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Hoffentlich ist Urs nicht zu Hause, dachte Konrad Lang und drückte auf die Klingel. Früher hätte er gehört, wie es weit weg in der Villa läutete, und noch früher, als der schmiedeeiserne Glockenzug noch in Betrieb war, wie es unter dem Vordach über der Haustür schepperte. Aber jetzt war er bald fünfundsechzig und sein Gehör nicht mehr so fein wie einst.

Deswegen hörte er auch die Schritte des Paares nicht, das aus einem Geländewagen gestiegen war und jetzt auf ihn zukam. Beide trugen Reitkleidung und lehmverschmierte Stiefel. Der Mann war Ende Zwanzig, groß und gutaussehend, wenn man vom Kinn absah, das etwas zum Fliehen neigte.

Die Frau war jünger, nicht viel über zwanzig, brünett und eher niedlich als schön. Sie schaute ihren Begleiter fragend an. Der hielt den Zeigefinger an die Lippen.

Sie näherten sich leise dem älteren Herrn, der am Gartentor stand und wartete. Er trug einen Burberry und einen grünen Filzhut, der ihm von weitem etwas Junkerhaftes verlieh.

Einer der vielen Freunde des Hauses, nahm die junge Frau an, und spielte mit. Auf Zehenspitzen schlichen sie sich heran.

Konrad Lang legte das Ohr ans Tor und horchte angestrengt. Sind das Schritte?

Die beiden hatten ihn erreicht, und der Mann schlug mit der flachen Hand hart auf das Torblech.

»Hallo, Koni, brauchst du Geld?« schrie er.

Konrad Lang hatte das Gefühl, in seinem Kopf sei etwas explodiert. Er drückte beide Hände an die Ohren. Sein Gesicht war verkniffen, als erwarte er einen weiteren Schlag. Jetzt erkannte er den jungen Mann.

»Urs«, sagte er leise, »du hast mich erschreckt.«

Er bemerkte die junge Frau, die konsterniert neben Urs Koch stand, nahm den Hut ab und strich sich über das graue, aus der hohen Stirn gekämmte Haar. Er wirkte, wenn auch auf eine etwas heruntergekommene Art, distinguiert.

»Konrad Lang.« Er streckte ihr die Hand hin.

Sie schüttelte sie teilnahmsvoll. »Simone Hauser.«

»Urs und ich sind alte Freunde. Er meint es nicht so.«

Urs hatte inzwischen das Tor aufgeschlossen. Es knackte in der Gegensprechanlage. »Ja?« sagte eine Frauenstimme mit Akzent. »Wer ist da?«

»Niemand, Candelaria«, antwortete Urs Koch. Er hielt Simone das Tor auf und kramte in der Tasche seiner Reithose. Als Simone sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie Urs dem alten Herrn eine zerknitterte Note zusteckte, bevor er ihm das Tor vor der Nase zuschlug.

Der Zusammenstoß mit Urs hatte auch sein Gutes: Es waren hundert Franken dabei herausgesprungen. Vielleicht, weil Urs die rüde Attacke leid tat, oder vielleicht, weil er seine neue Freundin beeindrucken wollte, oder vielleicht einfach nur, weil er in der Eile keinen anderen Schein fand. Jedenfalls waren hundert Franken eine gute Ausbeute. Normalerweise wäre er bei Urs Koch leer ausgegangen.

Bei Tomi wohl auch. Außer, er hätte ihn in einer seiner sentimentalen Launen angetroffen. Aber die waren in letzter Zeit seltener geworden. Oder Konrads Timing schlechter. Meistens war Tomi gereizt, wenn Konrad auftauchte. Er ließ sich verleugnen oder schickte ihn zum Teufel. Über die Gegensprechanlage oder, im schlimmeren Fall, persönlich am Tor.

Normalerweise öffnete ihm jemand vom Personal. Wenn er Glück hatte, Candelaria, die ihm ab und zu zwanzig oder fünfzig Franken lieh. Seine Schulden bei ihr betrugen ein paar hundert Franken, von denen er hie und da am Wochenanfang aus seinem Taschengeld ein paar kleinere Scheine zurückzahlte. Als Geste des guten Willens und aus taktischen Gründen, für das nächste Mal.

Mit hundert Franken kam man in der Bar des Grand Hotel des Alpes zwar nicht sehr weit, aber man wurde hier wie ein Mensch behandelt, und das brauchte Konrad Lang im Moment. Die Barfrau, die am Nachmittag Dienst hatte, hieß Charlotte und nannte ihn Koni, wie eine alte Freundin. Sie hätte auch das Alter, um ihn noch aus den Zeiten zu kennen, in denen er hier manchmal die Turmsuite bewohnte. Also, Tomi und er. Also, Tomi die Turmsuite und er das Zimmer direkt darunter. Aber damals, hatte sie ihm erzählt, hatte sie es noch nicht nötig gehabt zu arbeiten. Da war sie wie er: nicht reich, aber unabhängig.

»Pröschtli, Koni«, sagte sie, als sie ihm seinen Negroni brachte.

»Ein Negroni«, behauptete er immer, »ist das ideale Nachmittagsgetränk: sieht aus wie ein Apéro, wirkt aber wie ein Cocktail.«

Der, den Charlotte ihm jetzt brachte, war erst der zweite. Für drei würde es reichen, wenn man Charlottes Champagner-Flûtes mit einrechnete, die sie sich jedesmal auf sein Zeichen hin einschenkte und hinter der Bar neben den Aschenbecher stellte, in dem ihre »Stella Filter« verrauchte.

»Yamas«, sagte Konrad und hob das Glas an die Lippen. Sein rechtes Ohr hallte noch von Urs’ Schlag auf das Eisentor, und seine Hand zitterte mehr als sonst um diese Tageszeit.

Die Bar war fast leer, wie meistens am späteren Nachmittag. Charlotte verteilte versilberte Schälchen mit Salznüssen auf den Tischchen. Trübes Licht drang durch die Gardinen. Hinter der Bar neben der Kasse brannte schon eine Lampe, aus deren Lichtkegel der blaue Rauch von Charlottes vergessener Zigarette stieg. Roger Whittaker sang Smile, though your heart is aching, und vom Tischchen neben dem Piano klang ab und zu das Klappern der Teetassen der beiden Hurni-Schwestern, die dort, wie immer zu dieser Stunde, schweigend auf den Pianisten warteten.

Die Hurni-Schwestern waren weit über achtzig und vor einigen Jahren ins Grand Hotel des Alpes gezogen. So, wie andere Leute, die nicht zwölf Prozent einer Bierbrauerei geerbt haben, ins Altersheim ziehen. Beide waren hager und zerbrechlich, bis auf die unförmigen Beine in hautfarbenen Stützstrümpfen, die wie Bratwürste unter ihren großgeblümten Kleidern hervorschauten. Jedesmal, wenn sie feierlich die Bar betraten, fühlte sich Konrad Lang an etwas erinnert, das weit zurücklag. So weit, daß es kein Bild hervorrief, nur ein vertrautes, lange vergessenes Gefühl, das er nicht beschreiben konnte; aber es entlockte ihm immer ein freundliches Lächeln, welches von den Hurni-Schwestern jedesmal empört ignoriert wurde.

Konrad Lang nahm einen kleinen Schluck und stellte das Glas wieder auf das Tischchen. Der Negroni mußte reichen, bis der Pianist kam. Dann würde er noch einen bestellen. Und eine Flûte für Charlotte »mit einem Bier für den Mann am Klavier«. Dann müßte er sich entscheiden, ob er die übrigen zwanzig Franken in ein Taxi investieren oder das Tram nehmen und den Rest in ein paar ordinären Schnäpsen bei Barbara im Rosenhof anlegen sollte.

Es geschah nicht oft, daß eine von Urs Kochs Freundinnen Elvira Senn vorgestellt wurde. Sie waren alle vom gleichen Typ, und er wechselte sie so oft, daß Elvira sie nicht auseinanderhalten konnte. Aber in letzter Zeit hatte sie sich mehrmals nach »dieser Simone« erkundigt. Ein Zeichen dafür, daß es ihren Plänen dienen würde, wenn Urs eine festere Bindung einginge.

Als Rahmen für die Vorstellung hatte Elvira sich für den Nachmittagstee im kleinen Salon der Villa entschieden. Intim genug für einen ersten Eindruck, aber nicht so familiär wie ein Mittagessen und nicht so verbindlich wie ein Diner.

Urs und Simone, jetzt nicht mehr im Reitkostüm, saßen Hand in Hand auf einem ledernen Breuersofa. Thomas Koch schenkte Champagner in vier Gläser ein.

»Wenn es heißt ›zum Tee‹, ist damit der Rahmen gemeint, nicht das Getränk«, sagte er und lachte. Er stellte die Flasche in den Eiskübel zurück, reichte jedem ein volles Glas, nahm sich selbst eines und erhob es. »Worauf trinken wir?«

»Auf unser Wohl«, sagte Elvira, um Thomas zuvorzukommen, der wieder einmal drauf und dran war, etwas Voreiliges zu sagen. Offensichtlich war das heute nicht sein erstes Glas Alkohol, und seine Gefühle gegenüber der möglichen Schwiegertochter waren euphorisch. Wie gegenüber allen hübschen jungen Frauen.

Um der Stille, die auf das Anstoßen folgte, die Peinlichkeit zu nehmen, sagte Urs: »Als wir vom Reiten zurückkamen, stand Koni vor der Tür.«

»Was wollte er?« fragte sein Vater.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich den Westflügel und einen Bentley mit Chauffeur und eine nach oben offene Apanage. Gegeben habe ich ihm hundert Franken.«

»Vielleicht wollte er gar kein Geld. Vielleicht wollte er nur einen Besuch machen.«

»Er hat sich jedenfalls nicht beklagt.« Beide lachten.

Elvira schüttelte den Kopf und seufzte. »Ihr solltet ihm kein Geld geben. Ihr wißt, warum.«

»Simone hält mich sonst für einen Unmenschen«, schmunzelte Urs.

