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Auf beiden Seiten der Straße vor der »Villa Rhododendron« parkten frischgewaschene Autos, keines unter hunderttausend Franken. Die Stadtpolizei wies die ankommenden Gäste ein und lotste den Durchgangsverkehr durch die schmale Gasse zwischen dem Wagenpark. »Wie wenn wir nichts Gescheiteres zu tun hätten, als Parkwächter für Multimillionäre zu spielen«, hatte der diensthabende Offizier gemault, als er den Auftrag von seinem Vorgesetzten erhalten hatte. Dieser hatte eine hilflose Bewegung gemacht und nach oben gezeigt.

Vor dem Eisentor verglichen zwei Uniformierte eines privaten Wachdienstes die Einladungen mit der Gästeliste und behielten die Fotografen im Auge, die auf eine Gelegenheit lauerten, um hineinzuschlüpfen.

»Wenn solche Leute Hochzeit feiern, spielt sogar das Wetter mit«, sagte der Reporter des Boulevardblattes zum Reporter des Lokalblattes. »Bei uns hat es geschifft.«

Es war wirklich ein unverschämt schöner Sommertag. Ein paar saubere Schönwetterwölkchen schwebten am tiefblauen Himmel, ein Lüftchen sorgte dafür, daß die strahlende Junisonne nicht zu heiß wurde, es duftete schon nach Lindenblüten und den Heckenröschen an den Grundstücksmauern.

Der Park der Villa sah aus wie das Hauptquartier eines Heerlagers während der Napoleonischen Kriege. Überall Zelte, beflaggt mit Wimpeln und Fahnen von Nationen, die nur in der Phantasie des Eventdesigners existierten.

Die Gäste saßen auf Fauteuils an weißgedeckten, blumenübersäten Tafeln in den nach allen vier Seiten offenen Zelten. Oder unter den alten Bäumen auf langen Bänken vor hölzernen Festtischen. Oder sie lagerten in malerischen Grüppchen auf Picknickdecken im gepflegten Rasen.

An verschiedenen Punkten des Parks wechselten sich Streichquartette, Country Bands, Tanzorchester und Ländlerkapellen ab.

Ein angemessenes Hochzeitsfest für den Erben der Koch-Werke.

Urs Koch machte die Honneurs bei den Gästen. Überall, wo er mit seiner süßen Braut auftauchte, klatschte man, küßte das Paar und gratulierte den beiden zueinander und zum gelungenen Anlaß und zum herrlichen Wetter.

An der Brüstung der Veranda stand Thomas Kochs dritte Frau Elli und schaute dem Treiben zu.

Als Thomas sie Anfang der Siebzigerjahre kennengelernt hatte, hatte Karl Lagerfeld vor kurzem die Leitung von Chanel übernommen. Elli Friedrichsen war eines seiner Lieblingsmannequins gewesen. Ein Jahr später hatte sie Thomas Koch geheiratet. Zehn Jahre später lebte sie ihr eigenes Leben, so weit weg von Thomas wie möglich.

Neben ihr lehnte Inga Bauer, eine Schwedin, die viele Jahre jünger war als Elli und mit fünfundzwanzig einen Industriellen aus Thomas Kochs Bekanntenkreis geheiratet hatte.

Die beiden Frauen hatten sich rasch angefreundet. Elli war für Inga der einzige Halt in dieser seltsamen Mischung aus Biederkeit und Dekadenz geworden, die in den Kreisen der Schweizer Hochfinanz herrscht. Elli gefiel an Inga, daß sie sich auch von zehn Jahren Bauer-Clan nicht hatte desillusionieren lassen. Sie hatte sich, so gut es ging, ihre Ideale bewahrt und besaß eine erfrischende Art, ihre Meinung über falsch und richtig kundzutun.

»Wenn ich gewußt hätte, daß Koni nicht eingeladen ist, wäre ich nicht gekommen.«

»Ein großes Opfer für einen alten Langweiler.«

Inga deutete auf die Hochzeitsgäste. »Findest du die hier amüsanter?«

Elli schenkte einem Paar, das Arm in Arm an der Terrasse vorbeischlenderte, ihr Chanel-Lächeln.

»Nein, amüsanter sind die nicht. Aber wichtiger. Man muß schon genug bedeutende Langweiler ertragen. Warum soll man sich auch noch mit den unbedeutenden herumschlagen?«

»So denkst du?«

»So denkt Thomas.«

»Und du?«

Elli nahm einen Schluck aus dem Champagnerglas. »Ich? Ich lasse mich scheiden.«

Das kam überraschend. Inga hatte die Ehe von Elli nicht als etwas betrachtet, was den Aufwand einer Scheidung lohnte.

»Das bist du doch praktisch schon lange.«

»In Zukunft möchte ich es auch theoretisch sein.«

»Warum denn?«

Elli lächelte. »Es gibt jemanden, der das möchte.«

Inga strahlte sie an. »Hört das denn nie auf?«

»Das mußt du Elvira fragen. Ich bin erst sechsundvierzig.«

Die Ländlerkapelle bei der Fichtengruppe spielte Hoch soll’n sie leben, und die Gäste dort stimmten ein. Sie standen auf und prosteten Urs und seiner Braut zu.

»Armes Mädchen.«

»Wenn das die Frau ist«, wunderte sich Inga, »die er die ganze Zeit gesucht hat, dann hätte er all die andern vor ihr auch heiraten können.«

Elli warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Simone war einfach gerade aktuell, als Elvira beschloß, daß die Zeit für Urs gekommen sei. So wie damals Urs’ Mutter gerade aktuell war, als Elvira beschloß, daß für Thomas die Zeit gekommen sei.«

»Das klingt wie im letzten Jahrhundert«, lachte Inga.

