafzimmer stand ein multifunktionales Spitalbett – das Neueste, was der Markt zu bieten hatte. Das Wohnzimmer war sanft renoviert: die alten Möbel aufgefrischt, der Spannteppich entfernt und das Parkett versiegelt, die Tapete weiß gestrichen, die schweren, muffigen Vorhänge durch luftige, helle ersetzt und die Hausbar auf Anraten des Neurologen geleert.

Im ersten Stock entstanden zwei freundliche Personalschlafzimmer, ein Bad und ein Fitneß- und Therapieraum, ein Personalzimmer mit Kochnische, Fernseher und zwei Monitoren, über die die unteren Räume diskret überwacht werden konnten.

Alle Fenster und die Haustür waren nur mit Sicherheitscodes zu öffnen.

Die Leiterin eines privaten Hauspflegedienstes hatte Simone bei der Einrichtung beraten und auch das Pflegepersonal gestellt:

Für die Tagespflege: Frau Irma Catiric, 46, Jugoslawin, diplomierte Krankenschwester und Altenpflegerin, seit 22 Jahren in der Schweiz.

Für die Nachtpflege: Frau Ranjah Baranaike, 38, Tamilin aus Sri Lanka, seit neun Jahren in der Schweiz, davon fünf Jahre als Hilfsschwester in einem Altenpflegeheim, Diplome als Krankenschwester und Säuglingsschwester, die in der Schweiz nicht anerkannt wurden, da sie aus Colombo stammten.

Als alternierende Ablösung für den Tag- und den Nachtdienst Jacques Schneider, 33, Schweizer, diplomierter Krankenpfleger, der auf dem zweiten Bildungsweg Medizin studierte und mit Nachtdienst sein Studium finanzierte.

Auch an eine Reserve hatte man gedacht, für den Fall, daß jemand vom festen Pflegepersonal einmal ausfiel: Sophie Berger, 44, Schweizerin, diplomierte Krankenschwester und Altenpflegerin, Mutter von zwei Kindern, seit diesem Jahr wieder berufstätig.

Für die Diätküche: Luciana Dotti, 53, Italienerin, seit 33 Jahren in der Schweiz.

Für die Physiotherapie: Peter Schaller, 32, Schweizer, diplomierter Physiotherapeut mit Spezialgebieten Geriatrie und Neurologie.

Für die Beschäftigungstherapie: Joseline Jobert, 28, Schweizerin, abgebrochenes Psychologiestudium, Beschäftigungstherapeutin in mehreren privaten Altersheimen.

Für die neurologische Betreuung hatte sich Dr. Felix Wirth, 47, zur Verfügung gestellt. Die allgemeinmedizinische lag in den Händen von Dr. Peter Stäubli, 66, der nur noch eine Handvoll seiner langjährigen Patienten betreute. Unter anderem Frau Elvira Senn.

Das Reinigungspersonal bestand aus zwei jüngeren Frauen aus Rumänien und Albanien, beide kaum der deutschen Sprache mächtig, aber mit Erfahrung im Spitaldienst.

An einem kalten Spätnovembertag zog Konrad Lang im Gästehaus der »Villa Rhododendron« ein.

»Small world!« waren seine ersten Worte, als er ins Wohnzimmer trat.

Wenn Simone noch einen Beweis gebraucht hätte, daß Konrad Lang nicht in den sechsten Stock des »Sonnengartens« gehörte, dann hätte die Veränderung, die vom ersten Tag an mit ihm vorging, vollends genügt. Er blühte auf. Er aß mit Appetit, machte der Diätköchin Komplimente auf italienisch, schlief ohne Schlafmittel, rasierte sich selbst und kleidete sich ohne fremde Hilfe an, wenn auch etwas extravagant.

Er nahm das Häuschen in Beschlag, als ob er immer darin gewohnt hätte, und machte schon am zweiten Tag Verbesserungsvorschläge: Er hätte lieber Musik als das. Mit »das« meinte er den Fernseher, der in der Bücherwand stand.

»Was für Musik?« fragte Simone.

Er schaute sie erstaunt an. »Klavier, natürlich.«

Simone kaufte noch am gleichen Tag eine Anlage und alles, was ihr an Klaviermusik in die Finger kam. Als sie am Abend die erste CD spielte, sagte er: »Hast du sie nicht mit Horowitz?«

»Was?« fragte Simone.

»Die Nocturne Opus 15, Nummer 2, Fis-Dur«, antwortete er nachsichtig. »Das hier ist Schmalfuss.«

Auch Dr. Wirth bestätigte Simone Koch nach seinem ersten Besuch, daß es Konrad Lang bessergehe. Er weise längere Phasen der Präsenz auf, seine Konzentrationsfähigkeit sei verbessert und dadurch seine Kommunikationsfähigkeit und seine Fähigkeit, komplexe Handlungsabläufe wie Aufstehen – Rasieren – Ankleiden zu bewältigen.

»Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen«, fügte er hinzu, »solche Schwankungen mit vorübergehender spontaner Besserung gehören zum Krankheitsbild.« Daß dem oft eine sprunghafte Verschlechterung folgte, verschwieg er.

Aber Simone machte sich Hoffnungen, schon allein deshalb, weil niemand mit letzter Sicherheit beweisen konnte, daß Konrad Lang tatsächlich an Alzheimer erkrankt war. Das mußte selbst Dr. Wirth zugeben.

Am liebsten ging Konrad im Park spazieren. Für Simone war das nicht ganz einfach, weil es zur Abmachung gehörte, daß sie ihn von der Familie fernhielt. Thomas und Urs mußten dazu außer Haus sein, und wenn das nicht der Fall war, hatte sie Konrad, der sie, schon zum Ausgehen gekleidet, erwartete, klarzumachen, warum es jetzt nicht möglich war.

Elvira war insofern ein kleineres Problem, als das »Stöckli«, in dem sie sich meistens aufhielt, Konrad überhaupt nicht interessierte. Er betrachtete es als etwas, das nicht in den Park gehörte, und machte einen Bogen darum.

Nicht so die Villa. Jedesmal machte er sie nach kurzer Zeit zum Ausgangspunkt und Ziel ihrer Spaziergänge. »Es wird kühl, gehen wir rein«, sagte er, wenn sie sich in ihrer Nähe befanden. Oder: »Wir sollten zurück, Tomi wartet.«

Meistens gelang es Simone, ihn mit dem Gärtnerschuppen abzulenken. Das war sein Lieblingsort. Er kannte jedesmal die Stelle über dem Türstock, wo der Gärtner den Schlüssel versteckte. Wenn er die Tür öffnete, sagte er immer geheimnisvoll: »Jetzt mußt du riechen.«

Sie atmeten beide den Duft aus Torf, Dünger und Blumenzwiebeln ein, der den Schuppen ausfüllte. Dann mußte sich Simone neben Konrad auf einen Haraß setzen. Nach ein paar Sekunden versank er tief in einer anderen – seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen glücklicheren – Zeit.