Simone fühlte sich angesprochen. »Ein bißchen leid kann er einem schon tun.«

»Koni ist ein tragischer Fall«, stellte Thomas Koch fest und schenkte Champagner nach.

»Aber Urs hat Sie über Herrn Lang aufgeklärt?« wollte Elvira wissen.

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich finde es bewundernswert, was Sie für diesen Menschen getan haben. Und immer noch tun, nach dem, was vorgefallen ist.«

»Er ist das Maskottchen meiner Großmutter.«

Thomas Koch verschluckte sich beinahe. »Ich dachte, Maskottchen seien Glücksbringer.«

»Sie hält sich eben einen Pechbringer. Sie war schon immer etwas exzentrisch.« Die Art, wie ihn Elvira anschaute, veranlaßte Urs, aufzustehen und sie versöhnlich auf die Stirn zu küssen.

Thomas Koch beugte sich zu Simone. »Koni ist schon recht, er säuft einfach zuviel.«

»Es will ihm einfach nicht in den Schädel, daß er kein Mitglied der Familie ist. Das ist sein Problem«, fügte Urs hinzu. »Er weiß nicht, wo seine Grenzen sind. Er gehört nun einmal zu den Menschen, denen man nicht den kleinen Finger geben darf. Deswegen ist es besser, man hält ihn auf Distanz.«

»Was nicht immer einfach ist, wie Sie heute wohl gesehen haben, Simone.« Thomas Koch griff nach einem silbernen Glöckchen und klingelte. »Sie nehmen doch auch noch etwas Tee?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie und schaute unsicher zu Urs. Als der nickte, nickte sie auch.

Als Thomas Koch die zweite Flasche Champagner öffnete, sagte Simone: »Es ist traurig, wenn jemand seinen letzten Stolz verliert.«

Thomas tat, als verstünde er sie falsch. »Keine Angst, nach drei Gläsern Champagner verliere ich meinen Stolz noch nicht.«

Vater und Sohn lachten. Simone wurde rot. Eine Frau wie geschaffen für den egozentrischen Urs, dachte Elvira Senn. Vielleicht etwas zu stark geschminkt mitten am Nachmittag, aber lieb, unkapriziös und nachgiebig.

Die Bar des Grand Hotel des Alpes hatte sich etwas gefüllt. Die Lampen über den Tischchen brannten jetzt, Charlotte nahm Bestellungen auf, und der Pianist spielte sein Cocktail-Repertoire. Die Hurni-Schwestern waren in Gedanken weit weg in einer anderen Zeit mit den gleichen Melodien. Konrad Lang stellte sich vor, er sei es, der spielte.

Im Sommer 1946 hatte er sich vorgenommen, ein berühmter Pianist zu werden. Elvira hatte ihren Stiefsohn in jenem Frühling aus dem Privatgymnasium genommen, nachdem ihr die Schulleitung schonend beigebracht hatte, daß dieser in der Sekundarschule besser aufgehoben wäre. Sie hatte ihn in ein teures Internat am Genfer See gesteckt, und Thomas hatte darauf bestanden, daß Konrad ihn begleite. Konrad, dem das Gymnasium keine Mühe bereitete, ging widerwillig mit.

Im »St. Pierre« war damals ein schöner Teil des Nachwuchses jener Schicht versammelt, die der Krieg reich oder nicht arm gemacht hatte. Das neue und das alte Geld aus dem, was von Europa übriggeblieben war, schickte seine Söhne in das Manoir aus dem 17. Jahrhundert, um sie auf ihre Aufgabe als zukünftige Elite vorzubereiten. Konrad wohnte dort mit Jungen zusammen, deren Namen er bisher nur als Motoren, Banken, Konzerne, Suppenwürfel und Dynastien gekannt hatte.

Im »St. Pierre« teilten sich jeweils vier Jungen ein Zimmer. Thomas’ und Konrads Zimmergenossen waren Jean Luc de Rivière, Sproß einer alten Bankierdynastie, und Peter Court, ein Engländer. Sein Vater hatte in den Dreißigerjahren die Court-Gasmaske patentieren lassen, die praktisch von allen Alliierten in Lizenz übernommen worden war.

»Von den Koch-Werken?« fragte Jean Luc Thomas, als sie zwischen ihren Koffern im Zimmer standen und sich die Hand gaben.

Thomas nickte und fragte zurück: »Von der Bank?«

Jean Luc nickte. Dann streckte er Konrad die Hand hin und schaute zuerst ihn und, als dieser zögerte, Thomas fragend an.

Thomas war ein loyaler Freund, solange er mit Konrad allein war. Aber sobald jemand auftauchte, den er beeindrucken wollte, wechselte er mit wehenden Fahnen die Seiten.

»Er ist der Sohn einer ehemaligen Hausangestellten«, erklärte Thomas. »Meine Mutter hilft ihm.«

Damit war auch die Frage geklärt, wer das Bett an der Tür erhielt.

Von da an wurde Konrad von allen Schülern mit gönnerhafter Höflichkeit behandelt. Nie – in seiner ganzen Zeit im »St. Pierre« – war er in eine ihrer vielen Intrigen verwickelt, und nie war er das Opfer ihrer grausamen Streiche. Sie hätten es ihm nicht deutlicher zu verstehen geben können, daß sie ihn nicht als ihresgleichen betrachteten.

Konrad versuchte alles. Er übertraf die Blasiertesten an Blasiertheit, die Coolsten an Coolness, die Unverfrorensten an Unverfrorenheit. Er machte sich lächerlich, nur um sie zum Lachen zu bringen, und er provozierte Strafen, nur um sie zu beeindrucken. Er kletterte über die Mauer und kaufte Wein im Dorf. Er besorgte Zigaretten und Sexmagazine. Er stand Schmiere bei den Rendezvous seiner Mitschüler mit Geneviève, der Tochter des Hauptgärtners.

Aber Konrad blieb in dieser Schule für das Leben als reicher Mann immer derjenige, der die wichtigste Voraussetzung dazu nicht mitbrachte: das Geld.

Bei der Abschiedsparty vor den Sommerferien 1946 – das »St. Pierre« begann als internationales Institut das Schuljahr im Herbst – beschloß Konrad Lang, Pianist zu werden.

Es war ein schwüler Junitag. Die Tore vom »St. Pierre«, das von einer Mauer umgeben war, standen weit offen, und auf dem großen Kiesplatz vor dem Hauptgebäude standen dicht an dicht die Limousinen. Auf dem Rasen zur Seeseite war eine kleine Bühne mit Flügel und Konzertbestuhlung aufgebaut, daneben, unter einem Baldachin, ein kaltes Büfett. Eltern, Geschwister, Ehemalige, Lehrer und Schüler standen in Grüppchen, hielten Gläser und Teller in der Hand, plauderten und blickten immer wieder besorgt zum Himmel, an dem sich schwere Wolken türmten.

Konrad stand bei Thomas Koch und Elvira Senn, die sich mit der Mutter von Jean Luc de Rivière auf französisch unterhielt. Er trug, wie alle Schüler, den Schulblazer mit dem gestickten Goldemblem aus Kreuz, Anker und Bischofsstab und die grün-blau-gold-gestreifte Schulkrawatte. Die Mütter hatten ihr Haar hochgesteckt und geblümte, seidene Sommerkleidchen an, die paar Väter, die sich die Zeit genommen hatten, ihre Söhne abzuholen, dunkle Anzüge aus weichen, leichten Stoffen, weiße Hemden und Krawatten, hie und da in den Farben des »St. Pierre«.

Mitten in dieser eleganten, selbstsicheren Gesellschaft, unbeachtet von den lächelnden Grüppchen, die sich ungezwungen auflösten und wieder neu formierten, stand ein gebückter, kleinwüchsiger, bleicher Mann in einem schlecht sitzenden Stresemann und nippte an seinem leeren Glas. Als Konrad ihn musterte, trafen sich ihre Blicke, und der Mann lächelte ihm zu.

Beinahe hätte Konrad zurückgelächelt, er besann sich aber darauf, wie konsequent alle anderen das Männchen geschnitten hatten, und ließ, um keinen Fehler zu machen, seinen Blick gleichgültig weiterwandern.

Erste Donner grollten über den See, und schwere Regentropfen begannen die sommerliche Garderobe der Gäste zu tüpfeln. Im Nu waren der Rasen leer, der Flügel zugedeckt und die Gesellschaft lachend und prustend in der Turnhalle versammelt, wo die Schulleitung einen zweiten Flügel und alles für das Schlechtwetterszenario vorbereitet hatte.

Während der Ansprache des Direktors und der feierlichen Verabschiedung der Maturanden suchte Konrad vergeblich die Reihen ab nach dem unscheinbaren Männchen, dessen wehmütiges Lächeln er nicht erwidert hatte. Erst als der Direktor den musikalischen Teil der Feier ankündigte, einen Klaviervortrag des Pianisten Jósef Wojciechowski, sah er es wieder. Es stand plötzlich auf der Bühne, verneigte sich, setzte sich an den Flügel und wartete mit seinem Lächeln, bis sich die Unruhe gelegt hatte im Publikum, das eigentlich lieber wieder zum gemütlichen Teil der Feier übergegangen wäre.

Als es still geworden war, ließ Wojciechowski die Hände auf die Tasten sinken.

Vier stille Nocturnes von Chopin entlockte er dem Flügel. Kein Hüsteln, kein Schneuzen, nur manchmal das träge Grollen des längst besänftigten Gewitters. Nach zwanzig Minuten stand er auf, verbeugte sich und wäre gegangen, hätte ihn nicht der tosende Applaus zu zwei Zugaben gezwungen.

Später, beim Farewell Drink im großen Speisesaal, sah Konrad das Männchen wieder. Umringt, bedrängt und gefeiert von den gleichen Leuten, für die er vor einer Stunde noch Luft gewesen war. Ein polnischer Emigrant, hieß es, ein Internierter, den ein Lehrer des »St. Pierre« im Krieg als Bewacher in einem Lager in der Ostschweiz kennengelernt hatte. Niemand also.