»Schau dich doch um«, erwiderte Elli. »Das ist das letzte Jahrhundert.«

Elvira Senn hielt Hof im Brautzelt und wirkte nicht, als ob es ein Höchstalter für die Liebe gäbe. Sie strahlte vor Zufriedenheit und funkelte vor Juwelen, war schlagfertig und charmant und wahrte stets eine Handbreit Luft zwischen der Lehne des gepolsterten Stuhls und ihrem geraden Rücken.

Thomas saß ihr gegenüber und war weniger gelöst. Ellis Verhalten irritierte ihn. Normalerweise mimten sie bei gesellschaftlichen Anlässen das glückliche Paar, dessen Erfolgsrezept für die perfekte Ehe lautete: jedem seinen Freiraum. Aber heute hielt sie ihn auf Distanz. Sie hatte sich geweigert, mit ihm als quasi Bräutigamsmutter die Runde durch die Gäste zu machen, sie hatte mit den Brauteltern (einem Paar, zugegebenermaßen etwas overdressed, das die Begeisterung darüber, daß ihre Tochter so weit über ihre Verhältnisse geheiratet hatte, schlecht verbergen konnte) nicht mehr als zwei Sätze gewechselt. Und sie ging ihm ganz unverhohlen aus dem Weg.

Auch mit seiner Rolle als Nummer zwei konnte er sich nicht anfreunden. Bisher war bei solchen Anlässen immer er das Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen. Oder sollte es seine Frau oder Urs gewesen sein, dann immer, weil er es so gewollt hatte. Diesmal war es anders. Urs wurde gefeiert als der kommende Mann. So weit war Thomas noch nicht.

Was ihn aber am meisten aus dem Konzept brachte, war Koni Lang. Früher wäre er hier aufgetaucht, mit oder ohne Einladung. Koni wäre zwar an der Türkontrolle hängengeblieben, aber er besaß für solche Situationen immer noch ein Auftreten, das zumindest bewirkt hätte, daß jemand vom Sicherheitsdienst gekommen wäre, um Thomas zu holen. »Draußen steht ein Herr, der sagt, er sei Ihr ältester Freund und hätte die Einladung zu Hause liegenlassen.«

Aber diesmal würde er nicht aufkreuzen. Er war in Italien. Er hatte Urs und Simone eine sehr formelle Glückwunschkarte und einen schönen Strauß von »Blossoms«, dem aufsehenerregendsten Blumengeschäft der Stadt, schicken lassen. Thomas hatte er einen persönlichen Brief geschickt.

Lieber Tomi
In ein paar Tagen beginnt für Dich eine neue Phase Deines Lebens: Dein Sohn wird eine Familie gründen, und damit ist der letzte Schritt zur Stabübergabe gemacht. Bald wirst Du in die Ränge zurücktreten mit dem beruhigenden Gefühl, daß Dein und Elviras Werk in guten Händen ist.
Auch mein Leben hat eine entscheidende Wende genommen. Stell Dir vor, ich habe auf meine alten Tage die Frau meines Lebens kennengelernt. Ich bin verliebt wie ein Gymnasiast, habe aufgehört zu trinken, und das Leben, das mir (und damit ja auch Euch) in letzter Zeit so manchen Streich gespielt hat, scheint es plötzlich gut mit mir zu meinen.
Ist es nicht seltsam, wie wir wieder einmal zur gleichen Zeit an ganz verschiedenen Orten an einen Wendepunkt in unserem Leben gekommen sind? Hast Du nicht auch manchmal das Gefühl, unsere Schicksale seien ganz eng verbunden, ob wir das nun wollen oder nicht?
Wir sind hier auf einer kleinen, sentimentalen Reise durch Italien. Als wir unter den Arkaden am Markusplatz zu Mittag aßen, sah ich uns plötzlich wieder als kleine Buben, wie uns Elvira und Anna abwechselnd fotografiert hatten. Erinnerst Du Dich? Du wolltest eine Taube fangen und bist gestürzt und hast Dir das Knie blutig geschlagen. Anna hat es Dir in dem Restaurant, in dem wir heute aßen, ausgewaschen und mit einer Damastserviette verbunden. Elvira wurde schlecht, wegen dem Blut.
Wie lange ist das her? Sechzig Jahre oder sechs Tage?
Nächste Woche sind wir wieder in der Schweiz. Du wirst überrascht sein, wenn Du Rosemarie kennenlernst.
Ich wünsche Dir von Herzen alles Gute.
In alter Freundschaft

Dein Koni

Thomas Koch konnte sich nicht daran erinnern, mit Koni als Kind in Venedig gewesen zu sein.

»Gehen wir ein paar Schritte?« fragte Elvira. Die Herren am Tisch erhoben sich. Thomas reichte ihr den Arm. Sie schlenderten durch den festlichen Park.

»Was bedrückt dich?«

»Nichts, warum?«

»Du grübelst.«

»Wenn das einzige Kind heiratet.«

Elvira lächelte. »Das schmerzt nur beim ersten Mal.«

Jetzt lächelte auch Thomas. Sie setzten sich auf eine Bank, abseits vom Geschehen.

»Waren wir einmal als Kinder in Venedig, Koni, ich, du und Anna?«

Elvira horchte auf. »Warum fragst du?«

»Koni hat aus Venedig geschrieben. Er erinnert sich, wie ich auf dem Markusplatz eine Taube gejagt und mir das Knie aufgeschlagen habe. Anna habe die Wunde mit einer Serviette verbunden und dir sei schlecht geworden.«

»Dummes Zeug«, antwortete Elvira.

Das Hochzeitsfest dauerte bis spät in die Nacht. Als es dunkel wurde, zündete man im Garten Lampions und Fackeln an. Das »Pasadena Roof Orchestra« spielte English Waltz und Foxtrott, und die Paare tanzten auf der großen Terrasse. Beim kleinen Pavillon in den Rhododendren sang einer zur Gitarre, der wie Donovan klang und auch Donovan war, und im großen Zelt saß George Baile am Flügel und spielte aus dem American Songbook.