Wenn sie es dann nach einer Weile über sich brachte, ihn wieder in ihre Gegenwart zu locken, ließ er sich widerstrebend zurück ins Gästehaus führen. Doch sobald er das Wohnzimmer betrat, schien er sich ganz zu Hause zu fühlen. Er setzte sich in einen Sessel und wartete, bis Simone Musik machte. Dann schloß er die Augen und lauschte.

Nach einer Weile ging Simone leise hinaus. Sie hätte gern gewußt, ob ihm auffiel, daß sie nicht mehr da war, wenn er die Augen wieder öffnete.

Wenn die Musik verstummte und Konrad die Augen öffnete, war meistens Schwester Ranjah da.

Im Pflegeheim hatte das Abendessen noch zu den Aufgaben der Tagesschwestern gehört. Schon um halb sechs, wie die kleinen Kinder, mußten die Patienten essen oder wurden sie gefüttert. Aber hier im Gästehaus waren auch die Essenszeiten menschenwürdig. Zwischen sieben und halb acht trug Luciana Dotti das Abendessen auf, und es fiel der Nachtschwester zu, Konrad dabei Gesellschaft zu leisten oder ihm, je nach Verfassung, zu assistieren.

Schwester Ranjah begrüßte Konrad immer auf Hindu-Art mit einer kleinen Verbeugung und unter dem Kinn zusammengelegten Händen. Immer grüßte Konrad so zurück. Sie sprachen Englisch miteinander, und ihr Akzent versetzte ihn nach Sri Lanka, als die Insel noch Ceylon hieß und das Gelände, auf dem das Galle Face Hotel stand, ein Golfplatz war.

Er war in den Fünfzigerjahren mit Thomas Koch einmal dorthin gereist auf Einladung des britischen Gouverneurs, dessen Sohn sie aus dem »St. Pierre« kannten.

Ranjah war ganz anders als die laute, resolute, herzliche Schwester Irma Catiric, die ihn mit ihrer Mütterlichkeit etwas einschüchterte. Ranjah war sanft und zurückhaltend und besaß die unbefangene Zärtlichkeit, mit der die Menschen aus Sri Lanka ihre Alten und Kranken umgeben.

Konrad Lang respektierte Schwester Irma. Aber Schwester Ranjah liebte er. Wenn sie ihre freie Nacht hatte und Jacques Schneider, der späte Medizinstudent, sie vertrat, fehlte ihm etwas. Auch wenn er nicht sagen konnte, was.

Der Umzug von Konrad Lang ins Gästehaus der »Villa Rhododendron« schien auch für Rosemarie Haug eine glückliche Entscheidung gewesen zu sein.

In den zwei Wochen, die es gedauert hatte, bis das Gästehaus bezugsbereit war, besuchte sie ihn noch ein paarmal im »Sonnengarten«. Nie gab er ihr auch nur das kleinste Zeichen des Erkennens.

Als sie nach ihrem letzten Besuch im Lift nach unten fuhr, wurde sie auf einmal überwältigt von der ungeheuren Erleichterung darüber, daß sie jetzt nie mehr diesen durchdringenden Geruch riechen mußte.

Ihr schlechtes Gewissen verflog vollends, als Felix Wirth ihr erzählte, wie gut Konrad Lang die Veränderung getan habe, wie zufrieden er wirke und wie wunderbar aufgehoben und versorgt er sei.

Am Ende der ersten Woche nach dem Umzug machte sie in Absprache mit Simone Koch und in Begleitung von Felix Wirth einen Besuch bei Konrad. Die Atmosphäre von Effizienz und Gemütlichkeit, die im Gästehaus herrschte, gefiel ihr.

Vor dem Wohnzimmer hörte sie Konrad lachen (wann hatte sie ihn das letzte Mal lachen gehört?), und als die Schwester sie hineinführte, saß er mit einer jungen Frau am Tisch vor dem Fenster und malte. Er hörte zu lachen auf, sah sie irritiert an und fragte: »Ja, bitte?«

»Ich bin’s, Rosemarie«, sagte sie, »wollte nur sehen, wie es dir geht.«

Konrad blickte die junge Frau an, zuckte die Achseln und malte weiter. Rosemarie blieb einen Moment unschlüssig stehen. Als sie wieder draußen war, hörte sie erneut sein unbeschwertes Lachen.

Sie fühlte sich von einer Last befreit, von der sie nie gewußt hatte, daß sie sie erdrückte.

Noch am selben Abend schlief sie zum ersten Mal mit Felix Wirth. Ohne daß Konrad Lang es merkte, verschwand Rosemarie Haug aus seinem Leben.

Auch Simone Koch lebte auf. Nicht, weil sie, wie Elvira meinte, jetzt eine Aufgabe hatte, sondern weil sie sich zum ersten Mal, seit sie Mitglied der Familie Koch war, behauptet hatte. Und zwar nicht in einer Lappalie wie der Wahl der Farbe der Vorhänge im Lesezimmer oder des Menüs beim Dreikönigsessen. Sie hatte in einer grundsätzlichen, heiklen Frage ihren persönlichen und vom Familienkonsens abweichenden Standpunkt durchgesetzt.

Damit hatte sie mehr bewirkt, als sie sich hätte träumen lassen. Der Aufstand der von der Familie Belächelten und Verstoßenen hatte nicht nur Konrad geholfen, er hatte auch ihrem Ansehen in der Familie und beim Personal genützt. Alle, selbst Urs, behandelten sie mit mehr Respekt.

Konrad Lang wurde der wohlbehütetste Alzheimerpatient, den man sich vorstellen konnte. Ständig war er umgeben von professionellem Pflegepersonal, und doch wurde alles getan, damit seine Umgebung den privaten Charakter behielt und er sich geborgen und wie zu Hause fühlte.

Jeden Vormittag kam der Physiotherapeut, arbeitete mit ihm an seiner Koordination und Beweglichkeit und hielt seinen Kreislauf in Schwung.

Jeden Nachmittag kam die Beschäftigungstherapeutin, die mit ihm leichte Denk- und Erinnerungsaufgaben löste. Er malte für sie artig Aquarelle und sang nachsichtig Lieder mit ihr, die sie unbeholfen auf dem Klavier begleitete. Ab und zu tat er ihr sogar den Gefallen, selber etwas auf den Tasten zu klimpern.

Seine Diät war ausgewogen und reich an Vitamin A, C und E, um die zellschädigenden Atome zu entschärfen. Seine Hirndurchblutung wurde mit Ginkgo-Extrakten gefördert. Sein Vitamin-B4- und -B12-Spiegel wurde überwacht und, wenn nötig, ausgeglichen.

Seine Tage waren ausgefüllt und geregelt, niemand hörte weg, wenn er zum wiederholten Mal die gleiche Geschichte erzählte. Man gab ihm das Gefühl, daß man ihn gern hatte. Das fiel niemandem im Gästehaus schwer. Konrad Lang war ein liebenswerter Mann.

Am vorletzten Sonntag vor Weihnachten stand Konrad schon in Mantel und Pelzmütze im Windfang, als Simone kam.