Konrad Lang hatte sich für das Taxi entschieden. Er saß im Fond und ließ sich die kurvige Straße hinunter in die Stadt fahren, die sich langsam in der Dämmerung verkroch. Er hätte das Tram nehmen und mit den knapp zwanzig Franken bei Barbara im Rosenhof hereinschauen können. Aber er war zu deprimiert. Klaviermusik in der falschen Stimmung konnte ihn genauso deprimieren, wie sie ihn in der richtigen glücklich machen konnte. Heute hatte sie ihn deprimiert, weil er sie nach einer Demütigung gehört hatte. Sie ließ alte, schlimmere, längst verdrängte Demütigungen wieder hochkommen. Demütigungen, die er sich – da war er ganz sicher – hätte ersparen können, wenn er hätte Klavier spielen können.

Während der Sommerferien 1946, die sie in der Koch-Villa in St. Tropez verbrachten, hatte er Thomas von den Vorteilen überzeugt, Klavier spielen zu können. Die Mädchen, die in dieser Zeit interessant zu werden begannen, himmelten Pianisten an, behauptete er. Thomas hatte daraufhin seine Stiefmutter mit der Mitteilung überrascht, daß er im nächsten Schuljahr Klavierstunden nehmen wolle. Was automatisch auch für Konrad galt.

Konrad war ein eifriger Schüler, ganz im Gegensatz zu Thomas. Sein Lehrer, Jacques Latour, war hingerissen von soviel Begeisterung und, das merkte er bald, Talent. Konrad konnte eine Melodie, die er nur einmal gehört hatte, nachspielen. Jacques Latour gab ihm Privatunterricht im Notenlesen. Nach kurzer Zeit konnte er vom Blatt spielen. Von Anfang an besaß er eine tadellose Arm- und Handhaltung und rasch einen vielversprechenden Anschlag. Es dauerte keine zwei Monate, bis Konrad Thomas mit flüssigen Läufen entmutigte.

Wann immer er Zeit hatte, übte Konrad im Musikzimmer, zu dem er schon bald freien Zutritt hatte, Thema und Gegenbewegung der Linken und der Rechten allein, dann zusammen, dann parallel zur Rechten, dann parallel zur Linken. Immer seltener korrigierte ihn Monsieur Latour, immer öfter hörte er ihm einfach zu, ergriffen von der Gewißheit, ein großes Talent, vielleicht sogar ein kleines Genie vor sich zu haben.

Bis zur »Mückenhochzeit«.

Bei der »Mückenhochzeit« machten sich die Hände selbständig. Die Rechte spielte ihre Melodie, die Linke begleitete sie. Und zwar nicht einfach wie ein Schatten. Sie blieb ein bißchen stehen, verschnaufte ein paar Takte, holte die Rechte wieder ein, nahm ihr gar die Melodie ab, führte sie alleine weiter, warf sie ihr wieder zu, kurz: benahm sich wie ein selbständiges Lebewesen mit einem eigenen Willen.

Bis zur »Mückenhochzeit« waren Konrad seine Hände vorgekommen wie zwei perfekt aufeinander abgestimmte Zirkuspferde, die trabten, wenn das andere trabte, sich aufbäumten, wenn das andere sich aufbäumte, und die Mähne schüttelten, wenn das andere die Mähne schüttelte. Konrads Hände erhielten von seinem Kopf identische Befehle und führten sie identisch aus. Manchmal parallel und manchmal gegeneinander, aber immer im gleichen Schritt und Tritt.

»Das kommt schon noch«, sagte Monsieur Latour, »das geht allen so am Anfang.« Aber so verbissen Konrad auch übte, seine Hände blieben zwei Marionetten, die an gemeinsamen Fäden hingen. Die »Mückenhochzeit, Scherzlied aus Böhmen«, war das Ende seiner Pianistenkarriere.

Ein halbes Jahr nach der ersten Unterrichtsstunde gab Latour seinen besten Schüler auf. Eine Zeitlang hatte er noch versucht, ihn zu einem anderen Instrument zu überreden. Aber das Piano, und nur das Piano, war Konrads Instrument. Er übte noch einige Monate heimlich auf einer Tastatur, die er sich auf eine Rolle Stoff gezeichnet hatte. Er konnte die schwierigsten Läufe im Schlaf rauf- und runterspielen. Aber sobald er einer Hand befahl, aus der Reihe zu tanzen, folgte ihr die andere wie ein Hündchen.

Konrad Lang kannte die Partituren aller Walzer und Nocturnes von Chopin auswendig und die Klavierstimmen aller bedeutenden Klavierkonzerte. Er erkannte nach wenigen Takten die berühmten Pianisten am Anschlag. Wenn er auch nicht die große Anerkennung der Kreise gewann, in denen er sich bewegte, so konnte er sie doch immer wieder einmal beeindrucken mit ein paar virtuosen einhändigen oder parallelen Läufen, spät nachts in einer Pianobar, wo ihn der Pianist noch nicht kannte.

Thomas Koch hingegen entwickelte sich zu einem uninspirierten, leidlichen Klavierspieler.

Das Taxi hielt vor dem Rosenhof. Konrad hatte beschlossen, daß er nicht in der Verfassung war, allein in seiner Wohnung auf dem trockenen zu sitzen. Er bezahlte und gab dem Fahrer seine letzten Münzen als Trinkgeld. Fr. 1.20, ein Betrag, für den er sich etwas schämte. Wie alle, die auf die Großzügigkeit anderer Leute angewiesen sind, haßte er Knauserigkeit.

Er ging die drei Stufen zum Eingang des Rosenhofs hinauf. Als er die schweren, plastikgesäumten Decken des Windfangs teilte, schlugen ihm der Geruch aus Rauch, Bierdunst und Fritieröl entgegen und das bedächtige Stimmengewirr der Männer, die sich zwischen Arbeit und Freizeit eine halbe Stunde Freiheit stahlen. Er hängte seinen Mantel an die überladene Garderobe, legte seinen Hut auf die leere Hutablage und ging zum Stammtisch.

Die Männer rückten zusammen. Einer stand auf und holte ihm einen Stuhl. Konrad Lang war eine Respektsperson im Rosenhof. Der einzige, der immer eine Krawatte trug, der einzige, der fünf Sprachen sprach (plus Griechischkenntnisse), der einzige, der aufstand, wenn eine Frau an den Tisch kam, was nicht oft vorkam. Koni war elegant, gebildet, besaß perfekte Manieren und machte trotzdem keinen steifen Hals, wie man im Rosenhof sagte. Es fiel ihm kein Zacken aus der Krone, wenn er mit Drehern, Rangierarbeitern, Straßenfegern, Lageristen und Arbeitslosen Bier trank und kalte Fleischküchlein aß.

Die ersten paar Mal, als Konrad Lang im Rosenhof auftauchte, wurde er von den Gästen geschnitten. Aber je mehr von seiner Lebensgeschichte durchsickerte, desto mehr behandelten sie ihn als ihresgleichen. Viele, die hier verkehrten, waren Arbeiter der nahen Montagehalle 3 der Koch-Werke oder von der Schließung des Gasturbinenbereichs betroffen.

Dabei war es nicht so, daß Koni sich beklagte. Wenn er halbwegs nüchtern war, ließ er sich kein böses Wort über die Kochs entlocken. Und wenn er betrunken war, brach er jeden Satz ab und legte den Finger auf die Lippen – psst! Ob aus Diskretion oder weil er nicht mehr sprechen konnte, war nicht genau zu sagen. Zwischen diesen beiden Stadien gab es jedoch auch Phasen, in denen er auspackte.

Konrad Lang war das uneheliche Kind eines Dienstmädchens der Kochs. Als der alte Koch starb, kümmerte sie sich um seine junge Witwe, die Stiefmutter von Thomas Koch. Die beiden wurden Freundinnen. Sie reisten in der Welt herum, London, Kairo, New York, Nizza, Lissabon, bis kurz vor Kriegsbeginn. Thomas’ Stiefmutter fuhr in die Schweiz zurück, Konis Mutter blieb in London; sie hatte sich in einen deutschen Diplomaten verliebt, dem sie Koni verschwieg.

»Wie verschwieg?« hatte einer am Stammtisch gefragt, als Koni die Geschichte zum ersten Mal erzählte.

»Die ist mit mir in die Schweiz gereist, hat mich im Emmental bei einem Bauern deponiert und ward nie mehr gesehen.«

»Wie alt warst du da?«

»Sechs!«

»Sauerei.«

»Fünf Jahre mußte ich bei dem Bauern arbeiten. Hart. Ihr wißt ja, wie die sind im Emmental.«

Ein paar nickten.

»Und als kein Geld mehr kam aus Deutschland, hat der Bauer den Namen von Elvira aus mir rausgeholt. Er ist mit mir zu ihr gereist, um bei ihr abzukassieren. Die wußte von nichts und nahm mich auf.«

»Das war doch anständig.«

»Von da an bin ich praktisch als Bruder von Thomas Koch aufgewachsen.«

»Und warum sitzt du jetzt hier und läßt bei Barbara anschreiben?«

»Das frage ich mich auch.«

Konrad Lang war für die Stammgäste des Rosenhofs der einzige direkte Zugang zur Welt der oberen Zehntausend. Was er aus dieser zu berichten hatte, bestätigte ihre Meinung.

Es gab noch einen anderen Grund für Konrad Langs besonderen Status im Rosenhof: seine Beziehung zu Barbara, der Serviertochter. Er war der einzige Gast, der bei ihr anschreiben lassen durfte. Offiziell stand er bei ihr mit etwas über tausendsechshundert Franken in der Kreide. Wenn sie abzog, was sie nicht getippt hatte, waren es immer noch fast siebenhundert Franken. Montags, wenn er sein Taschengeld bekommen hatte, gab er ihr manchmal fünfzig oder hundert Franken zurück. Aber in letzter Zeit trank er mehr, und die Rückzahlungen wurden seltener.