Um elf Uhr stieg ein großes Feuerwerk, das die Menschen in den Boulevard-Cafés in der Stadt unten verwundert beklatschten. Ab da gingen die ersten Gäste.

Urs drehte bis nach Mitternacht seine Runden und wurde zusehends betrunkener. Simone versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen, und es bedurfte des diskreten, aber energischen Eingreifens Elviras, bis das Brautpaar endlich in die wartende Limousine stieg. »Just married!«

Kurz vor zwei setzte sich Thomas Koch mit schwerer Schlagseite zu George Baile an den Flügel und begann Oh when the Saints zu spielen, gutmütig sekundiert vom Pianisten (dessen Honorar von achtzehntausend Franken solche Eskapaden seiner Auftraggeber gerade noch rechtfertigte) und begeistert applaudiert vom harten Kern der Gäste.

Um drei Uhr gingen die letzten. Das erschöpfte Personal löschte die Lampions und die Fackeln, die noch schmauchten.

Thomas Koch nahm sich ein Bier mit ins Zimmer. Als er sich damit auf den Bettrand setzte, fiel sein Blick auf eine Notiz in der Handschrift seiner Frau.

»Kann ich Dich morgen sprechen? Schlage vor: nach dem Mittagessen in der Bibliothek. Elli«

Am Nachmittag des folgenden Tages hielt es Elvira Senn nicht mehr aus. Sie mußte Konrad Langs Brief sehen. Sie spazierte den Weg vom »Stöckli« zur Villa hoch. Die Zelte waren abgebrochen, die Spuren des Festes verschwunden.

Thomas bewohnte einen Trakt der Villa, Elli einen anderen, Urs den Turm. Die großen Gesellschaftsräume wurden nach Bedarf von allen genutzt.

Als Elvira die Halle betrat, kam Elli gerade aus der Bibliothek, winkte ihr zu und ging die breite Freitreppe zum ersten Stock hinauf.

Thomas erschien in der Bibliothekstür. »Elli!« Er bemerkte seine Stiefmutter. »Sie will sich scheiden lassen. Verstehst du das?«

Elvira zuckte die Schultern. Sie verstand nicht, wie man sich scheiden lassen konnte, aber es überraschte sie nicht. Sie wußte, daß es schwer war, mit Thomas zu leben, und daß eine Frau, wenn sie sich einmal zur Scheidung von ihm entschlossen hatte, vor Gericht auf jeden Fall recht bekommen würde. Dann ging es nur noch um Schadensbegrenzung. Elvira verfügte über die richtigen Anwälte für solche Angelegenheiten. Sie kannte Elli als vernünftige und realistische Frau, mit der sich reden ließ. Die Scheidung an sich war einfach zu handhaben. Mühsam war nur Thomas mit seinem verletzten Stolz.

Sie ging mit ihm in sein »Herrenzimmer«, hörte sich sein Gejammer an, teilte seine Empörung und bestärkte ihn in seiner Meinung über Elli, solange ihre rasch erschöpfte Geduld das zuließ. Dann kam sie auf Konrad Langs Brief zu sprechen. Thomas konnte sich nicht erinnern, was er damit gemacht hatte, wußte nur, daß er ihn vor dem Mittagessen noch hatte. Es war Elvira, die ihn schließlich zusammengeknüllt in der Tasche seines Morgenrocks fand.

Sie strich ihn glatt und las ihn sorgfältig durch. Dann knüllte sie ihn wieder zusammen. »Er phantasiert.«

»Er hat aber aufgehört zu saufen, schreibt er.«

»Und das glaubst du?«

»Aber mit dem Wendepunkt hat er leider recht.«

Elvira legte den zusammengeknüllten Brief in den großen Kristallaschenbecher, der auf dem Beistelltischchen neben ihrem Sessel stand. »Warum fährst du nicht irgendwohin mit ihm. Das bringt dich auf andere Gedanken.«

»Ich kann ihn doch jetzt nicht von seiner Liebsten trennen.«

»Ein paar Wochen werden es die beiden wohl ohne einander aushalten.«

»Ich weiß nicht. Es scheint ihm so gut zu gehen.«

»Und dir geht es nicht gut. Ich finde, das ist er dir schuldig.«

»Meinst du?«

»Schon allein wegen Korfu.«

Elvira nahm das Feuerzeug vom Tisch und steckte Konis Brief in Brand.

Das Auftauchen von Thomas Koch in der Tannenstraße erregte Aufsehen. Sein Chauffeur fuhr den mitternachtsblauen Mercedes 600 SEL mit zwei Rädern auf das Trottoir und half Thomas aus dem Fond. Die Hilfe war nicht nur ein Ritual, der Chef war heute nicht ganz sicher auf den Beinen. Dabei war es noch früh am Nachmittag.

Ein paar türkische Kinder mit farbigen Schultaschen auf dem Rücken blieben stehen und schauten sich das Auto an. Das Tram fuhr etwas langsamer, und die Gesichter an den Fenstern drehten sich zur Limousine, die so gar nicht in diese Gegend paßte. »Wahrscheinlich einer von diesen Immobilienhaien, die ihre Abbruchbuden zu Wucherpreisen an die Nutten vermieten«, erklärte ein junger Mann seiner Freundin.

An einem Fenster im ersten Stock lehnte eine alte Frau. Sie hatte ein Kissen aufs Sims gelegt und stützte ihre schweren Unterarme darauf.

»Zu wem wollen Sie?« rief sie Thomas Koch zu, als sie sah, daß er zum zweiten Mal klingelte.