»Seit einer Stunde will Herr Lang raus. Sonst komme er zu spät zum Schneien«, erklärte Schwester Irma.

Sobald sie aus dem Haus waren, sagte Konrad, der sonst immer ein gemächliches Tempo an den Tag legte: »Komm!«, und ging voraus. Simone mußte sich anstrengen, ihm zu folgen. Als sie bei seinem Ziel, dem Gärtnerschuppen, anlangten, waren beide etwas außer Atem.

Er lehnte sich an die hölzerne Wand des Schuppens und wartete.

»Worauf warten wir, Konrad?« fragte Simone.

Er schaute sie an, als wenn er erst jetzt ihre Anwesenheit bemerken würde.

»Riechst du es nicht?« Und schaute wieder in den verhangenen Himmel, der weit draußen mit den Hügeln hinter dem See verschwamm.

Plötzlich schwebten große, dicke Schneeflocken herab, fielen auf den Rand des Regenfasses, den Deckel des Komposthaufens, das Plattenweglein, die Tannenzweige auf den Rosenbeeten und die schwarzen Äste der Zwetschgenbäume.

»Es schneit Fazonetli«, sagte Konrad.

»Fazonetli?« fragte Simone.

»Taschentüchlein. Von ›fazzoletti‹.«

Die Taschentüchlein fielen aus dem grauen Himmel und kühlten das Gras und die Zweige und die Steinplatten, bis die, die nachkamen, nicht mehr schmolzen. Bald war alles von einem hellgrauen Schleier überdeckt, der rasch weiß und immer dicker wurde.

»Es schneit Fazonetli«, rief Konrad und fing an, mit ausgebreiteten Armen im Gestöber zu tanzen, das Gesicht dem Himmel zugewandt, Mund und Augen aufgesperrt, so weit es ging.

»Es schneit Fazonetli«, sang er und schleuderte seine Pelzmütze in den Himmel.

»Es schneit Fazonetli«, sang Simone.

Beide tanzten im Geflimmer, bis sie nicht mehr konnten vor Lachen und Weinen und Glück.

Konrad und Simone kamen mit nassen Haaren und weißen Mänteln ins Gästehaus zurück. Schwester Irma verschwand mit Konrad. Simone ging ins Wohnzimmer, zündete die zwei Kerzen auf dem Adventskranz an, legte das Pianokonzert von Schumann auf, setzte sich aufs Sofa und wartete.

Als die Schwester mit Konrad zurückkam, hatte er trockene Sachen an, seine Haare waren gefönt, und seine Wangen glühten wie bei einem glücklichen Kind. Er setzte sich in seinen Sessel, aß ein wenig vom Weihnachtsgebäck auf dem Rauchtischchen, schloß die Augen und hörte der Musik zu.

Kurz darauf war er eingeschlafen.

Simone blies die Kerzen aus und ging leise aus dem Zimmer.

Draußen stand eine schlanke, große, rothaarige Frau Mitte Vierzig in weißer Schwesternschürze.

»Mein Name ist Sophie Berger, ich bin die Reserve. Schwester Ranjah hat frei, und Herr Schneider hatte einen Autounfall wegen dem Schnee.«

»Ist er verletzt?« fragte Simone.

»Nein. Aber er ist mit einem Tram zusammengestoßen. Das bedeutet viel Papierkrieg.«

»Nun, Sie werden nicht viel Arbeit haben. Ich glaube, Herr Lang wird sehr gut schlafen.«

Simone wählte den Code für die Haustür.

»Sie kennen Herrn Lang?«

»Ja, ich hatte schon einmal das Vergnügen.«

Simone legte ihren nassen Mantel über die Schultern und ging zufrieden zurück zur Villa. Die schwarzen Granitplatten des Weges kamen schon wieder zum Vorschein.

Konikoni öffnete die Augen und machte sie sofort wieder zu.

Nach einer Weile öffnete er sie wieder, aber diesmal ganz langsam, damit man es von außen nicht sah. Erst kam ein wenig Licht durch die Wimpern, dann konnte er die Konturen der Möbel erkennen, und dann sah er Mama Anna.

Sie trug eine weiße Arbeitsschürze wie eine Schwester und war dabei, den Tisch zu decken.

Er wartete, bis sie hinausging und er sie in der Küche sprechen hörte. Rasch stand er vom Sessel auf und versteckte sich hinter dem Sofa, das an der Wand stand.

Er hörte, wie Mama Anna wieder hereinkam, dann sah er ihre Schuhe und Beine.

Sie rief: »Herr Lang?« Dann ging sie wieder aus dem Zimmer.

Er hörte, wie sie die Tür zum Schlafzimmer öffnete. »Herr Lang?«

Dann die Tür zum Bad. »Herr Lang?«

Sie sprach mit jemandem in der Küche. Dann hörte er Schritte auf der Treppe.

Nach einiger Zeit kam sie wieder herunter. »Herr Lang?« Sie öffnete die Windfangtür und die Haustür. Eine Weile war es still. Dann hörte er vor dem Fenster Mama Annas Stimme halblaut »Herr Lang?« rufen.

Konikoni stand auf und ging leise in den Korridor. Aus der Küche kamen Geräusche. Die Windfangtür war offen. Er ging zur Haustür. Sie war nur angelehnt. Mit einem Lächeln schlüpfte er in die Nacht hinaus. Der Himmel war jetzt klar. Ein halber Mond hing über der fahlen Hügelkette.

Kochs hatten ein paar Gäste, wie immer an Adventssonntagen. Es war eine Tradition, die noch auf Edgar Senn zurückging. Er hatte damit begonnen, leitende Mitarbeiter der Koch-Werke als besondere Auszeichnung am ersten Advent zum Abendessen einzuladen. Mit dem Gedeihen der Werke wuchs auch die Zahl der leitenden Mitarbeiter, und so wurden mit den Jahren alle Adventssonntage zu Direktionsessen.

An diesem Abend waren es Vertreter der Unternehmensleitung der Bereiche Textil und Energie, eine etwas gewagte Mischung aus jüngeren modischen Managern (Textil) und älteren, biederen Direktoren (Energie), alle jeweils mit ihren Gattinnen. Achtundzwanzig Personen saßen um den großen Tisch im Speisezimmer, Elvira, Simone, Thomas und Urs mitgerechnet.

Der erste Gang wurde gerade aufgetragen, als Simone in einer dringenden Sache vom Tisch gerufen wurde. Urs stand kurz vom Stuhl auf, als sie sich entschuldigte. Alle Herren taten es ihm gleich.

Draußen in der Halle wartete die Aushilfsnachtschwester.

»Herr Lang ist verschwunden.«

»Verschwunden? Wie konnte das passieren?« fragte Simone, während sie in einen Mantel schlüpfte und zur Tür eilte.

Sophie Berger rannte ihr nach. »Im Haus ist er nicht«, rief sie, als Simone zum Gästehaus eilen wollte. »Ich habe überall nachgesehen.«

Simone änderte die Richtung. Wortlos gingen die beiden Frauen durch den Park, von dessen Bäumen der nasse Schnee tropfte.