Barbara wunderte sich selbst über ihre Großzügigkeit. Sie war nicht der Typ, der etwas verschenkte. Sie war dieses Jahr vierzig geworden, und ihr hatte man auch nie etwas geschenkt. Wenn sie in den Spiegel schaute, etwas zu schlank für ihren Körperbau und etwas zu schmale Lippen für ihr Alter, hatte sie auch wenig Hoffnung, daß sich daran noch groß etwas ändern würde.

Aber Konrad Lang berührte eine Stelle in ihr. Er besaß etwas Vornehmes, sie konnte es nicht anders sagen. Wie er sich anzog, wie er sich benahm, auch wenn er sturzbesoffen war, wie er sprach und vor allem, wie er sie behandelte. Milord war ihr in den Sinn gekommen, von Édith Piaf (die sie nie hatte ausstehen können), als Konrad Lang bei seinem dritten Besuch im Rosenhof plötzlich feuchte Augen gehabt hatte. »Mais vous pleurez, Milord«, hatte sie gedacht und sich später, als es ruhiger geworden war, zu ihm gesetzt.

Barbara war eine große Anwältin seiner Sache. Wenn jemand im Rosenhof der Meinung war, es gebe traurigere Schicksale als seines, konnte sie sich ereifern. »Ein Leben lang den Tscholi von Thomasli spielen? Wenn der aus dem Gymnasium flog, mußte Koni mit ihm ins Internat. Wenn der aus dem Internat flog, flog Koni mit. Wenn der die Matur nicht bestand, durfte Koni sie auch nicht machen. Wenn der keinen Beruf lernen mochte, durfte Koni auch keinen lernen. Und als Thomas Koch dreißig wurde, hat er geheiratet und wurde in der Firma untergebracht. Und Koni stand da und guckte blöd.«

Als ihre einzige Freundin Doris Maag, die Politesse, bemerkte: »Mit dreißig kann man immer noch etwas lernen«, hatte Barbara ihn verteidigt:

»Er hat’s versucht. Er hatte zwar nichts gelernt, aber er besaß Manieren. Und viele Beziehungen aus der Zeit mit Thomas. In einer Privatbank war er und im Immobiliengeschäft. Aber immer, wenn es anfing zu laufen, stand Tomi vor der Tür. Ehekrise, Sommerskifahren, Scheidung, Fahrausweisentzug, Segeltörn auf dem Mittelmeer.«

»Und wovon lebte er die restliche Zeit?«

»Zuerst von Schulden bei Tomis Kumpanen. Und als denen zu blöd wurde, daß er sie nie zurückzahlte, von Jobs, die er für sie machte. Auf die Jacht aufpassen außerhalb der Saison, der senilen Mutter Gesellschaft leisten, die Ferienvilla verwalten, so Sachen.«

Auch auf die Frage, warum er sich das alles habe gefallen lassen, hatte sie eine Antwort parat: aus Dankbarkeit. Weil Thomas Koch seine Stiefmutter überredet hatte, Konrad aufzunehmen. Weil er ohne Thomas Koch heute nichts wäre.

Als Doris Maag sie fragte: »Und was ist er heute?«, hatte Barbara einen Moment überlegt und geantwortet: »Du solltest ihn Klavier spielen hören.«

Jetzt stand Barbara mitten im Trubel, brachte volle Biergläser und räumte leere weg, nahm Bestellungen zur Kenntnis und wischte abgezählte Beträge in ihr großes Portemonnaie unter der Servierschürze. Als sie Konrad sah, brachte sie ihm eine Stange Bier, in die sie vorher etwas Durchsichtiges aus einer Flasche geschüttet hatte.

Gegen sieben Uhr war der Rosenhof leer bis auf ein paar entschlossene Trinker und Konrad Lang vor seiner dritten verstärkten Stange.

Barbara nahm eine Flasche Weißwein aus der Kühlschublade, schenkte sich ein Glas ein und setzte sich damit zu Konrad.

»Erfolg gehabt?« fragte sie.

Konrad schüttelte den Kopf. »Urs.«

»Dann schreib ich dir das auf?«

»Geht das?«

Barbara zuckte die Achseln.

Am Abend nach dem Zusammenstoß mit Urs Koch nahm Barbara Konrad mit nach Hause. Nicht zum ersten Mal, sie hatte ihn auch schon früher manchmal mitgenommen, wenn er ihr zu leid tat oder wenn sie sich allein fühlte oder wenn sie Kurt, ihren verheirateten sporadischen Liebhaber, eifersüchtig machen wollte.

Das erste Mal machte Konrad, mehr aus Pflichtbewußtsein als aus Begierde – und weil der Gentleman ab und zu etwas haben muß, worüber er dann schweigt –, einen Annäherungsversuch, als sie dabei war, das Bett abzudecken. Sie lachte und schüttelte den Kopf, das war alles, was es brauchte, um ihn abzuwimmeln. Sie legten sich ins Bett, sie in einem ausgebeulten, verwaschenen Baumwollpyjama, er in der Unterwäsche, und Konrad erzählte ihr aus seinem Leben. Geschichten und Anekdoten aus der großen Welt der Schönen und Reichen, mit denen er seine Umgebung sein Leben lang unterhalten, amüsiert und mit der Zeit mehr und mehr gelangweilt hatte.

»Gloria von Thurn und Taxis hat dem Fürsten zum Sechzigsten einen Geburtstagskuchen mit sechzig Penissen aus Marzipan machen lassen«, erzählte er an diesem Abend, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. Barbara wohnte im vierten Stock, in einem Haus ohne Lift.

»Ich weiß«, antwortete Barbara und half ihm aus dem Mantel.

»Der Fürst war nämlich schwul.«

»Ich weiß«, antwortete Barbara und ging in die Küche.

»Das wußten aber nur Eingeweihte«, rief er ihr nach.

»Ich weiß«, sagte Barbara und kam mit einem Glas Mineralwasser aus der Küche.

»Habe ich dir das schon erzählt?«

»Schon oft.«

Barbara hätte sich ohrfeigen können, denn Konrads Augen füllten sich sofort mit Tränen. Sie wußte, wie wehleidig er in diesem Zustand war. Aber sie war müde und sauer. Über ihn, daß er so mit sich umspringen ließ, und über sich, daß sie ihn mitgenommen hatte.

»Entschuldige«, sagte Konrad. Sie wußte nicht, ob er die Wiederholung meinte oder die Tränen.

»Entschuldige dich nicht ständig. Wehr dich«, schnappte sie und hielt ihm das Glas hin. Konrad nahm es.

»Was ist das?«

»Trink.«

Konrad trank gehorsam das Glas leer. Barbara schaute ihm zu und schüttelte den Kopf.

»Warum machst du alles, was man dir befiehlt? Sag doch, nein, ich will kein Mineralwasser, ich will ein Bier mit Chrüter, sauf dein Mineralwasser selbst. Wehr dich doch, Herrgott!«

Konrad zuckte die Schultern und versuchte zu lächeln. Barbara fuhr ihm übers Haar.

»Entschuldige.«

»Du hast ja recht.«

»Ich weiß nicht. Komm ins Bett.«

»Ich will aber nicht ins Bett, ich will ein Bier mit Chrüter, geh doch selbst ins Bett«, antwortete Konrad.

»Vergiß es«, sagte Barbara.

In dieser Nacht hatte Konrad Lang einen Traum. Er spielte Krocket im Park der Villa Rhododendron. Tomi war dabei und Elvira und seine Mutter, Anna Lang. Es war ein schöner, lauer Sommertag. Die Frauen trugen weiße Kleider. Tomi hatte kurze Hosen an und war sehr klein. Erst jetzt merkte Koni, daß er selbst auch nicht größer war.

Sie waren ausgelassen und lachten viel. Tomi hatte die Kugel mit dem blauen Streifen, er die mit dem roten. Er war an der Reihe. Er traf die Kugel, sie rollte durchs Tor und immer weiter und weiter. Koni rannte ihr nach, bis sie eine Böschung erreichte und verschwand. Er folgte ihr ins Dickicht. Als er sie gefunden hatte, hatte er sich verlaufen. Immer tiefer verirrte er sich im Gebüsch, immer dichter wurde das Unterholz. Endlich öffnete es sich, und er trat ins Freie. Die Villa war verschwunden. Weit und breit keine Spur von den anderen. Er begann zu weinen und schluchzte laut. Jemand nahm ihn in die Arme und sagte: »Du mußt dein Leben ändern, sonst gehst du drauf.« Es war Barbara. Draußen wurde es schon hell.

Nach dem Frühstück im Café Delphin ging er in seine Wohnung und schrieb Elvira Senn einen Brief.

Liebe Elvira,
gestern hatte ich einen Traum. Du und Anna und Tomi und ich spielten Krocket auf dem Rasen vor der Veranda, den der Gärtner (hieß er Herr Buchli?) immer extra vorher mähen mußte. Wir waren so glücklich und unbeschwert, Tomi hatte die blaue Kugel wie immer, und ich die rote. Du trugst das weiße Leinenkleid, das Dir Tomi beim Kirschenpflücken ruiniert hatte, aber in meinem Traum war es noch blütenweiß. Als ich erwachte, waren plötzlich alle Erinnerungen wieder da. Es kommt mir vor, als ob das alles erst gestern gewesen wäre, und ich frage mich: »Warum ist das alles so gekommen? Warum hast Du mich verstoßen? Wir waren doch einmal wie eine Familie. Warum kann es nicht wieder so werden? Warum muß ich auf meine alten Tage allein sein mit meinen Erinnerungen? Warum muß ich sie teilen mit wildfremden Menschen, die nicht wissen, wovon ich spreche?
Versteh mich nicht falsch, ich will nicht undankbar erscheinen. Ich weiß Deine Großzügigkeit zu schätzen. Aber dieses Leben halte ich nicht länger aus. Ich bitte Dich, Elvira: Verstoß mich ganz, oder verzeih mir und nimm mich wieder bei Euch auf.

