4

 

Konrad Lang hörte wieder auf zu trinken.

Für einen Alkoholiker ist das eine Beschäftigung, die den ganzen Tag ausfüllt. Unter anderem fing er wieder an, Tennis zu spielen. Tennis hatte zu Tomis Erziehung gehört, also hatte es auch Konrad gelernt.

Rosemarie war Mitglied eines Klubs, in den sie ihn jeden zweiten Tag als Gast mitnahm. »Tennis ist ein Life-time-Sport«, sagte der Klubtrainer, »und wenn man älter wird, ist das Zählen auch ein gutes Training fürs Gedächtnis.«

Es war als Witz gemeint. Er wußte nicht, wie nötig Konrads Gedächtnis Training hatte.

Seit jenem Zwischenfall, als er Rosemaries Haus nicht mehr finden konnte, obwohl er praktisch davor gestanden hatte, waren ihm ähnliche Dinge passiert. Das Dümmste: Er hatte im Lift den Knopf für den Keller gedrückt, war ausgestiegen und hatte den Weg zurück in den Lift nur durch Zufall wieder gefunden.

Das Gefährlichste: Er hatte Teewasser aufgesetzt (bei seiner rastlosen Suche nach Ersatzgetränken war er auf Tee, alle Sorten von Tee gestoßen) und die falsche Herdplatte angeschaltet. Dummerweise die, auf der eine hölzerne Salatschüssel stand. Als er eine halbe Stunde später in die Küche ging (um Teewasser aufzusetzen), brannte die Salatschüssel und die Rolle Haushaltspapier neben dem Herd ebenfalls.

Er hatte die Flammen gelöscht und die Beweisstücke verschwinden lassen. Rosemarie hatte er bis jetzt noch nichts von seinen Ausfällen gesagt. Er wollte sie nicht unnötig beunruhigen, er glaubte nicht, daß es sich um etwas Ernstes handelte. Das Blackout damals in Korfu führte er auf seinen Alkoholkonsum zurück. Und die Gedächtnisaussetzer und kleinen Schusseligkeiten der letzten Wochen waren wohl eine Art Entzugserscheinung. Davon abgesehen ging es ihm nämlich hervorragend.

Rosemarie war das Beste, was ihm in fünfundsechzig Jahren passiert war. Sie unterstützte ihn bei seiner selbstverordneten Entziehungskur, ohne die Krankenschwester zu spielen. Sie war eine gute Zuhörerin und eine unterhaltsame Erzählerin. Sie konnte zärtlich sein und, wenn sie in Stimmung waren, auch sehr aufregend.

Konrad Lang und Rosemarie Haug waren ein attraktives Paar: ein distinguierter reifer Herr mit seiner gepflegten, eleganten Frau. Sie gingen in den Tennisklub, ab und zu ins Konzert und gelegentlich in ihr Lieblingsrestaurant. Sonst lebten sie zurückgezogen. Konrad, der sich rasch als der bessere Koch erwiesen hatte, kochte oft aufwendige Abendessen, zu denen sie sich hin und wieder aus Übermut in Abendgarderobe warfen. Gelegentlich setzten sie sich zusammen ans Klavier, und fast jeden Abend spielten sie ein paar Partien Backgammon.

Konrad Lang verbrachte seinen wohl glücklichsten Sommer. Als der Herbst kam, fühlte er sich weder einsam noch traurig. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.

Elvira Senn war die Sache nicht geheuer. Als Thomas unverrichteter Dinge von Konrad zurückgekommen war, hatte er nur gesagt: »Ab sofort keinen Rappen mehr.« Mehr war nicht aus ihm herauszuholen gewesen. Dann war er nach Argentinien geflogen.

Sie hatte Schöller gleich die nötigen Anweisungen geben wollen, aber dann doch gezögert. Solange sie nicht wußte, was bei der letzten Begegnung der beiden vorgefallen war, mochte sie kein Risiko eingehen. Sie wollte Konrad nicht unnötig in die Enge treiben. Wer weiß, wie er reagieren würde.