An einigen Stellen vor dem Gärtnerschuppen lag noch Schnee, und man konnte im Mondlicht Fußspuren sehen, die darauf zuführten. Die Tür war unverschlossen. Simone öffnete sie. »Konrad?«

Keine Antwort. Ein Viereck Mondlicht fiel durch die offene Tür. Die Harassen, auf denen sie immer saßen, standen da, der Torf, die Blumenzwiebeln, die Düngersäcke. Aber Konrad war nicht hier. Als sie schon gehen wollte, sah sie etwas am Boden. Sie hob es auf. Es war Konrads Hausschuh. Als sie genauer hinschaute, fand sie auch den anderen. Und daneben seine Socken.

»Frau Koch«, rief Sophie Berger, »schauen Sie.«

Simone ging hinaus. Die Schwester zeigte auf den Abdruck zweier nackter Füße im zusammengefallenen Schnee. Am rechten fehlte eine Zehe, am linken fehlten zwei.

»Ich glaube, wir warten nicht auf meine Frau«, sagte Urs Koch mit kaum verhohlenem Ärger zu Trentini, der bei größeren Anlässen in der Villa für den Service zuständig war.

»Hoffentlich keine ernsten Probleme«, sagte Frau Gubler, die mütterliche Frau des Delegierten ›Turbinen‹.

»So ein großes Haus ist wie ein Ozeandampfer, immer braucht es irgendwo den ersten Offizier«, ergänzte ihr Mann.

»Schönes Bild«, nickte Thomas Koch.

Elvira Senn nahm sich vor, mit Simone über ein paar Grundregeln für Gastgeberinnen zu sprechen.

Das Personal begann mit dem Service des zweiten Ganges, als es an die Scheibe der Verandatür klopfte.

Thomas warf Trentini einen Blick zu. Dieser ging zur Tür, schob den Vorhang etwas beiseite und spähte hinaus. Dann ging er zu Thomas Koch und flüsterte ihm etwas zu.

Während die beiden noch berieten, was zu tun sei, begann sich am Vorhang eine Tür abzuzeichnen, die sich nach innen öffnete. Etwas bewegte sich hinter dem Vorhang. Plötzlich teilte er sich.

Auf trat Konrad Lang. Klatschnaß und verdreckt, die Hosenbeine über den nackten Füßen hochgekrempelt. Er schaute sich in der sprachlosen Runde um und ging auf Elvira Senn zu.

Vor ihrem Stuhl blieb er stehen und flüsterte: »Mama Vira, Mama Anna soll weggehen. Bitte!«

Thomas Koch gab am meisten zu denken, wie Elvira reagiert hatte. Er saß zu ihrer Linken und war außer ihr der einzige, der verstanden hatte, was Konrad sagte. Sie war schneeweiß geworden, und er mußte sie ins »Stöckli« begleiten, wo sie sich sofort aufs Sofa des Salons legte und die Augen schloß. Er breitete eine Decke über sie. »Soll ich Dr. Stäubli rufen?«

Sie gab keine Antwort.

»Wo ist seine Nummer?«

»Im Arbeitszimmer auf dem Pult.«

Als Thomas zurückkam, war er etwas gereizt. »Seine Frau sagt, er sei schon zu Koni gerufen worden. Ich habe ihn im Gästehaus erreicht und ihn über die Prioritäten ins Bild gesetzt.«

Während sie auf den Arzt warteten, fragte Thomas: »Was hat dich so erschreckt?«

Elvira schwieg.

»Mama Vira, Mama Anna soll weggehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das hat er doch gesagt?«

»Das habe ich nicht gehört.«

Es läutete. Thomas Koch stand auf und ließ Dr. Stäubli herein.

Schwächeanfälle bei Diabetikern sind oft Anzeichen dafür, daß sich deren Stoffwechsellage verändert hat. Nachdem Dr. Stäubli Elviras Blutdruck und Puls gemessen hatte, kontrollierte er ihren Blutzucker und stellte eine leichte Unterzuckerung fest, eine Komplikation, die meistens auf Diätfehler oder Fehler bei der Dosierung des Insulins zurückzuführen ist. Aber da er Elvira Senn als sehr disziplinierte und exakte Patientin kannte und er von seiner Visite bei Konrad Lang über dessen Auftritt in der Villa informiert war, tippte er auf eine andere Ursache.

»Ist Ihnen der Auftritt unseres Patienten sehr nahe gegangen?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Wenn Sie mich konsultiert hätten in der Frage Konrad Lang, hätte ich Ihnen entschieden abgeraten.«

»Wie konnte ich wissen, daß die ihn nachts frei herumlaufen lassen?«

»Es ist nicht nur dieser Zwischenfall. Er ist auch sonst eine Belastung. Als Ihr Arzt muß ich Ihnen Aufregungen verbieten.«

»Soll ich ihn rauswerfen? Wie sieht denn das aus?«

»Versuchen Sie wenigstens, ihn zu vergessen. Tun wir so, als ob er nicht existieren würde.«

Elvira lächelte. »Wie geht es ihm?«

Dr. Stäubli schüttelte den Kopf. »Er war aufgewühlt und stark unterkühlt. Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Ich hoffe, er schläft jetzt, und wenn wir Glück haben, kommt er ohne Lungenentzündung davon.«

Er hielt ihr ein Traubenzuckerbonbon hin. »Lutschen Sie das, und in einer Stunde noch eines. Morgen früh komme ich wieder, und dann schauen wir, ob wir an der Insulineinstellung etwas ändern müssen.«

Elvira Senn schälte das Bonbon aus dem Zellophan. »Wie lange dauert es, bis man stirbt an Alzheimer?«

»Zwischen einem und sechs Jahren, je nach Verlauf und Pflege. Konrad Lang kann siebzig werden, aber es könnte auch sein, daß er die nächsten Weihnachten nicht mehr erlebt. Oder daß er bis dahin das Endstadium erreicht hat.«

Dr. Stäubli stand auf. »Falls er das hier überhaupt überlebt. Ich schaue jetzt noch einmal nach ihm. Danach können Sie mich die ganze Nacht zu Hause erreichen.«

Elvira setzte sich in der Recamière auf.

»Bleiben Sie, ich finde den Weg.« Dr. Stäubli gab ihr die Hand. »Bis morgen, gegen neun.«

Elvira Senn stand dennoch auf und brachte ihn zur Tür. Dann ging sie zum Telefon und wählte Schöllers Nummer.

Wenn Schöller seine Gefühle für Elvira Senn beschreiben müßte, würde das Wort »Liebe« nicht vorkommen. Aber mit Verehrung, Zuneigung und Gehorsam hatte es schon etwas zu tun. Und auch – warum sollte er es vor sich verheimlichen – mit Erotik. Er war ein alleinstehender Mann Ende Fünfzig, der sich immer zu älteren, dominierenden Frauen hingezogen gefühlt hatte. Eine Eigenschaft, die ihre vielschichtige Beziehung um eine – wenn auch nicht sehr wichtige – Facette bereicherte. Elvira mochte achtzig sein, aber sie war eine attraktive und aufregend mächtige Frau.