Dein verzweifelter Koni Lang

Er las den Brief ein paarmal durch und konnte sich nicht entschließen, ihn abzuschicken. Er schob ihn in einen adressierten Umschlag, den er, ohne ihn zuzukleben, in die Brusttasche steckte. Beim Kaffee im Blauen Kreuz las er ihn wieder und beschloß, ihn nicht wegzuschicken. Viel zu weinerlich. Er steckte ihn wieder ein und vergaß ihn bis zum Apéro im Rosenhof. Dort begrüßte ihn Barbara mit der Frage: »Und? Was hast du vor, um dein Leben zu ändern?«

»Ich hab Elvira Senn einen Brief geschrieben.« Er faßte ins Jackett und zeigte ihr das Kuvert.

»Und warum nicht abgeschickt?«

»Keine Marken.«

»Soll ich ihn abschicken?«

Konrad Lang fiel keine Antwort ein, und so ließ er sich den Umschlag abnehmen. Als der Feierabendandrang abflaute, klebte Barbara eine Marke drauf, warf sich den Mantel über und ging die paar Schritte zum Briefkasten um die Ecke. Was du heute kannst besorgen…

Konrad hatte davon nichts mitbekommen. Bei ein paar Glas Bier dachte er über den Brief nach und kam zum Schluß: Der Brief war nicht weinerlich, er war pathetisch. Und es war eigentlich kein Brief, es war ein Appell. Appelle müssen pathetisch sein, sonst wirken sie nicht.

Der Postbote hatte den Briefkasten längst geleert, als Konrad sich entschloß, Barbara nicht daran zu hindern, den Brief einzuwerfen. Am nächsten Morgen, als er auf seinen Entschluß hätte zurückkommen können, hatte er die ganze Sache vergessen.

Elvira Senn saß in ihrem Frühstückszimmer im »Stöckli«. Es war noch früh am Tag, und die Stofflamellen, die das grelle Morgenlicht schmeichelhaft milchig machten, waren noch halb geschlossen. Frau Senn trank frischgepreßten Orangensaft und versuchte, den Brief, der geöffnet zuoberst auf dem Stapel Post neben dem Telefon lag, zu vergessen.

Sie trank ihr Glas aus. Daß der Brief eine Frechheit war, beschäftigte sie nicht weiter. Es war nicht die erste Frechheit, die sich Konrad Lang leistete. Was sie beunruhigte, waren die detaillierten Erinnerungen: Der Gärtner hatte tatsächlich Buchli geheißen, und – was viel schlimmer war – er war gestorben, als Koni noch keine sechs Jahre alt war. Tomi hatte wirklich immer auf der blauen Kugel bestanden, und Koni, dessen Lieblingsfarbe ebenfalls Blau gewesen war, hatte sich immer klaglos mit der roten abgefunden. Was sie am meisten irritierte, waren die Flecken auf dem weißen Leinenkleid. Als sie mit Anna, Tomi und Koni Krocket spielte, besaß sie es bereits nicht mehr. Sie hatte es weggeben müssen, weil es tatsächlich voller Kirschenflecken war. Aber es war nicht Tomi gewesen, der sie gemacht hatte. Die Vorstellung, daß das Gedächtnis des alten Säufers so weit zurückreichte, machte ihr angst.

Es gab nicht viel im Leben von Elvira Senn, was sie bereute. Aber daß sie damals, an jenem warmen Sonntag im Mai 1943, einem gewissen Bauern nicht eine Abfindung bezahlt und Konrad mit ihm ins Emmental zurückgeschickt hatte, das konnte sie sich bis heute nicht verzeihen.

Es war der erste Tag gewesen, an dem man draußen essen konnte. Die ganz frühen Rhododendren blühten. Sie saß mit Thomas unter der gestreiften Markise der großen Sonnenterrasse, die auch vom Park her zugänglich war, und trank Kaffee, selbst für Elvira Senn in diesen Kriegsjahren keine Alltäglichkeit.

Eines der Dienstmädchen meldete Besuch an, einen Mann mit einem Jungen – ein Freund, habe er gesagt, eine Überraschung. Elvira wurde neugierig und ließ bitten.

Sie beobachtete die beiden, wie sie näher kamen. Ein bäurischer Mann mit einem Jungen, der ein kleines Köfferchen trug. Plötzlich stand Thomas vom Tisch auf und rannte den beiden entgegen. Da ahnte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte.

»Koni! Koni!« rief Thomas.

Der Junge antwortete: »Sali, Tomi.«

Elvira wußte nicht, daß Konrad in der Schweiz war. Sie hatte ihn zum letzten Mal vor fünf Jahren in Dover gesehen, kurz vor Kriegsausbruch, am Tag, als sie mit Thomas zurückgereist und Anna mit Konrad in London geblieben war, wegen ihrem deutschen Diplomaten. Sie hatten sich noch ab und zu geschrieben, es war eine Hochzeitsanzeige aus London und eine Postkarte aus Paris gekommen. Dann hatte sie nichts mehr gehört.

Jetzt erzählte ihr dieser Bauer in seinem schwer verständlichen Dialekt, daß Anna Lang mit Konrad kurz nach ihr ebenfalls in die Schweiz gereist war und den damals Sechsjährigen bei ihm untergebracht hatte. Jeden Monat seien von einer Schweizer Bank hundertfünfzig Franken überwiesen worden, bis vor drei Monaten. Dann sei nichts mehr gekommen. Nümmi.

Er könne den Buben nicht durchfüttern, sagte er. Er heiße Zellweger, nicht Pestalozzi. Jetzt habe er gedacht, vielleicht könne sie helfen. Sie sei ja scheint’s eine Tante vom Koni. Geld, fügte er hinzu und schaute sich um, sei offenbar vorhanden.

Wenn Thomas sie nicht so bedrängt hätte: »Bitte, Mama, darf Koni bleiben, bitte, bitte?« – sie hätte zumindest auf etwas Bedenkzeit bestanden. Aber Thomas war so glücklich und Konrad so gottergeben und der Bauer so unangenehm, daß sie, was selten vorkam, etwas Unüberlegtes tat und nickte.

Sie gab Zellweger vierhundertfünfzig Franken für die ausstehenden drei Monate und zwölf Franken für die Fahrt, Resespese. Dann stand sie da mit dem ungelenken Buben und hatte das dunkle Gefühl, daß sie ihn ihr Lebtag nicht mehr loswerden würde.

Am Anfang gab es keine Probleme. Konrad war ein unaufdringlicher, anspruchsloser Junge und ein guter Gefährte für Thomas. Sie schickte beide in dieselben Schulen, sie spielten zusammen und machten gemeinsam ihre Schulaufgaben. Konrad übte einen wohltuenden Einfluß auf Thomas aus, der nicht gut allein sein konnte, aber auch dazu neigte, seine Umgebung zu dominieren. Konrad war geduldig und akzeptierte Thomas von Anfang an als die Nummer eins.

Die Probleme kamen erst später. Thomas entwickelte sich zu einem launischen jungen Mann, der es nirgendwo lange aushielt. Elvira hatte in jener Zeit andere Interessen und duldete es aus Bequemlichkeit, daß er das Leben eines Playboys führte. Sie sah ihm seine Kapriolen nicht nur nach, sie finanzierte sie auch noch generös. Und zu seinen Kapriolen gehörte Koni, den er verstieß und aufnahm, je nach Stimmungslage. Als Thomas dreißig wurde, beschloß sie, seinem süßen Leben ein Ende zu bereiten. Auf dem internationalen Parkett blieben ein paar finanzielle Verpflichtungen zurück – und Konrad Lang.

Und nun, weitere fünfunddreißig Jahre später, war er immer noch nicht aus ihrem Leben verschwunden. Und wurde auch noch frech.

Als Konrad Lang zum ersten Mal im Blauen Kreuz war, dachte er, der Geruch käme von all den alten Frauen. Erst als man ihm den Teller brachte, merkte er, daß es das Tagesmenü war, das so roch. Blumenkohl, Spinat, Karotten, Bratkartoffeln.

»Ist das hier auch vegetarisch?« fragte er. Er erhielt die spitze Antwort: »Sie haben den Gärtnerteller bestellt, ist es nicht recht?«

Inzwischen hatte er sich an das Blaue Kreuz gewöhnt. Er hatte sein eigenes Tischchen und die ältlichen Serviertöchter behandelten ihn wie ein Familienmitglied. »Herr Lang, das ›Cordon Bleu‹ ist gut, aber der gedämpfte Brüsseler ist bitter. Ich gebe Ihnen Kohlräbli anstatt.«

Konrad Lang saß vor einer »Schale Gold« und las die Zeitung, die in einer Holzklemme steckte und ihm automatisch mit dem Kaffee gebracht wurde. Er war etwas unruhig, gestern abend hatte ihn Barbara gefragt, ob er schon Antwort auf den Brief bekommen habe.

»Welchen Brief?« hatte er gefragt.

»Den Brief an Elvira Senn, den ich für dich eingeworfen habe. Der Brief, der dein Leben verändern soll.«

»Ach so, dieser Brief. Nein, noch keine Antwort«, hatte er gestammelt. Seither zerbrach er sich den Kopf darüber, was er wohl geschrieben hatte. Aber mehr als eine verschwommene Erinnerung an einen etwas eindringlichen Ton brachte er nicht zustande.

»Ist hier noch frei?«

Konrad blickte auf. Vor ihm stand eine Frau um die Fünfzig, guter Kopf, rostrotes Kaschmir-Set, Perlendoppelstrang, Flanellhose. Eine von uns, dachte er. Er stand auf.

»Ist hier noch frei?« fragte sie noch einmal.

»Selbstverständlich«, antwortete Konrad und zog den zweiten Stuhl unter dem Tisch hervor. Etwas verwundert. Das Lokal war praktisch leer.