»Lang.«

»Den sieht man hier kaum mehr. Holt nur noch ab und zu die Post.«

»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

»Vielleicht weiß es der Hauswart.«

Thomas Koch drückte auf die Klingel und wartete.

»Sie müssen lange klingeln. Der hat Nachtschicht.«

Nach einer Weile bewegte sich im zweiten Stock ein Vorhang. Kurz darauf surrte der Türöffner. Thomas Koch ging hinein.

Othmar Bruhin, der Stapelfahrer in einer Montagehalle der Koch-Werke war und Hauswart in dieser Liegenschaft, die der Pensionskasse der Koch-Werke gehörte, sollte die Geschichte immer und immer wieder erzählen: Wie er direkt aus dem Bett, unrasiert und im Trainingsanzug die Tür öffnet, und da steht – »ich verreck, der Koch höchstpersönlich« – und will die Adresse von einem Mieter. »Und, wenn ihr mich fragt, eine Fahne hatte der auch.«

Als sich Thomas Koch vom Chauffeur wieder in den Wagen helfen ließ, nannte er ihm die Adresse von Rosemarie Haug.

Konrad saß mit Rosemarie auf der Terrasse und spielte Backgammon, als es klingelte. Er hatte ihr das Spiel auf ihrer Italienreise beigebracht, und sie spielten es seither leidenschaftlich. Teils wegen Rosemaries Ehrgeiz, denn sie hatte ihn noch nie schlagen können, teils aus Sentimentalität, denn es hielt die Erinnerungen an ihre erste gemeinsame Reise wach.

Rosemarie stand auf und ging an die Gegensprechanlage. Als sie zurückkam, war sie verwundert.

»Thomas Koch. Ob du hier seist.«

»Was hast du gesagt?«

»Ja. Er kommt rauf.«

Fast sein ganzes Leben lang war Thomas die wichtigste Figur in Konrads Leben gewesen. Aber in letzter Zeit war er mehr und mehr in den Hintergrund getreten. In Venedig hatte er sich zwar an ihn erinnert. Aber die Berichterstattung über Urs’ Hochzeit hatte er mit überraschend wenig Interesse verfolgt. Doch jetzt, wo Thomas jeden Moment durch die Tür treten würde, war er nervös. Er fühlte sich, wie er sich immer gefühlt hatte, wenn Thomas in der Nähe war: wie ein Rekrut vor der Inspektion durch den Schulkommandanten.

Rosemarie bemerkte die Veränderung. »Hätte ich sagen sollen, du seist nicht hier?« erkundigte sie sich, nur halb amüsiert.

»Nein, natürlich nicht.«

Sie gingen zur Wohnungstür. Draußen hörte man den Lift. Dann Schritte auf dem Gang.

»Was will der wohl?« murmelte Konrad. Mehr zu sich als zu Rosemarie.

Als es klingelte, zuckte er zusammen. Rosemarie öffnete.

Thomas Kochs Nase war zart und fein geschnitten und wirkte ein wenig deplaziert in dem fleischigen Gesicht. Er trug einen Blazer und einen Rollkragenpullover aus weinrotem Kaschmir, der seinen kurzen Hals noch dicker erscheinen ließ. Er hatte glänzende, eng beieinanderliegende Augen und roch nach Alkohol. Er nickte ihr knapp zu und wandte sich direkt an Konrad.

»Kann ich dich sprechen?«

»Natürlich. Komm herein.«

»Unter vier Augen.«

Konrad schaute Rosemarie an.

»Ihr könnt ins Wohnzimmer.«

»Mir wär’s lieber, wir gingen irgendwohin.« Thomas ließ keinen Zweifel daran, daß das nicht als Wunsch zu verstehen war.

Konrad warf Rosemarie einen hilfesuchenden Blick zu. Sie runzelte irritiert die Stirn. Thomas wartete.

»Ich zieh mir nur schnell die Jacke an.«

Konrad verschwand im Schlafzimmer. Rosemarie gab Thomas die Hand. »Ich heiße Rosemarie Haug.«

»Thomas Koch, freut mich.«

Dann warteten sie stumm, bis Konrad wieder aus dem Schlafzimmer kam. Er hatte sich eine Krawatte umgebunden und trug eine zur Hose passende Leinenjacke.

»Gehen wir«, sagte er und folgte Thomas zum Lift.

»Ciao«, rief ihm Rosemarie nach. Vielleicht etwas spitz.

»Ach ja, ciao!« Konrad blieb stehen, schien noch einmal zurückkommen zu wollen, um sich richtig zu verabschieden, bemerkte, daß Thomas schon beim Lift stand, und folgte ihm.

Rosemarie sah, wie er Thomas die Lifttür öffnete, ihm den Vortritt ließ und beflissen den Knopf drückte. Die Lifttür schloß sich, ohne daß Konrad noch einmal zu ihr zurückgeschaut hätte.

Thomas hob belustigt die Augenbrauen, als Konrad ein »Perrier« mit Eis und Zitrone bestellte. Er selbst bestellte einen doppelten »Tullamore Dew«, ohne Eis und ohne Wasser, seinen Depressionsdrink.

Charlotte hatte Konrad empfangen mit einem leicht vorwurfsvollen »auch mal wieder im Land«, aber sofort begriffen, als er etwas Alkoholfreies bestellte. Sie hatte schon viele aufhören gesehen. Das ging vorbei.

Die Bar des Des Alpes (den alten Zeiten zuliebe und weil sie, jedenfalls für Thomas, günstig lag) war leer bis auf die Hurni-Schwestern. Roger Whittaker sang Don’t cry, young lovers, whatever you do. An einem Tischchen in einer Nische hielt Tomi seinen Monolog, Koni hörte zu.

»Du weißt ja, wenn sie einen andern haben, sehen sie plötzlich besser aus.«

Koni nickte.