Schöller war der seltene, aber – nach seinen normalerweise zuverlässigen Informationen – einzige Liebhaber von Elvira Senn, was ihn bis zu einem gewissen Grad auch zu ihrem Vertrauten machte. Soweit eine derart eigenständige und kalkulierende Frau zu etwas wie Vertrauen überhaupt imstande war. Er wußte, daß sie ihm nur so viel mitteilte, wie ihr dienlich schien, und ihn für ihre Zwecke benützte. Was den letzten Punkt anging, unterschied er sich von den meisten Leuten in ihrer Umgebung nur darin, daß er es erregend fand.

Auch wenn Schöller in dieser seltsamen Beziehung nicht gerade der dominierende Teil war, auf seinen Beschützerinstinkt konnte Elvira sich verlassen. Was sie ihm an diesem späten Abend bleich und mit schwacher Stimme detailliert berichtete, brachte ihn gegen Konrad Lang auf und gegen alle, die ihn ihr zumuteten.

Es war weit nach Mitternacht, das Thermometer war tief unter Null gefallen, als Schöller das »Stöckli« verließ. Voller Haß: Elvira hatte ihn sorgfältig geschürt.

Die Keller großer Häuser sind wie alle Keller: Sie riechen nach Waschpulver, Moder und Heizöl und sind voller Dinge, die nie jemand je wieder brauchen wird. Ihre Lichtschalter leuchten, und wenn man sie betätigt hat, geht das Licht nach ein paar Minuten von selbst wieder aus.

Der Heizungsraum der »Villa Rhododendron« war nicht schwer zu finden. Er lag gleich neben der Kellertreppe, und aus seiner Tür drang ein leises, gleichmäßiges Vibrieren. Sie war unverschlossen. Die Heizanlage war in den zwanzig Jahren seit ihrem Einbau immer wieder modernisiert und verändert worden. Sie bestand aus einem großen Kessel, einem Brenner, einem Reservebrenner, einer Umwälzpumpe, einer Reserve-Umwälzpumpe und einem Gewirr von isolierten Rohren, die alle Gebäude des Grundstücks zentral beheizten. Dort, wo die Rohre den Heizungsraum verließen, waren sie ordentlich aufgereiht, mit Ventilen und blauen Kunststoffschildern versehen. »Garage« stand darauf oder »Turm«, »Stöckli«, »Gärtnerei«, »Westflügel« oder »Dach«. Die »Villa Rhododendron« war zentralheizungstechnisch in Module aufgeteilt, die nach Bedarf ein- oder ausgeschaltet werden konnten.

Das Licht im Heizungsraum ging aus. Schöller tastete sich zum gelblich leuchtenden Lichtschalter. Es wurde wieder hell im Raum. Er ging zurück zu den Ventilen und drehte eines zu. »Gästehaus« stand auf dem Schild.

Sophie Berger machte sich keine Illusionen darüber, daß ihre beruflichen Wiedereinstellungspläne durch diese Panne einen empfindlichen Rückschlag erlitten hatten. Selbst wenn man ihr zugute hielt, daß der Fluchtversuch raffiniert eingefädelt war, würde der private Pflegedienst wohl in Zukunft auf ihre Dienste verzichten. Dr. Wirth, den man aus einem Restaurant weggeholt hatte, in welchem man um diese Jahreszeit vier Wochen im voraus reservieren mußte, hatte nicht den Eindruck erweckt, als würde er ihr noch eine Chance geben wie damals, nach dem ersten Zwischenfall mit Konrad Lang.

Er hatte ihr ziemlich barsch gesagt, sie solle den Patienten am Monitor überwachen und ihn oder Dr. Stäubli benachrichtigen, wenn er erwachen sollte. Auf keinen Fall solle sie sein Zimmer betreten.

Diese Auflage befolgte sie gern. Sie verspürte nicht die geringste Lust, dem Alten noch einmal zu begegnen. Daß er sie in solche Schwierigkeiten brachte, nahm sie ihm persönlich übel. Sie hatte früher immer einen guten Draht zu verwirrten Patienten gehabt. Besonders zu männlichen. Was konnte sie dafür, daß sie ihn an jemanden erinnerte?

Und so saß sie im Stationszimmer und starrte auf den Monitor. Konrad Lang lag auf dem Rücken und schlief mit weit aufgerissenem Mund. Vielleicht könnte sie eine Umschulung als Zahnarztgehilfin machen? Oder vielleicht ganz weg aus dem Medizinischen. Vielleicht in einer Bar arbeiten, wo die alten Knacker nicht Reißaus nahmen, wenn sie sie sahen.

Und wo es nicht so kalt war wie bei reichen Leuten. Sie stand auf, holte eine Decke, setzte sich in den einzigen bequemen Sessel, deckte sich zu und behielt den Monitor im Auge.

Sie erwachte, weil sie fror. Es war beinahe sechs Uhr. Am Monitor schlief Konrad Lang noch immer mit weit offenem Mund. Nur hatte er jetzt die Bettdecke weggestrampelt und sein Nachthemd war hochgerutscht.

Sophie Berger stand auf und ging leise ins Schlafzimmer hinunter. Sie nahm die Decke vom Boden und deckte Konrad Lang zu. Er war schweißbedeckt, obwohl das Zimmerthermometer nur zwölf Grad anzeigte.

Sie ging zurück ins Stationszimmer und rief Herrn Hugli in der Gärtnerei an. Es dauerte eine Weile, bis er sich meldete.

»Hier ist Berger, die Nachtschwester vom Gästehaus. Ist etwas mit der Heizung?«

Die Heizung war eigentlich nicht Herrn Huglis Gebiet. Aber um sechs Uhr morgens fühlte er sich auch dafür zuständig. Er ging in den Heizungsraum und fand nach einiger Zeit heraus, daß das Ventil der Verteilerleitung zum Gästehaus zugedreht war. Er öffnete es und rief die Nachtschwester zurück. »Alles in Ordnung«, meldete er. Er wollte niemanden in Schwierigkeiten bringen.

Als kurz nach sieben die Tagesschwester Irma Catiric eintraf, war es etwas wärmer geworden im Gästehaus. Trotzdem war ihre erste Frage: »Ist etwas mit der Heizung? Hier ist es kalt wie in einem Kühlhaus.«

»Es sei alles in Ordnung, ich habe mich erkundigt.«

Schwester Irma ging ins Schlafzimmer, kam kurze Zeit später wieder heraus, ging wortlos zum Telefon und wählte Dr. Stäublis Nummer.

»Pneumonie«, sagte sie nur. Dann legte sie wieder auf.

»Sind Sie eigentlich blind?« fauchte sie Sophie Berger im Vorbeigehen an.

»Man hat mir verboten, das Zimmer zu betreten«, wollte sie sagen. Aber Schwester Irma war schon wieder in Konrad Langs Zimmer verschwunden.