Als sie sich setzte, ging die Tür auf. Ein jüngerer Mann kam herein, schaute sich um, sah sie und näherte sich dem Tisch. Als er ihn fast erreicht hatte, griff die Frau nach Konrads Hand, zog sie zu sich herüber und fragte: »Hast du lange warten müssen, Schatz?«

Konrad Lang spürte, daß der Mann jetzt am Tischrand stand. Er blickte der Frau tief in die Augen, legte seine Linke über ihre Rechte und antwortete: »Fast ein ganzes Leben, Schatz.«

Der Mann stand am Tisch und wartete. Aber als weder Konrad noch die Fremde aufschauten, wandte er sich ab und ging rasch aus dem Lokal.

»Danke«, sagte die Frau. Dann seufzte sie erleichtert. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

»Das nenne ich eine gute Tat«, gab Konrad Lang zur Antwort. »Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?«

Die Frau hieß Rosemarie Haug, ihr Mädchenname, den sie nach ihrer Scheidung vor vier Jahren wieder angenommen hatte. Sie akzeptierte die Einladung, und es gefiel ihr, daß Konrad Lang keine Silbe über den Vorfall verlor. Ein Kavalier der alten Schule, dachte sie.

Dr. Peter Stäubli war Allgemeinmediziner und hatte vor kurzem seine Praxis ganz in der Nähe der Villa Rhododendron aufgegeben. Nun betreute er nur noch eine Handvoll seiner langjährigen Patienten. Unter anderem war er der Haus- und Vertrauensarzt von Elvira Senn. Er besuchte sie zweimal wöchentlich nach dem Frühstück, um ihren Blutzucker zu kontrollieren. Sie konnte sich zwar ohne weiteres das Insulin injizieren, aber sich selbst einen Tropfen Blut abzuzapfen, brachte sie nicht fertig. Elvira Senn konnte kein Blut sehen.

An diesem Morgen, während sie darauf warteten, daß der Blutstropfen vom Teststreifen gewischt werden konnte, fragte Elvira Senn: »Wie alt sind Sie jetzt, Doktor?«

»Sechsundsechzig.«

»Wie weit können Sie sich zurückerinnern?«

Stäubli wischte den Teststreifen ab und schob ihn in den Reflektometer. »Ich erinnere mich daran, wie unser Dackel Fritz eines Morgens mausetot auf dem Gartenweg lag. Damals muß ich etwa sechs gewesen sein.«

»Ist es möglich, daß man sich auch weiter zurückerinnern kann?«

»Das zentrale Nervensystem ist bei der Geburt noch nicht voll ausgebildet. Das Gedächtnis kleiner Kinder kann in den ersten beiden Lebensjahren noch gar nichts speichern. Es muß erst allmählich lernen zu lernen und das Gelernte abzurufen.«

»Das heißt, theoretisch kann es sein, daß man sich an Erlebnisse erinnert, die man mit drei hatte?«

»Mein jüngster Enkel ist jetzt zehn. Als er vier war, nahm ich ihn mit in ein Restaurant, das russische Woche hatte. Wer nach dem Essen einen Wodka trank, durfte nachher das Glas an eine eigens dafür vorgesehene Wand werfen. Ich mußte etwa fünf Wodkas trinken, damit der Kleine die Gläser an die Wand werfen konnte. Das hat ihm einen so großen Eindruck gemacht, daß er jedesmal davon erzählte, wenn er zu Besuch kam. So hat er diese Erinnerung über die Jahre hinübergerettet. Jetzt ist er zehn und erinnert sich noch. Und die Chancen, daß er sich noch mit achtzig daran erinnern kann, stehen gut.«

Während er sprach, hatte Dr. Stäubli die Blutzuckerwerte notiert. Jetzt legte er ihr die Manschette des Blutdruckapparates an.

»Und alle anderen Erinnerungen sind weg?«

»Nicht weg. Der Zugang zu ihnen ist nicht mehr da.«

Stäubli steckte sich die Stethoskop-Oliven in die Ohren und maß den Blutdruck. »Sie werden hundert«, sagte er und notierte sich die beiden Werte.

»Und daß man diesen Zugang wieder findet, ist völlig ausgeschlossen?«

»Völlig ausgeschlossen nicht. Es gibt eine Form der Hypnose, die Erinnerungen aus der frühen Kindheit wiederherstellt. ›Recovered Memories‹. In den Vereinigten Staaten werden damit unbescholtene Familienväter von ihren erwachsenen Töchtern beschuldigt, sie hätten sie als Kinder mißbraucht.«

Dr. Stäubli packte seinen Arztkoffer. »Und manchmal kommt es auch vor, daß Menschen mit Altersdemenz, weil sie die Fähigkeit verlieren, neue Dinge zu lernen, tief in ihr Altgedächtnis dringen und an der Schwelle zu ihren frühen Kindheitserinnerungen die eine oder andere herüberlocken können.« Er gab seiner Patientin die Hand. »Je älter man wird, desto näher rückt die Vergangenheit, nicht wahr, Frau Senn? Am Freitag um die gleiche Zeit?«

Elvira Senn nickte.

Sie trafen sich schon am nächsten Tag zum Abendessen. Es war der Tag, an dem Konrad Lang sein Taschengeld bezogen hatte. Er konnte sich ein Restaurant leisten, das zwar nicht gerade ein In-Lokal war, aber auch nicht so verschwiegen, daß eine Einladung dorthin anzüglich gewirkt hätte.

Konrad kam ziemlich nüchtern und hielt sich auch während des ganzen Abends gut. Rosemarie erzählte, was sie sonst nie tat, von ihrem Leben vor der Scheidung. Sie war in zweiter Ehe mit einem Chirurgen verheiratet gewesen, der beinahe zehn Jahre jünger war. Sie hatte sein Studium aus dem Vermögen ihres ersten, früh verstorbenen Mannes finanziert. Der hatte ihr die Hälfte eines Textilunternehmens hinterlassen, die sie rechtzeitig ihrem Schwager verkaufte, bevor das Unternehmen in den Siebzigerjahren Konkurs ging.

»Röbi Fries war Ihr erster Mann?« fragte Konrad überrascht. »Wissen Sie, daß ich mit ihm aufs ›St. Pierre‹ gegangen bin?«

»Ach, Sie sind aufs ›St. Pierre‹ gegangen? Röbi hat viel vom ›St. Pierre‹ erzählt.«

Sie tauschten den ganzen Abend Namen aus von gemeinsamen Bekannten und von Orten, an denen sie sich schon getroffen haben mußten.

Im Taxi sagte Rosemarie: »Wollen Sie nicht wissen, wer der Mann war, vor dem Sie mich im Blauen Kreuz gerettet haben?«

»Ist er wichtig für Sie?«

Rosemarie schüttelte den Kopf.

»Dann vergessen wir ihn.«

Rosemarie besaß ein Penthouse in einem vierstöckigen Gebäude, das direkt am See in einem kleinen Park lag. Konrad ließ das Taxi warten, begleitete sie bis zur Haustür und verabschiedete sich. Er wollte sich schon umdrehen, als sie die Tür noch einmal öffnete und sagte:

»Haben Sie Zeit am Samstagabend? Ich würde etwas kochen.«

Das Restaurant des Grand Hotel des Alpes hieß Carême, nach dem großen französischen Küchenchef des 19. Jahrhunderts. Es war stolz auf seine »ancienne cuisine«. Elvira Senn liebte das Lokal aus anderen Gründen: Es war nahe der Villa, prominente Gäste wurden nicht angegafft, sie hatte ihren festen Tisch, außer Hörweite der anderen Gäste, und die Brigade beherrschte ihre bevorzugten Diätmenüs.

Sie aß jeden Donnerstag im Carême und benutzte das Abendessen meistens für informelle, aber um so entscheidendere geschäftliche Besprechungen.

An diesem Abend hatte sie ihren Enkel Urs Koch gebeten, sie zu begleiten. Während des Essens eröffnete sie ihm, daß sie sehr ernsthaft in Erwägung ziehe, ihm die Leitung der »Koch-Electronics« zu übergeben. Beim Dessert (für sie ein Apfel, für ihn »crème brûlée«) brachte sie das Gespräch auf Simone, und als sie sicher war, daß er verstanden hatte, daß die beiden Themen für sie in einer gewissen Abhängigkeit zueinander standen, kam sie auf Konrad Lang zu sprechen.

»Er macht mir Sorgen«, vertraute sie ihm an.

»Du machst dir Sorgen um Koni?«

»Nicht um Koni. Wegen Koni. Ich will nicht, daß er uns schadet.«

»Wie kann jemand wie Koni uns schaden?«

»Mit Geschwätz. Alten Geschichten.«

»Gibt es denn alte Geschichten?«

»Er kann welche erfinden.«

Urs zuckte die Schultern. »Die Karawane zieht weiter.«

Elvira lächelte. »Mit Urs an der Spitze.« Sie hob ihr Glas Mineralwasser. Urs schenkte sich den Rest Burgunder ein. Sie stießen an.

»Abgesehen davon wird er sich sowieso bald zu Tode gesoffen haben.«

»Dazu reicht sein Taschengeld nicht aus«, antwortete Elvira Senn.

Am nächsten Morgen wies sie Schöller an, Konrad Langs Wochenlimit zu erhöhen. Von dreihundert auf zweitausend.

Am ersten Abend hatten sich Konrad und Rosemarie, wie das an ihrem ersten Abend alle tun, ein bißchen was vorgemacht. Sie hatten sich von ihrer besten Seite gezeigt, von ihren Erfolgen geredet und die Mißerfolge weggelassen.

Jetzt, am zweiten Abend, war es anders. Rosemarie empfing ihn ganz locker, spannte ihn sofort zum Tischdecken ein und staunte, wieviel Kunst und Routine er dabei an den Tag legte. Sie schenkte zwei Glas Meursault ein, und sie gingen damit auf die Terrasse. Es war ein milder Abend, Frühling in der Luft, die Lichter der gegenüberliegenden Ortschaft schaukelten auf dem See, und aus dem Fenster unter ihnen wehte Klaviermusik.