»Ich habe gar nichts dagegen, wenn sie sich ab und zu einen anlacht. Du weißt, ich bin ja auch nicht gerade…«

Koni nickte.

»Behandelt mich wie das letzte Arschloch. Zitiert mich in die Bibliothek. Teilt mir mit, sie will sich scheiden lassen.«

Koni nickte.

»Nicht: teilt mir mit – setzt mich davon in Kenntnis.«

Koni nickte.

»Nicht: sie will sich scheiden lassen. Sie läßt sich scheiden. Punkt.«

Thomas Koch trank das Glas leer und hielt es in die Höhe. »Wie heißt sie?« fragte er.

»Charlotte«, flüsterte Koni.

»Charlotte!« rief Tomi.

»Damit ich es nicht vom Anwalt erfahre. – Charlotte!«

Die Barfrau kam mit einem neuen Glas. Ohne aufzublicken hielt ihr Tomi das leere hin.

»Würdest du dir das gefallen lassen?«

Koni schüttelte den Kopf.

»Weißt du, was die im Monat für Kleider ausgibt? Nur für Kleider?«

Koni schüttelte den Kopf.

Tomi nahm einen Schluck. »Ich auch nicht, aber das sag ich dir: verdammt viel. Du mußt sie dir nur anschauen.«

Koni nickte.

»Besonders jetzt. Wenn sie einen andern haben, sehen sie immer besser aus. Absichtlich. Um dich fertigzumachen.«

Koni nickte.

»Die mache ich auch fertig. Die wird sich noch wundern, was das Leben kostet.«

Konrad Lang, der einzige der Beteiligten, der wußte, was das Leben kostet, nickte.

»Die mach ich fertig.« Tomi machte ein Zeichen mit dem leeren Glas in Richtung Bar.

Als Charlotte den Whisky gebracht hatte, fragte er: »Fährst du noch Ski?«

»Eigentlich nein, nach Aspen habe ich aufgehört.«

1971, in der Krise seiner zweiten Scheidung, hatte Thomas Konrad aus dem Fundus geholt, war mit ihm nach Aspen gejettet und hatte ihn dort neu eingekleidet und ausgerüstet. Die beiden hatten früher beim selben Skilehrer Unterricht, und Konrad hatte sich in den vielen Wintersaisons in St. Moritz zu einem leidlichen Skifahrer (und ängstlichen Skeletonfahrer) entwickelt. Er hatte damals schon nach ein paar Tagen wieder eine ganz gute Figur gemacht. Aber das war jetzt auch schon wieder ein Vierteljahrhundert her.

»Das verlernt man nie, das ist wie Radfahren. Und das Material hat sich so entwickelt, da fährst du besser als damals.«

Tomi kippte seinen Whisky. »Wir fahren nach Bariloche«, bestimmte er. »Das bringt uns auf andere Gedanken.«

Koni nickte nicht.

»Was du brauchst, besorgen wir dir dort. Sieh zu, daß dein Paß noch gültig ist. Wir fliegen am Sonntag.«

Koni nickte nicht.

Tomi hielt sein leeres Glas hoch. Als Charlotte kam, sagte er: »Bring ihm auch einen.«

»Lieber nicht«, sagte Koni. Aber nicht laut genug für Charlotte, die schon wieder unterwegs zum Buffet war.

»Die kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Charlotte?«

»Nein, die, bei der du wohnst. Sollte ich sie kennen?«

»Sie ist die Witwe vom Röbi Fries.«

»Ach, die Witwe vom Röbi Fries? Die hat doch bestimmt auch ihre Fünfzig auf dem Buckel. Mindestens.«

»Ich habe sie nicht gefragt.«

»Aber noch ganz knackig.«

Koni nickte.

»Säufst du deshalb nichts?«

»Auch.«

Charlotte brachte die zwei Whiskys. Tomi hob sein Glas.

»Auf Bariloche.«

Koni nickte.

Als Konrad Lang kurz vor Mitternacht noch immer nicht aufgetaucht war, vergaß Rosemarie Haug ihren Stolz und wählte seine Nummer. Besetzt.

Kurz nach Mitternacht versuchte sie es wieder. Immer noch besetzt.

Als um ein Uhr immer noch besetzt war, rief sie den Störungsdienst an und erhielt die Auskunft, der Teilnehmer habe nicht richtig aufgelegt.

Wenn er nicht wollte, daß ich ihn anrufe, hätte er den Stecker rausgezogen, sagte sich Rosemarie und bestellte ein Taxi.

Es war das dritte Mal, daß Othmar Bruhin wegen Konrad Lang aus dem Schlaf gerissen wurde. Er hatte diesmal Frühschicht, und der Wecker hätte in anderthalb Stunden geklingelt. Als er auf die Uhr schaute, wußte er, daß es zu früh war, um aufzustehen, und zu spät, um noch einmal einzuschlafen.

Entsprechend war seine Laune, als er unten die Tür öffnete.

Die Frau, die vor ihm stand, war das, was sein Vater »eine Dame« zu nennen pflegte, das sah er auch im schwachen Licht des Treppenhauses. Sie war etwas verlegen, aber nicht so, wie es der Situation angemessen gewesen wäre. Ziemlich bestimmt verlangte sie, von ihm zu Langs Wohnungstür gebracht zu werden. Sie hätte schon ein paarmal geklingelt, aber er mache nicht auf.

»Vielleicht ist er nicht zu Hause«, brummte Bruhin.

»Es brennt aber Licht.«

»Vielleicht hat er es brennen lassen. Vielleicht schläft er.«

»Der Hörer ist nicht richtig aufgelegt.«

»Vielleicht will er nicht gestört werden. Soll ja vorkommen«, schlug Bruhin vor. Irgend etwas provozierte ihn an der Frau.