Obwohl Konrad Lang körperlich in keinem schlechten Zustand war, warf ihn die Lungenentzündung weit zurück.

Seine Verwirrtheit nahm durch den Sauerstoffmangel noch zu, die Antibiotika schwächten ihn, er aß nicht und mußte den ganzen Tag an der Infusion hängen. Er war nur mit vereinten Kräften aus dem Bett zu bringen, blieb passiv bei der Physiotherapie und war kaum ansprechbar. Nur wenn Schwester Ranjah kam, legte er die Hände unter dem Kinn zusammen und lächelte.

Dr. Stäubli kam jeden Tag, untersuchte ihn und redete ihm gut zu. »Essen Sie wieder, Herr Lang, stehen Sie auf, bewegen Sie sich. Wenn Sie sich nicht selbst gesund machen, kann ich es auch nicht.« Elvira, der er nach jeder Visite bei Konrad Bericht erstatten mußte, erklärte er: »Wenn er überlebt, dann um einen hohen Preis. Das ist typisch bei Alzheimer, das geht in Stufen. Entweder in vielen kleinen. Oder, wie bei ihm, in wenigen großen.«

»Sagt er etwas?« wollte sie jedes Mal wissen. Wenn er verneinte, schien sie erleichtert.

Auch Simone fragte sie: »Sagt er etwas? Redet ihr miteinander?«

Simone schüttelte den Kopf. »Vielleicht solltest du ihn einmal besuchen. Du könntest versuchen, mit ihm über die Vergangenheit zu sprechen. Ich weiß nichts darüber.«

»Die Vergangenheit ist Vergangenheit«, sagte Elvira.

»Nicht bei dieser Krankheit«, antwortete Simone.

Vielleicht wäre Konrad Lang gestorben, wenn Schwester Ranjah nicht gewesen wäre. Wenn die Diätköchin nach einem weiteren erfolglosen Versuch, ihn mit einem seiner Lieblingsmenüs zu locken, entnervt aufgegeben hatte, begann sie ihn heimlich mit kleinen Leckerbissen zu füttern, die sie von zu Hause mitbrachte: in Honig eingelegte Mandeln, scharfe Reisbällchen mit Koriander, kleine Stücke kalten, gerösteten Rindfleischs mit Zitrone und Zwiebeln – alles von ihren langen, schmalen Fingern direkt in seinen Mund gesteckt. Dazu plapperte sie mit ihm in einem Kauderwelsch aus Tamil, Singhalesisch und Englisch und herzte und küßte ihn wie einen Säugling.

Schwester Ranjah erzählte niemandem von ihren Therapieerfolgen. Sie hatte in früheren Fällen oft schlechte Erfahrungen gemacht, weil ihre Methoden fast immer gegen den Buchstaben hiesiger Spitalordnungen verstießen.

So war es auch reiner Zufall, daß Simone davon erfuhr. Sie hatte einen Tag voller Verpflichtungen hinter sich und konnte Konrad ausnahmsweise erst besuchen, als es schon dunkel war. Als sie das Gästehaus betrat, hörte sie das Geplapper aus Konrads Schlafzimmer. Sie öffnete leise die Tür und sah, wie Schwester Ranjah den glücklichen Konrad fütterte.

Als Konrad sie sah und erschrak, strich ihm Ranjah über das Haar und sagte: »Don’t worry, Mama Anna is not here.«

Dann erst sah sie, daß Simone in der Tür stand.

»Wer ist Mama Anna?« fragte Simone Urs noch am gleichen Abend. »Es ist jemand, vor dem sich Konrad fürchtet.«

Urs hatte keine Ahnung.

Ihr Schwiegervater half weiter. »Seine Mutter hieß Anna. Aber warum sollte er sich vor ihr fürchten?«

»Hatte sie ihn nicht als Kind zu einem Bauern abgeschoben?«

»Deswegen kann man jemanden hassen. Aber fürchten?«

»Vielleicht wissen wir nicht alles.«

Thomas Koch zuckte die Schultern, stand auf und entschuldigte sich. Ein alternder Playboy zwischen zwei Ehen.

Simone konnte nicht schlafen. Mitten in der Nacht kam ihr eine Idee. Sie stand auf, ging hinunter in die Halle und wartete, bis ihr Schwiegervater nach Hause kam. Als er endlich mit glasigen Augen hereinpolterte, war sie im Sessel eingeschlafen. Sie schreckte auf und fragte: »Hatte sie rote Haare?«

»Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n«, sang er.

»Konrads Mutter, meine ich.«

Thomas brauchte einen Moment, bis er ihr folgen konnte. Dann lachte er. »Rot wie der Teufel.«

»Fotos von früher? Ich habe keine Fotos von früher. Darauf sieht man nur, wie alt man ist.« Elvira saß in ihrem Frühstückszimmer und gab Simone zu verstehen, daß sie störte. »Wozu brauchst du sie?«

»Ich will sie Konrad zeigen. Manchmal kann man damit einen Alzheimerpatienten aus seiner Apathie holen.«

»Ich habe keine.«

»Jeder hat irgendwelche Fotos von früher.«

»Ich habe keine.«

Simone gab auf. »Kannst du dir vorstellen, weshalb er sich vor seiner Mutter fürchtet?«

»Vielleicht, weil nichts Rechtes aus ihm geworden ist«, lächelte Elvira.

»Was war sie für eine Frau?«

»Die Art Frau, die ihr Kind vor einem Nazidiplomaten versteckt, damit er sie heiratet.«

»Aber sie war einmal deine beste Freundin.«

»Anna ist schon lange tot, ich will nicht über sie reden.«

»Wie ist sie gestorben?«

»Bei einem Luftangriff auf einen Zug, soviel ich weiß.«

»Und sie hatte rote Haare.«

»Was spielt das für eine Rolle, was sie für Haare hatte?«

»Konrad hatte Angst vor der Aushilfsschwester. Und die hat rote Haare.«

»Anna war blond.«

»Thomas sagt, rot wie der Teufel.«

»Thomas ist eben auch ein bißchen vergeßlich geworden.«

Montserrat war erst seit vier Wochen in der Villa beschäftigt. Sie war eine Nichte von Candelaria, die es immer wieder verstand, Mitglieder ihrer vielköpfigen Familie in Kochs Diensten unterzubringen. Montserrat war als Zimmermädchen eingestellt.

»Heute war die Señora im Büro des Don«, erzählte sie Candelaria beim Mittagessen. »Sie hat etwas in seinem Schreibtisch gesucht.«

»Hast du geklopft?«

»Ich dachte, es sei niemand da, weil ich gesehen habe, wie er weggegangen ist.«

»Man klopft immer.«

»Auch wenn man sicher ist, daß das Zimmer leer ist?«

»Auch wenn vom Haus nichts mehr steht außer der Tür.«

Montserrat war neunzehn und hatte noch viel zu lernen.

Urs war auch keine große Hilfe. Simone schnitt das Thema beim Mittagessen an, das er ausnahmsweise in der Villa einnahm.