»Chopin, Nocturne Opus 9, Nummer 1, b-Moll«, sagte Konrad. Rosemarie schaute ihn von der Seite an.

Sie aßen wilden Reis, der etwas zu weich, und Lachs, der etwas zu trocken geraten war. Konrad vergaß seine Zurückhaltung beim Weißwein. Er erzählte ihr immer ungeschminkter aus seinem Leben.

Sie wußte einigermaßen, wovon er sprach. Auch sie war in den Kreisen ihres ersten Mannes nur als Anhängsel geduldet worden.

Kurz vor Mitternacht enthüllte Konrad Rosemarie eines seiner bestgehüteten Geheimnisse. Er setzte sich an das Klavier in ihrem Wohnzimmer und spielte die rechte Hand der Nocturne, die sie vor ein paar Stunden auf der Terrasse gehört hatten. Dann spielte er die linke.

»Und jetzt zusammen«, lächelte Rosemarie.

Da erzählte ihr Konrad von seinem Scheitern als Pianist.

Um ein Uhr setzte sie sich neben ihn und begleitete ihn mit der linken Hand zu »Für Elise«. Nicht ganz fehlerfrei, aber es genügte, um Konrad dazu zu verleiten, ihr auch sein letztes Geheimnis zu verraten: die Wahrheit über seine Situation. Die Abhängigkeit von den Kochs. Die ganze Scheiße.

Am nächsten Morgen erwachte Konrad Lang im Bett von Rosemarie Haug und konnte sich an nichts erinnern.

Konrad hätte Rosemarie gern gefragt, was in der letzten Nacht vorgefallen war. Aber er wollte nicht, daß er klang wie ein Gymnasiast, der nach dem ersten Mal fragt: »Wie war ich?«

So verließ er sie mit einem unguten Gefühl, aber einigermaßen beruhigt durch den Umstand, daß sie ihn für den kommenden Abend wieder zu sich eingeladen hatte.

Er verbrachte den Tag in seiner Wohnung und zermarterte sich vergeblich das Hirn nach irgendeinem Fetzen Erinnerung an die Nacht.

Pünktlich und mit einer langstieligen Rose traf er am Abend bei ihr ein. Sie begrüßte ihn mit einem Kuß, nahm ihm die Blume ab, ging damit in die Küche und füllte eine kleine Vase mit Wasser.

»Im Kühlschrank hat es Weißen, oder möchtest du lieber Roten?« rief sie über die Schulter.

»Hast du auch Wasser?« fragte Konrad aus einer Eingebung heraus.

»Im Kühlschrank.« Rosemarie trocknete die Vase ab und brachte sie ins Wohnzimmer. »Wenn du Wasser nimmst, nehme ich auch welches«, sagte sie im Vorbeigehen. Sie stellte die Rose auf den gedeckten Tisch. Konrad kam mit einer Flasche Mineralwasser und schenkte zwei Gläser voll.

»Gesundheit«, sagte er und hielt ihr ein Glas hin.

»Deshalb Wasser?«

Beide tranken.

»Nein, Gedächtnis. Eher Gedächtnis.« Er gab sich einen Ruck. »Ich kann mich nicht an gestern nacht erinnern.«

Rosemarie schaute ihm in die Augen und lächelte.

»Schade.«

Am nächsten Morgen spazierte Konrad Lang das Seeufer entlang in die Stadt zurück. Ein frischer Morgen. Hellgrüne Triebe an den Kastanien. Um ihre Stämme versammelten sich schon die Krokusse.

Konrad hatte den ganzen Abend keinen Tropfen getrunken, und sein Erinnerungsvermögen an die letzten Stunden war, soweit er es beurteilen konnte, völlig intakt. Selten hatte er sich so phantastisch gefühlt. Vielleicht ein einziges Mal, 1960, auf Capri. Aber damals war er jung und verliebt gewesen.

Sie waren mit der »Tesoro«, der altmodischen Motorjacht der Piedrinis, auf dem Mittelmeer unterwegs. Eine internationale Clique junger, reicher Leute, die sich dekadent fühlten und es wohl auch waren. Im gleichen Jahr war Fellinis »La Dolce Vita« herausgekommen und hatte eine nachhaltige, nicht gerade abschreckende Wirkung auf sie alle ausgeübt.

Sie legten in Capri an, weil sie an der gleichen Stelle ein Fest feiern wollten, an der Tiberius während seiner Orgien Knaben über die Klippen gestoßen hatte. Und ein Picknick veranstalten im Garten der schwindelerregenden Villa Lysys, die der schwedische Graf Fersen der Jugend der Liebe gewidmet hatte.

Thomas wohnte während des Landaufenthaltes mit den anderen im Quisisana. Konrad hatte er nahegelegt, auf die Jacht aufzupassen. Eine absolut überflüssige Maßnahme angesichts der zwölfköpfigen Besatzung der »Tesoro«. Aber Thomas war im Moment absorbiert von der atemberaubenden Blasiertheit der Piedrinis. Konrad war ihm wieder einmal im Weg.

Dieser wußte nicht recht, ob er beleidigt oder eher froh sein sollte, die lärmende Gesellschaft für eine Weile los zu sein. Er aß auf Deck, aufmerksam bedient von einem weiß livrierten, schweigsamen Steward, und schaute zum Hafen hinüber. Bunte Lichter glitzerten in den Hafenkneipen, und das Meer trug traurige neapolitanische Melodien herüber. Plötzlich überkam ihn das vertraute Gefühl, wieder einmal am falschen Ort zu sein. Dort drüben drehten sich die Paare, klangen die Gläser, spielte sich das Leben ab. Und er saß hier.

Er ließ sich zum Hafen übersetzen und betrat erwartungsvoll die kurze Promenade. Die Hafenkneipen waren voller deutscher Touristen, die Musik kam aus Grammophonen, und die bunten Glitzerlichter waren schludrig bemalte Glühbirnen. Er ging weiter, vorbei an den Kneipen, bis ans Ende des Piers. Dort saß eine junge Frau, die Arme über den Knien verschränkt, und schaute aufs Meer. Als sie ihn kommen hörte, blickte sie auf.

»Mi scusi«, sagte er.

»Niente Italiano«, antwortete sie. »Tedesco.«

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht stören.«

»Ach, Schweizer?«

»Und Sie?«

»Wien.«

Konrad setzte sich neben sie. Sie schauten eine Weile schweigend aufs Meer.

»Sehen Sie die Jacht da draußen?«

Konrad nickte.

»All die Lichter.«

»Ja.«

»Manchmal trägt der Wind ein Gelächter herüber.«

»Ach.«

»Und wir sitzen hier.«

»Und wir sitzen hier«, wiederholte Konrad.

Wie wenn sie sich in dieser Sekunde, jeder für sich, entschlossen hätten, das Leben nicht mehr ohne sie stattfinden zu lassen, küßten sie sich.

Elisabeth hieß sie.

Sie verbrachten drei Tage in ihrer Pension. Daß er zur Jacht gehörte, erwähnte er nicht. Aus Angst, damit den Zauber zu zerstören.

Am vierten Tag ging er zu Thomas ins Quisisana und eröffnete ihm, daß er auf eigene Faust weiterreisen werde.

»Wegen der Blonden?« fragte der.

»Welcher Blonden?«

»Ich habe euch vor dem Grotto gesehen. Du hattest nur Augen für sie. Verständlich, übrigens.«

Thomas wünschte ihm alles Gute, und sie verabschiedeten sich.

Am nächsten Tag kam Elisabeth ganz aufgeregt ins Zimmer. »Erinnerst du dich an die Jacht? Die von unserem ersten Abend?«

Konrad nickte.

»Du glaubst es nicht, wir sind darauf eingeladen.«

Elisabeth wurde Thomas’ erste Frau. Sie schenkte ihm einen Sohn, Urs. Nicht lange darauf folgte sie ihrem unsteten Herzen nach Rom. Ein kleiner Trost für Konrad und ein harter Schlag für Thomas, der nie treu, aber immer eitel gewesen war und sich jetzt seines alten Freundes erinnerte als stets verfügbaren Trösters und Gesellschafters.

Seit damals, jenen drei Tagen auf Capri, hatte Konrad Lang sich nie mehr so gefühlt wie heute. Vielleicht war er wieder verliebt. Alt und verliebt.

Er beschloß, mit dem Trinken aufzuhören. Wenigstens für eine Weile.

Zu Hause fand Konrad Lang einen Brief der Bank vor, in dem ihm mitgeteilt wurde, sein Wochenlimit betrage ab sofort zweitausend Franken und könne neuerdings an jedem beliebigen Wochentag abgehoben werden.

Er schrieb einen euphorischen Dankesbrief an Elvira Senn und reservierte einen Tisch im Chez Stavros. Er ging auf die Bank und hob tausendzweihundert Franken ab. Dann kaufte er etwas Wildlachs, eine Zwiebel, Toast, Zitrone und Kapern und vier Flaschen »San Pellegrino« und nahm am offenen Wohnzimmerfenster einen gepflegten kleinen Imbiß zu sich, mit viel Mineralwasser über Eis und Zitrone.

Nach dem Essen spülte er das Geschirr und setzte sich zur Feier des Tages an sein Keyboard.

Vor etwa zwei Jahren hatte er in einem Lokal in Korfu einem Pianisten über die Schulter geschaut, der auf seinem Klavier ein kleines Keyboard stehen hatte, und begriffen, daß das Instrument die linke Hand von allein spielte. Das klang zwar etwas roboterhaft, aber eindeutig besser als ohne.