»Hören Sie, ich mache mir Sorgen, daß etwas passiert ist. Wenn Sie mir nicht aufmachen und es ist etwas passiert, werde ich Sie dafür verantwortlich machen.«

Da ließ Bruhin sie herein und führte sie in den dritten Stock.

Sie klingelten und klopften, polterten und riefen, bis das halbe Haus zusammengelaufen war. Konrad Lang reagierte nicht. Bruhin hätte alle wieder ins Bett geschickt, wenn die Klaviermusik nicht gewesen wäre. Wegen ihr ließ er sich schließlich überreden, den Passepartout zu holen.

Es steckte kein Schlüssel von innen. Bruhin und die Frau gingen hinein und erschraken: Konrad Lang lag halb entkleidet auf dem Boden des Wohnzimmers, ein Bein auf einem Fauteuil, Mund und Augen halb geöffnet. Auf dem Tisch stand eine halbleere Flasche Whisky neben einem Keyboard, aus dem die immer gleichen Begleittakte eines Walzers erklangen. Mtätä, mtätä, mtätä, mtätä… Das Zimmer stank nach Alkohol und Erbrochenem.

Rosemarie kniete neben ihm nieder. »Koni«, flüsterte sie, »Koni«, und fühlte seinen Puls.

Konrad Lang stöhnte. Dann hielt er den Zeigefinger an die Lippen. Psst.

»Wenn Sie mich fragen, der ist besoffen«, konstatierte Bruhin und ging.

Die Hausbewohner, die gespannt vor der Wohnungstür warteten, beruhigte er: »Alles in Ordnung. Besoffen.«

Als Konrad Lang erwachte, lag er in seinem eigenen Bett, das wußte er, auch ohne die Augen zu öffnen. Er erkannte den Verkehrslärm wieder: die Autos, die an der Ampel hielten, warteten, wieder anfuhren; die Trams, die an der Haltestelle klingelten.

Sein Kopf tat weh, seine Augenlider schmerzten, sein Mund war trocken, und sein Arm fühlte sich an, als ob er dumm drauf gelegen hätte. Er hatte ein ungutes Gefühl, wie wenn er etwas zu bereuen hätte, an das er sich noch nicht erinnern konnte.

Langsam öffnete er die Augen. Das Fenster war offen, aber die Vorhänge waren zugezogen. Es war Tag. Er hatte einen Kater. Was noch?

Ich trinke ja gar nicht!, durchfuhr es ihn. Er schloß die Augen wieder. Was noch?

Tomi! Was noch?

Aus der Küche drang ein Geräusch. Dann hörte er Schritte. Und dann eine Stimme.

»Hilft dir Alka Seltzer?«

Rosemarie!

Er öffnete die Augen. Rosemarie stand neben dem Bett mit einem Glas, in dem es schäumte.

Konrad räusperte sich. »Drei. Drei helfen ein wenig.«

»Das sind drei.« Rosemarie hielt ihm das Glas hin. Er stützte sich auf den Ellbogen und trank es in einem Zug leer.

Bariloche!

»Ich fahre jetzt nach Hause. Wenn du willst, kannst du kommen, wenn es dir bessergeht.« An der Tür blieb sie stehen. »Nein: Bitte komm, sobald es dir bessergeht.«

Als Konrad Lang am Nachmittag aus dem Haus ging, kam Bruhin gerade von seiner Frühschicht zurück. »Was die Frauen an Ihnen finden«, sagte er im Treppenhaus.

»Wie meinen Sie das?«

»So besoffen und vollgekotzt, und die stehen immer noch auf Sie.«

»Vollgekotzt?« Konrad hatte keine Spuren davon vorgefunden.

»Von oben bis unten. Kein schöner Anblick.«

Konrad ließ das Taxi vor einem Blumenladen halten und kaufte einen großen Strauß bunter Freilandrosen, die ihm fast zu stark dufteten für seinen immer noch etwas labilen Magen.

Rosemarie lächelte, als er mit den Rosen an der Tür stand. »Wir beide lassen kein Klischee aus.«

Dann machte sie ihm eine Bouillon mit Ei, setzte sich zu ihm an den Tisch und schaute zu, wie er sie vorsichtig mit zittriger Hand löffelte. Als er fertig war, trug sie die Tasse hinaus und kam mit einer Flasche Bordeaux und zwei Gläsern zurück. »Oder brauchst du ein Bier?«

Konrad schüttelte den Kopf. Rosemarie schenkte die Gläser voll, und sie stießen an.

»Scheiße«, sagte er.

»Scheiße«, antwortete sie. Dann nahmen beide einen Schluck.

Danach erzählte ihr Konrad das mit Bariloche.

Jetzt saßen sie beim dritten Glas.

»Nur für zehn Tage«, sagte er.

»Und wenn er anschließend nach Acapulco will, sagst du dann nein?«

»Klar.«

»Das tust du nicht. Ich habe dich gesehen, als er kam. Du sagst dem nicht nein. Nie und nimmer.«

Konrad erwiderte nichts.

»Du mußt es wissen.«

Konrad drehte am Stiel seines Glases.

»Es ist dein Leben.«

Jetzt schaute er auf. »Eine Weile hatte ich gedacht, es sei unser Leben.«

Rosemarie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er zuckte zusammen. »Ja, glaubst du denn, ich nicht?« schrie sie ihn an.

Konrads Augen füllten sich mit seinen raschen Tränen. Rosemarie legte ihren Arm um ihn. Er lehnte den Kopf an ihre Schulter und weinte hemmungslos.

»Entschuldige«, schluchzte er immer wieder, »ein alter Mann, und heult wie ein Kind.«

Als er sich beruhigt hatte, meinte sie: »Sag ihm nein.«

»Ich lebe von ihm.«

Rosemarie schenkte ihm nach. »Dann leb von mir.«

Konrad antwortete nicht.