»Weshalb brauchst du alte Fotos?« fragte er gereizt. Er ahnte, daß es wieder etwas mit ihrem Hobby Konrad Lang zu tun hatte.

»Die Fachleute empfehlen uns, daß wir mit ihm Fotos aus seiner Vergangenheit anschauen, als Anknüpfungspunkt an die Gegenwart. Aber so was scheint es in eurer Familie nicht zu geben.«

»Elvira hat Regale voller Fotoalben.«

»Sie gibt mir keine. Sie sagt, sie wisse nicht, wo sie sind.«

Er lachte ungläubig. »In ihrem Arbeitszimmer, in der Bücherwand. Jede Menge.«

Simone wartete bis drei Uhr nachmittags, die Zeit, in der Elvira gewöhnlich ihre Korrespondenz erledigte. Sie ging ins »Stöckli« und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.

»Ja?« antwortete Elvira unwirsch. Simone hatte eines der Tabus des Hauses gebrochen. Wenn sich Elvira im Arbeitszimmer aufhielt, war sie für niemanden zu sprechen.

Simone trat ein. »Urs sagte, daß du deine Fotos hier aufbewahrst. Vielleicht kann ich mir ein paar ausleihen.«

Elvira nahm ihre Brille ab. »Man merkt, daß Urs schon lange nicht mehr hier war. Oder siehst du irgendwo Fotos?« Sie deutete auf das Büchergestell neben ihr.

Darauf standen ein paar Ordner, eine Reihe nach Jahrgängen geordneter Geschäftsberichte der Koch-Werke, ihrer Diversifikationen und anderer Unternehmen, ein achtzehnbändiges Lexikon und je ein gerahmtes Foto von Elvira mit ihrem ersten und ihrem zweiten Mann.

Kein einziges Foto sonst, kein einziges Fotoalbum.

»Vielleicht soll eben niemand sehen, wie sie immer jünger geworden ist«, lachte Thomas Koch, als Simone ihm davon erzählte.

Sie traf ihn in bester Laune. Er hatte sich soeben entschlossen, die Feiertage auf der »Why not?«, der Jacht der Barenboims, zu verbringen, die mit einer amüsanten Clique in der Karibik kreuzte. Er würde noch – ein ungeschriebenes Gesetz – Weihnachten in der Villa verbringen und am nächsten Morgen nach Curaçao fliegen und sich dort einschiffen. In Begleitung von Salomé Winter, dreiundzwanzig.

So war er denn auch sehr hilfsbereit und sofort einverstanden, Simone Fotos zur Verfügung zu stellen, »schachtelweise«, wenn sie wolle.

Doch als er zielsicher die Schublade mit den Fotos öffnete, war sie leer. Obwohl er hätte schwören können, daß sie dort waren.

Er nahm sich sogar etwas Zeit, an anderen möglichen Orten zu suchen. Die Fotos blieben unauffindbar.

Heiligabend wurde in der »Villa Rhododendron« im engsten Familienkreis gefeiert. In der Bibliothek stand ein großer Christbaum mit Schmuck, der noch aus Wilhelm Kochs erster Ehe stammte: durchsichtige Glaskugeln, die schillerten wie Seifenblasen, gläserne Eiszapfen und Engelchen mit Gesichtern wie Modepüppchen der Jahrhundertwende. Die Zweige waren mit roten Äpfeln an Seidenbändeln beschwert und mit Silberfäden und Engelhaar behängt. Alle Kerzen waren rot. Auf der Spitze des Baumes steckte ein goldener Engel, der mit ausgebreiteten Armen die Menschen segnete, die guten Willens sind.

Es gehörte zur Tradition, daß der älteste anwesende Mann aus der Weihnachtsgeschichte vorlas. Das war seit vielen Jahren Thomas Koch.

»Und der Engel des Herrn trat zu ihnen«, las er feierlich, »und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.«

Anschließend setzte sich Thomas ans Klavier und spielte sein eingerostetes Weihnachtspotpourri.

Elvira lauschte gerührt, Urs dachte an die fällige Kapitalerhöhung im Bereich Elektronik, Thomas an Salomé Winter, dreiundzwanzig, und Simone an Konrad Lang.

Konrad Lang saß mit Schwester Ranjah im Wohnzimmer des Gästehauses. Kein Mensch ahnte, woran er dachte.

Am Morgen des Weihnachtstages klopfte Simone an die Tür ihres Schwiegervaters, fest entschlossen, ein Weihnachtswunder zu erwirken.

Thomas Koch wand sich, fand tausend Ausflüchte, protestierte und bettelte. Aber Simone ließ nicht locker.

Vielleicht war es die Vorfreude auf die Karibik, vielleicht der Armagnac 1875, dem er zu Ehren des Geburtsjahres seines Vaters zugesprochen hatte, vielleicht war es seine Schwäche, jungen, hübschen Frauen keine Bitte abschlagen zu können, oder vielleicht war es nur die Rührung, die ihn bei der Vorstellung befiel, zu so einer großen Geste fähig zu sein; jedenfalls tauchte er vor seiner Abreise bei Konrad Lang im Gästehaus auf.

Als er ins Zimmer kam und Konrad reglos am Fenster sitzen und tief in sich hineinstarren sah, bereute er seinen Entschluß bereits. Dennoch setzte er sich zu ihm. Simone ließ die beiden allein.

»Urs hat Glück mit seiner Frau«, sagte Thomas.

Konrad verstand nicht.

»Simone, die eben rausgegangen ist.«

Konrad erinnerte sich nicht.

»Ich schiffe morgen auf der ›Why not?‹ ein.«

Konrad reagierte nicht.

»Die Jacht der Barenboims«, half Thomas.

»So«, sagte Konrad.

»Brauchst du etwas? Soll ich dir etwas bringen?«

»Was?«

»Irgend etwas.«

Konrad überlegte. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, wenigstens so weit, daß er eine Antwort geben konnte. Aber dann, als er das Gefühl hatte, es könnte ihm gelingen, wußte er nicht mehr, worauf er antworten sollte.

»Soso«, sagte er schließlich.

Thomas Koch war kein geduldiger Mann. »Enfin bref: Wenn dir etwas in den Sinn kommt, laß es mich wissen.«

»D’accord«, antwortete Konrad.

Thomas setzte sich wieder. »Tu préfères parler français?«

»Si c’est plus facile pour toi.«

Sie unterhielten sich auf französisch über Paris. Koni klärte Thomas darüber auf, wo man neuerdings die besten Austern ißt bei den Hallen, und wollte wissen, ob er »Eclair« diese Saison in Longchamps laufen lasse.

Die Hallen waren 1971 abgerissen worden, und Thomas besaß seit 1962 keine Rennpferde mehr.

Der Trick mit dem Französisch funktionierte nicht bei Simone. Es war, als ob Konrad diese Sprache, die ihm Zugang zu einem Teil seiner Erinnerung verschaffte, nur mit Thomas Koch in Zusammenhang brachte.

Aber am Abend erlebte sie ihr zweites Weihnachtswunder.