Gleich am nächsten Tag schaffte er sich ein billiges Keyboard an, das dann aber wie alle seine Habseligkeiten dem Brand zum Opfer fiel. Dafür setzte er ein etwas teureres Modell mit mehr Möglichkeiten auf die Liste der Lebensnotwendigkeiten, die er zu Händen der Kochs für seine Wohnung aufstellen durfte. Seither spielte er ab und zu für sich und manchmal für seine seltenen Gäste, meistens für Barbara.

Aber als er sich jetzt an das Keyboard setzte, fand er den Schalter nicht. Das ist ja lächerlich, dachte er, ich habe das Ding schon tausendmal ein- und ausgeschaltet. Er mußte das Instrument systematisch absuchen, bis er nach zwei, drei Minuten den Schalter fand.

»Liebe macht eben doch blind«, murmelte er.

Doris Maag, die Politesse, sah müde aus, als sie direkt vom Dienst in Uniform in den Rosenhof kam und sich an Barbaras Tischchen beim Buffet setzte.

»Also, wo brennt’s?«

»Koni ist verschwunden.«

»Wie verschwunden?«

»Seit Tagen ist er hier nicht mehr aufgetaucht. Gestern habe ich bei ihm angerufen: niemand. Heute wieder: niemand.«

»Vielleicht hat er das Lokal gewechselt«, schlug Doris vor.

»Das glaub ich nicht, pleite, wie er ist.«

»Vielleicht hat er eine andere Dumme gefunden, die ihm Kredit gibt.«

Barbara stand auf. »Weißwein?«

»Campari.«

Barbara ging ans Buffet und kam mit einem Glas Campari mit Eis und Zitrone und einer Flasche Mineralwasser zurück. »Sag ›Halt‹.«

»Ganz voll.«

Barbara füllte das Glas bis oben mit Mineralwasser. »Pröschtli«, sagte sie gewohnheitsmäßig.

Doris nahm einen Schluck. »Orange, nicht Zitrone. In den Campari gehört ein Schnitz Orange, nicht Zitrone. Das machen alle falsch.«

»Wenn es alle falsch machen, ist es nicht mehr falsch.« Barbara setzte sich wieder. »Tagsüber nimmt er auch nicht ab. Und im Blauen Kreuz war er auch nicht.«

Doris Maag wurde dienstlich. »Die meisten Vermißten tauchen wieder auf. Fast immer gibt es eine ganz banale Erklärung für ihr Verschwinden.«

»Das paßt irgendwie nicht zu ihm.«

»Das sagen sie immer.«

»Und er schuldet mir 1645.«

»In gewissen Kreisen reicht das bereits zum Verschwinden.«

»Nicht in seinen.«

Barbara stand auf und ging zu einem Gast, dessen Winken sie ein paarmal übersehen hatte und der jetzt energisch mit einem Fünfliber auf den Tisch klopfte. Als sie zurückkam, sagte sie: »In letzter Zeit war er oft deprimiert. Wegen nichts kamen ihm die Tränen.«

»Das trunkene Elend.«

»Auch das ist ein Elend. Die meisten Leute, die sich umbringen, sind besoffen.«

»Der bringt sich nicht um.«

»Manchmal hört man von Leuten, die liegen wochenlang tot in ihrer Wohnung, und kein Schwein merkt es.«

»Kürzlich hatte einer ein Schlägli in der Badewanne und konnte nicht raus und nicht ans Telefon, und niemand hörte ihn. Er konnte nur warten und ab und zu heißes Wasser nachfüllen und hoffen, daß ihn jemand vermißt. Dann hatte er die Idee, den Überlauf mit dem Waschlappen zu verstopfen und das Bad so lange überlaufen zu lassen, bis die unten den Hauswart alarmieren. Das hat dann funktioniert. Aber die Versicherung will jetzt den Wasserschaden nicht bezahlen. Weil er vorsätzlich verursacht wurde.«

»Konis Wohnung hat nur Dusche.«

»Siehst du.«

Die Tannenstraße 134 lag nur fünf Minuten zu Fuß vom Rosenhof. Barbara hatte Doris bearbeitet mitzukommen. Falls sie den Hauswart bitten mußten, die Tür aufzuschließen, wirke das offizieller mit der Uniform.

»Ich bin im Verkehrsdienst, nicht bei der Kripo«, hatte Doris protestiert, aber dann war sie doch mitgekommen.

Als sie vor fünf Minuten aus dem Rosenhof noch einmal angerufen hatten, hatte sich niemand gemeldet. Konrads Wohnung im dritten Stock war dunkel. Nur hinter einem kleinen milchverglasten Fenster brannte Licht.

»Das Badezimmer!« Barbara drückte auf die Klingel mit dem Namen »O. Bruhin, Hauswart«.

Dreimal mußte sie läuten, bis im Treppenhaus Licht anging. »Du redest«, zischte Barbara Doris zu, als ein mißmutiger, zerzauster Mann mit verquollenem Gesicht aufmachte.

»Unsereins muß morgens um halb sechs raus«, brummte er. Als er Doris’ Uniform sah, wurde er etwas umgänglicher. Er hörte sie an und willigte ein nachzuschauen. Er führte sie in den dritten Stock und ließ sie dort warten. Nach einer Weile kam er mit dem Passepartout zurück und steckte ihn ins Schloß.

»Geht nicht, Schlüssel steckt von innen.«

»Dann müssen wir die Tür aufbrechen«, verlangte Barbara.

Der Hauswart wandte sich an die Politesse. »Dazu muß ich Ihren Ausweis sehen.«

Während Doris Maag ihren Dienstausweis herausfingerte, drehte sich in der Wohnung der Schlüssel im Schloß. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Konrad Langs erstauntes Gesicht erschien.

»Koni, bist du in Ordnung?« fragte Barbara.

»Und wie«, antwortete er.

Konrad Lang hatte gerade die erste Woche ohne Alkohol hinter sich gebracht. Das Jucken und Kribbeln war am Abklingen. Die Phase der Nächte, in denen er ohne Schweißausbrüche durchschlafen konnte, begann. Er stand ausgeruht und voller Tatendrang auf, und die Momente, in denen er an Alkohol dachte, das »Reißen«, wie er es nannte, begannen seltener zu werden.

Er besaß viel Übung im Aufhören. Er kannte jedes Stadium bis zum zweiten Monat. Er erinnerte sich an die Euphorie, die jeweils ab dem dritten Tag von ihm Besitz genommen hatte. Aber diesen unbeschreiblichen Taumel, in dem er sich diesmal befand, hatte er noch nie gespürt. Der konnte nicht nur von den paar fehlenden Gläschen stammen. Und auch nicht nur von seiner unerwarteten finanziellen Verbesserung. Der hatte noch einen anderen Grund: Rosemarie Haug.

Sie hatten seit der »Nacht des Vergessens«, wie sie sie jetzt nannten, jeden Tag und jede Nacht zusammen verbracht.

Sie fuhren mit dem einzigen Linienschiff, das in dieser Jahreszeit verkehrte, als einzige Passagiere bis ans Ende des nebligen Sees und wieder zurück.

Sie gingen in den Zoo und schauten den Affen zu, in Gesellschaft einer alten Frau, die ihren Schimpansen mit Namen anredete und von ihm erkannt wurde.

Sie spazierten den Weg mit den alten Gaslaternen bis zum Aussichtsturm hinauf, aßen im altmodischen Ausflugslokal inmitten von Rentnern Apfelkuchen und tranken Kaffee.

»Wie alte Leute«, hatte Rosemarie gesagt.

»Ich bin ja auch ein alter Mann.«

»Kommt mir nicht so vor«, hatte sie gelächelt.

Auch Konrad Lang kam es nicht so vor.

Am vorigen Abend waren sie ins Konzert gegangen. Ein Schumann-Abend. Als Rosemarie Konrad einmal von der Seite ansah, hatte er nasse Augen. Sie nahm seine Hand und drückte sie fest.

Als Konrad an diesem Tag in den Spiegel blickte, stellte er bereits eine Veränderung fest. Es kam ihm vor, als hätten sich die Gefäße durch den Alkoholentzug schon etwas verengt, seien die Wangen etwas weniger gerötet, die geplatzten Äderchen etwas weniger sichtbar. Auch die Tränensäcke waren nicht mehr so gedunsen, das ganze Gesicht wirkte straffer, der ganze Mann unternehmungslustiger. Und, wie er fand, jünger.

Vielleicht, dachte Konrad Lang, hat jetzt endlich meine Glückssträhne begonnen.

In dieser Stimmung war er, als Barbara mit der Politesse und dem Hauswart seine Wohnung aufbrechen wollte. Er war seit zwei Tagen nicht mehr in der Wohnung gewesen und wollte sich frische Wäsche, ein paar Kleider und sonst ein paar Sachen holen, als er die Stimmen vor der Wohnungstür hörte.

Der Hauswart und die Politesse verabschiedeten sich schnell. Barbara blieb. Sie fand, er sei ihr eine Erklärung schuldig.

Konrad gab sie ihr gern. Voller Enthusiasmus erzählte er der immer stiller werdenden Barbara von der großen glücklichen Wende in seinem Leben. Als er geendet hatte, fragte er beiläufig: »Wieviel bin ich dir schuldig?«

»Tausendsechshundertfünfundvierzig«, gab sie zur Antwort.

Konrad Lang zückte seine Brieftasche und zählte ihr tausendachthundert Franken auf den Tisch.

»Ich nehme keine Zinsen«, sagte sie und gab ihm aus ihrem großen Kellnerportemonnaie heraus.

»Freust du dich nicht für mich?« fragte Konrad.

»Doch«, antwortete Barbara. Es stimmte ja auch. Sie war nicht eifersüchtig. Aber sie verlor nicht gern den einzigen Menschen, bei dem es sie nicht störte, daß er sie ausnützte.

Konrad Lang bestellte ein Taxi, nahm sein Köfferchen und setzte Barbara vor ihrer Wohnung ab.

An der Haustür gab er ihr einen väterlichen Kuß. »Mach’s gut. Und: danke für alles.«

»Mach’s auch gut«, erwiderte Barbara.