»Geld ist da.«

Er trank einen Schluck.

»Das muß dir nicht peinlich sein.«

»Das war mir noch nie peinlich. Leider.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.«

»Ja. Aber was sage ich ihm?«

»Leck mich.«

Thomas Koch saß in seinem Schlafzimmer zwischen halbgepackten Koffern und Taschen und stürzte ein kaltes Bier runter. Auf dem Telefontischchen stand ein Tablett mit zwei vollen Bierflaschen. Er hatte eine Stinkwut. Koni hatte vorhin angerufen und ihm mitgeteilt, er komme nicht mit nach Argentinien.

»Was heißt, du kommst nicht mit?« hatte er amüsiert gefragt.

Konrad Lang antwortete nicht gleich. Thomas hörte, wie er Luft holte. »Ich habe keine Lust mitzukommen. Rechne nicht mit mir.«

»Du bist eingeladen.«

Wieder eine Pause. »Ich weiß. Ich schlage die Einladung aus. Herzlichen Dank.«

Thomas wurde langsam sauer. »Sag mal, spinnst du?«

»Ich bin ein freier Mensch. Ich habe das Recht, eine Einladung auszuschlagen«, sagte Koni. Aber es klang schon nicht mehr so überzeugt.

Tomi lachte. »War ein guter Witz. Morgen um neun. Ich schicke den Chauffeur. Wir fahren von hier aus gemeinsam zum Flughafen.«

Eine Weile blieb es still. Dann sagte Koni: »Leck mich!« und legte auf.

Thomas rief sofort zurück. Die Witwe von Röbi Fries antwortete.

»Geben Sie mir Koni«, befahl er.

»Lang«, meldete sich Koni.

»Mir legt man nicht den Hörer auf«, brüllte Thomas.

»Leck mich«, antwortete Konrad und legte auf.

Thomas Koch schenkte sich ein neues Bier ein und stürzte es runter. Dann wählte er die interne Nummer von Elvira.

»Er hat abgesagt.«

Elvira wußte sofort, wen er meinte. »Das kann er sich doch gar nicht leisten.«

»Er nicht, aber die Witwe von Röbi Fries. Er läßt sich jetzt von ihr aushalten.«

»Weißt du das bestimmt?«

»Ich war in ihrer Wohnung. Er wohnt auch bei ihr.«

»Und daß er nicht mehr trinkt, stimmt das?«

»Bevor ich kam, schon.« Thomas lachte. »Aber als ich ging, war er so besoffen wie immer.«

»Und trotzdem hat er dir abgesagt.«

»Da steckt die Frau dahinter.«

»Und was machst du jetzt?«

»Ich fliege allein.«

»Daß er dich jetzt hängenläßt, nach allem, was wir für ihn getan haben. Und immer noch tun.«

»Wieviel ist das?«

»Schöller hat die Zahlen, soll er sie dir geben?«

»Lieber nicht. Ich ärgere mich nur.«

Zehn Minuten später meldete sich Schöller. »Wollen Sie es detailliert oder pauschal?«

»Pauschal.«

»Rund hundertfünfzigtausendsechshundert im Jahr.«

»Wie bitte?«

»Wollen Sie doch die Monatsdetails?«

»In dem Fall schon.«

»Essen: tausendachthundert, Wohnen: tausendeinhundertfünfzig, Versicherung und Krankenkasse: sechshundert, Kleider: fünfhundert, Diverses: fünfhundert, Taschengeld: achttausend. Aufgerundet und im Schnitt.«

»Achttausend Taschengeld?« rief Thomas aus.

»Wurde im März von Frau Senn erhöht. Vorher waren es zwölfhundert.«

»Hat sie erwähnt, warum?«

»Nein, hat sie nicht.«

Thomas legte auf und schenkte sich Bier nach. Es klopfte.

»Ja«, rief er ärgerlich. Urs trat ein.

»Ich höre, du verreist.«

»Kannst du dir vorstellen, warum Elvira das Taschengeld von Koni im März von dreihundert auf zweitausend die Woche erhöht hat?«

»Hat sie das?«

»Eben hat Schöller es mir gesagt.«

»Zweitausend! Das gibt eine ganze Menge Schnaps.«

»Damit kann sich einer totsaufen.«

Urs fiel etwas ein. Er lächelte in sich hinein.

»Was gibt es zu grinsen?«

»Deswegen hat sie es ihm vielleicht erhöht.«

Thomas brauchte einen Moment. »Du glaubst, damit… nein, das traust du ihr zu?«

»Du nicht?«

Thomas überlegte. Dann lächelte er. »Doch, schon.«

Kopfschüttelnd saßen Vater und Sohn zwischen den Kleidern und Gepäckstücken und grinsten.

Zwei Stunden später stand Thomas Koch in der Tür des Penthouse von Rosemarie Haug.

»Kann ich dich unter vier Augen sprechen?« fragte er Konrad, ohne Rosemarie eines Blickes zu würdigen.

»Ich habe keine Geheimnisse vor Frau Haug.«

»Bist du da sicher?«

»Absolut.«

»Kann ich reinkommen?«

Konrad schaute zu Rosemarie. »Darf er reinkommen?«

»Wenn er sich benimmt.«

Konrad führte Thomas Koch ins Wohnzimmer. »Kann ich Ihnen etwas anbieten, Herr Koch?« fragte Rosemarie.

»Ein Bier.«

Sie brachte ein Bier für Koch und Mineralwasser für sie beide. Dann setzte sie sich neben Konrad aufs Sofa.

Thomas warf ihr einen irritierten Blick zu. Dann entschloß er sich, sie zu ignorieren.