Simone hatte sich in der Villa ein Zimmer nach ihrem Geschmack eingerichtet. Viel Geblümtes an Sesseln, Recamière, Vorhängen und Kissen; viel Spitze und Trockengestecke und ein künstlicher Duft von Sommernachmittagen, der mehreren Schalen mit getrockneten Blütenblättern entströmte. Das »Laura-Ashley-Zimmer« nannte es Urs spöttisch und machte keinen Hehl daraus, daß er es abscheulich fand. Aber für Simone war es das einzige Refugium in diesem großen Haus mit seiner Mischung aus düsterem Gründerstil und strengem Bauhaus.

Als Simone ins »Laura-Ashley-Zimmer« kam, lag ein gelbes Kuvert auf ihrem Schreibtischchen.

»Habe doch noch ein paar Fotos gefunden. Gott, sind wir alt geworden! Viel Glück. Thomas«, war hastig auf ein Blatt Papier gekritzelt.

Die Bilder glichen sich: unbeschwerte junge Menschen in der Skikleidung der Fünfzigerjahre an einem langen Tisch in einer Skihütte. Unbeschwerte junge Menschen in Badeanzügen der Sechzigerjahre an der Reling einer Jacht. Unbeschwerte junge Menschen in Abendkleidung der Fünfzigerjahre mit Silvesterhütchen und Papierschlangen an einem langen Tisch. Unbeschwerte junge Menschen in Freizeitkleidung der Fünfzigerjahre im offenen Kabrio. Auf allen Fotos war Thomas Koch zu erkennen und auf den meisten auch Konrad Lang.

Konrad Lang reagierte auf die Fotos, wie Simone es sich erhofft hatte.

»Das war Silvester«, sagte er, als sie ihm das Bild der fröhlichen Festgesellschaft zeigte. »Im Palace.«

»In welchem Jahr?« fragte Simone.

»Im letzten.«

Beim Bild mit dem Kabrio zeigte er auf den Fahrer: »Der da ist Peter Court. 1955 ist er kurz hinter Dover frontal mit einem Viehtransporter zusammengestoßen. Kam nach drei Monaten aus Europa zurück und hatte Probleme mit dem Linksverkehr. Sechsundzwanzig.«

Beim Foto aus der Skihütte schüttelte er verwundert den Kopf: »Serge Payot! Daß der noch lebt.«

Dann griff er zum Gruppenbild auf der Jacht und lächelte. »Die ›Tesoro‹. Claudio Piedrini und sein Bruder Nunzio. Und…«

Er zerriß das Foto in kleine Fetzen und murmelte dazu: »Dieser Sauhund. Dieser Sauhund. Dieser verdammte Sauhund.«

Dann schloß er den Mund und öffnete ihn nicht mehr während des ganzen Besuches.

Als Simone später das Foto zusammenklebte, fiel ihr nichts Besonderes auf. Thomas hatte den Arm um ein Mädchen gelegt, wie auf allen anderen Fotos auch. Konrad fehlte.

Koni erwachte mitten in der Nacht und wußte, daß er Tomi haßte. Er wußte zwar nicht, warum, aber das Gefühl des Hasses erfüllte ihn völlig. Daß es sich gegen Tomi richtete, wußte er deshalb, weil er an alle Menschen in seinem Leben denken konnte – an Elvira, an Edgar Senn, ihren Mann, an Joseph Zellweger vom Zellweger-Hof und seine hagere Frau, an den Klavierlehrer Jacques Latour –, ohne daß er mehr als etwas Abneigung oder etwas Angst verspürte. Bei den Piedrinis war es schon etwas mehr als Abneigung, eher so was wie Abscheu, aber nichts im Vergleich zu Tomi.

Wenn er an Tomi dachte, setzte sein Herz für einen Moment aus, und er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß und er nur noch einen Wunsch hatte: den Sauhund kaputtzumachen.

Er richtete sich auf und stieg aus dem Bett. Sofort ging die Tür auf, und aus dem hellen Spalt sang Schwester Ranjahs Stimme: »Mama Anna isn’t here.«

»I’ll kill the pig«, stieß Konrad hervor.

Schwester Ranjah machte das Licht an und erschrak über seinen Gesichtsausdruck. Sie ging auf ihn zu und legte den Arm um ihn.

»Which pig?«

Konrad überlegte. Which pig? Er wußte es nicht mehr.

Am nächsten Tag kam Simone wieder mit den Fotos. »Das war Silvester im Palace. 1959«, sagte er. Und: »Peter Court! Ich dachte, der ist verunglückt.« Und: »Ach, Serge Payot. Und Tomi, dieser Sauhund.«

»Warum ist Tomi ein Sauhund?« fragte Simone.

»Das wissen alle«, antwortete er.

Am nächsten Tag reiste Simone mit schlechtem Gewissen nach Bad Zürs, um mit Urs (»Erinnerst du dich? Ich bin’s, Urs, dein Mann!« hatte er ihr kürzlich zugerufen, als sie vom Gästehaus zurückgekommen war) Ski zu fahren und Silvester zu feiern. Sie gab Schwester Ranjah die Fotos, damit sie sie mit ihm anschauen konnte.

Als sie zurückkam, hatte seine Lethargie etwas anderem Platz gemacht.

Es kam ihr vor wie Wut.

Schwester Ranjah bestätigte diesen Eindruck. Sie erzählte, daß er unruhiger sei in der Nacht, daß er Alpträume habe, daß er manchmal erwache voller Haß.

»Dann werden wir ihm die Fotos nicht mehr zeigen«, sagte Simone.

Schwester Ranjah sah sie überrascht an: »Aber dann nehmen Sie ihm ja ein Gefühl weg.«

So zeigte Simone ihm die Fotos weiterhin.

»Was für Fotos?« wollte Elvira Senn wissen.

Dr. Stäubli hatte ihr bei seinem Bericht über Konrads Zustand in einem Nebensatz gesagt: »Er scheint weiter abzugleiten. Auf die Fotos reagiert er praktisch nicht mehr.«

Dr. Stäubli beschrieb ihr die Fotos, die Simone mit Konrad wieder und wieder angeschaut hatte. Zuerst mit einigem Erfolg, in letzter Zeit aber mit immer deutlicheren Anzeichen dafür, daß er sich nicht erinnern konnte.

»Und der Erfolg, wie hatte der sich geäußert?«

»Es hat ihn angeregt. Er kam ins Plaudern. Er brachte zwar die Zeiten durcheinander, aber das gehört zum Krankheitsbild.«

»Was hat er erzählt?«

»Von den Leuten auf den Fotos, von den Orten, wo sie aufgenommen wurden. Ganz erstaunlich zum Teil. Vierzig Jahre alte Fotos, immerhin.«

»Und jetzt reagiert er nicht mehr darauf?«

»Kaum mehr. Der Teil des Gehirns, in dem er diese Erinnerungen aufbewahrt, scheint jetzt auch betroffen zu sein.«

Dr. Stäubli hätte gerne gewußt, warum das Elvira zu beruhigen schien.