»Ich finde, du bist es mir schuldig mitzukommen.«

»Warum?«

»Korfu, zum Beispiel.«

»Das mit Korfu tut mir leid. Aber ich bin dir nichts schuldig.«

»Und hundertfünfzigtausend im Jahr? Hundertfünfzigtausend nennst du nichts?«

»Für euch ist es nichts. Und für mich ist es nicht Verpflichtung genug, um alles liegenzulassen, wenn du pfeifst.«

»Du wirst noch erleben, was nichts heißt.«

»Ich kann dich nicht daran hindern.«

»Und dann lebst du von ihr? Glaubst du, ihr macht es Spaß, einen alten Säufer durchzufüttern?«

Konrad Lang schaute Rosemarie an. Sie nahm seine Hand.

»Konrad und ich werden heiraten.«

Für einen Moment verschlug es Thomas Koch die Sprache. »Röbi Fries wird sich im Grab umdrehen«, fiel ihm schließlich als Antwort ein.

Rosemarie stand auf. »Ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt.«

Er schaute sie ungläubig an. »Sie schmeißen mich raus?«

»Ich bitte Sie zu gehen.«

»Und wenn ich nicht gehe?«

»Rufe ich die Polizei.«

Thomas Koch griff nach seinem Bier. »Sie ruft die Polizei«, lachte er. »Hast du das gehört, Koni? Deine Zukünftige will deinen ältesten Freund von der Polizei aus der Wohnung schmeißen lassen. Hörst du das?«

Konrad stand wortlos auf und ging zu Rosemarie, die an der offenen Wohnungstür wartete.

Tomi knallte das Bierglas auf das Clubtischchen, sprang auf, stürmte zur Tür und baute sich vor Konrad auf.

»Du kommst also nicht mit, ist das dein letztes Wort?« schrie er ihn an.

»Ja.«

»Wegen der?«

»Ja.«

»Ohne mich wärst du ein Bauernknecht, hast du das vergessen?«

Plötzlich überkam Konrad eine große Ruhe. Er schaute Thomas in die Augen. »Leck mich.«

Thomas Koch versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Konrad Lang schlug zurück.

Dann ging er auf die Dachterrasse und wartete. Er sah, wie Koch unten aus der Haustür kam. Er hatte ein Taschentuch in der Hand und schneuzte sich.

»Tomi!« rief Konrad.

Thomas blieb stehen und sah hinauf. Konrad hob hilflos die Schultern. Thomas wartete. Konrad schüttelte den Kopf. Thomas wandte sich ab und ging.

Konrad spürte Rosemaries Hand auf seiner Schulter. Er lächelte sie an und legte den Arm um sie. »Ein trauriger Abschied.«

»Ist es nicht auch eine Befreiung?«

Er überlegte. »Wenn der Lebenslängliche das Gefängnis verläßt, ist auch das ein Abschied.«

Den ganzen Tag war Konrad Lang stiller als sonst. Am Abend pickte er ohne Appetit in der kalten Platte, die Rosemarie auftischte. Danach legte er Chopin auf und versuchte zu lesen. Aber es gelang ihm nicht, seine Gedanken beisammenzuhalten. Immer wieder wanderten sie zu Thomas Koch und der häßlichen Szene, die ihrer wechselhaften, einseitigen Freundschaft ein Ende bereitet hatte. Gegen zehn Uhr küßte ihn Rosemarie auf die Stirn und überließ ihn seiner Grübelei. »Ich komme auch gleich«, sagte er.

Aber er wanderte unruhig durch die Wohnung, ging auf die Terrasse und schaute auf den glatten See hinab und hinauf zum dünnen Mond über der stillen Stadt. Ein paarmal war er nahe daran, sich ein Glas einzuschenken mit etwas Starkem aus Rosemaries Hausbar.

Es war beinahe zwei Uhr früh, als Konrad ins Bett schlüpfte. Rosemarie tat, als schliefe sie.

Als Konrad Lang am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war Rosemarie schon aufgestanden. Er zog die Vorhänge auf. Draußen stand die Sonne hoch an einem tiefblauen Mittagshimmel. Es war beinahe ein Uhr. Ihm war leicht ums Herz, und er wußte nicht, warum.

Unter der Dusche fiel ihm die Szene mit Thomas wieder ein. Aber der Schmerz, den er gestern noch empfunden hatte, war verschwunden. Er spürte nichts als eine unbeschreibliche Erleichterung.

Er kleidete sich besonders sorgfältig, brach am Strauß, der auf Rosemaries Schminktisch stand, eine Rose ab und steckte sie ins Knopfloch seines Sommerjacketts.

Rosemarie saß auf der Terrasse und las Zeitung. Das rosa Licht der Markise schmeichelte ihrem Teint. Sie schaute besorgt auf, als sie Konrad hörte. Aber als sie sah, wie glücklich und unternehmungslustig er war, lächelte sie. »Du hast geschlafen wie ein Säugling.«

»So fühle ich mich auch.«

Er aß ein leichtes Frühstück, und sie verloren kein Wort über Thomas Koch. Erst als Konrad sagte: »Heute koche ich uns mein legendäres Stroganoff«, fügte er hinzu: »Zur Feier des Tages.«

Konrad ging ins Einkaufszentrum, das zehn Minuten zu Fuß im Dorfkern lag, und kaufte ein, wie immer zuviel.

Auf dem Rückweg verlief er sich. Als er einen Passanten nach dem Weg fragen wollte, hatte er Rosemaries Adresse vergessen.

Bepackt mit Einkaufstaschen stand er ratlos auf dem Trottoir einer ihm völlig unbekannten Gegend. Da nahm ihm jemand zwei Taschen ab. Eine Männerstimme sagte: »Mein Gott, sind Sie beladen, Herr Lang. Warten Sie, ich trage Ihnen das bis zum Haus.«

Der Mann war Sven Koller, der Anwalt, der die Wohnung unter Rosemarie Haug bewohnte.

Bis zum Haus waren es keine hundert Meter.