Statt dessen gab sie Schöller den Auftrag, über Langs momentane Situation Informationen einzuholen. Schöller engagierte ein Büro, mit dem er ab und zu für solche Aufträge zusammenarbeitete.

Noch bevor er seinen Bericht an Elvira Senn weiterleiten konnte, erhielt sie einen Brief von Konrad Lang, in welchem er sich sehr bedankte für ihre Unterstützung und sie bat, diese in Zukunft einzustellen. »Mein Leben hat eine entscheidende Wende genommen«, schrieb er. »Ich bin nicht mehr auf Deine materielle Unterstützung angewiesen, und ich hoffe, daß dieser Umstand unsere Beziehung und alte Freundschaft auf eine neue, unbelastetere Ebene bringt.«

Wie sie kurz darauf von Schöller erfuhr, stimmte das mit der Wende. Er lebte mit Rosemarie Haug ein zurückgezogenes, bürgerliches Leben. Er schien tatsächlich mit dem Trinken aufgehört zu haben. Auf den Observationsfotos, die ihr Schöller zeigte, sah er besser aus denn je.

Sie wies Schöller an, ein Auge auf Koni zu haben und die Unterstützung einzustellen. Dann spendete sie von einem Konto, von dem nicht einmal Schöller wußte, 100000 Franken an ein Kinderhilfswerk. Als Spender gab sie Konrad Lang an. Sie schrieb ihm einen herzlichen Brief, wünschte ihm für seinen neuen Lebensabschnitt alles Gute und legte den Spendenbeleg bei.

Konrad Lang schrieb ihr einen gerührten Brief, in welchem er beteuerte, daß er ihr diese noble Geste nie vergessen werde.

Genau das hatte sie damit beabsichtigt.

Aber mit dem Nie-Vergessen war es bei Konrad so eine Sache.

An einem unfreundlichen Novembertag beschloß er, Rosemarie mit einem Fondue zu überraschen. Er fuhr mit dem Taxi in die Stadt zum einzigen Käseladen, der seiner Meinung nach eine anständige Fonduemischung führte, kaufte dort eine rezente für drei Personen (er haßte es, wenn zu wenig Essen auf dem Tisch stand), suchte in der nahen Bäckerei ein passendes Halbweißbrot aus und besorgte Knoblauch, Maizena, Kirsch und Weißwein.

Zu Hause sah er, daß Rosemarie dieselbe Idee gehabt hatte: Im Kühlschrank stand eine Tüte Fonduemischung vom selben Geschäft neben einer Flasche Weißwein vom selben Rebberg. Auf dem Küchenbüffet lag ein Halbweißbrot vom selben Bäcker neben einer Schachtel Maizena und einer Flasche Kirsch derselben Marke.

»Gedankenübertragung«, lachte er, als er zu Rosemarie ins Wohnzimmer kam.

»Was?«

»Ich habe auch gefunden, es sei Fonduewetter.«

»Wieso ›auch‹?«

Langs Gedächtnis mochte nicht mehr auf der Höhe sein. Aber seine Reflexe, die Reflexe eines Mannes, der sein Leben lang gezwungen war, sich anzupassen, funktionierten noch einwandfrei.

»Sag bloß, du hast keine Lust auf Fondue, ich habe nämlich eingekauft für drei.«

»Natürlich habe ich Lust auf Fondue«, lächelte Rosemarie.

»Eben, wenn das keine Gedankenübertragung ist.«

Er ging zurück in die Küche und ließ eine Tüte Fonduemischung, eine Flasche Kirsch, ein Halbweißbrot und eine Schachtel Maizena im Abfall verschwinden.

Obwohl es noch nie einen Menschen gegeben hatte, zu dem Konrad so uneingeschränktes Vertrauen besaß wie zu Rosemarie Haug, brachte er es nicht fertig, sie einzuweihen. Erstens wollte er sie nicht beunruhigen mit etwas, von dem er annahm, daß es wieder vorbeigehen würde. Und zweitens glichen die Symptome Anzeichen von Senilität. Ein Fünfundsechzigjähriger gesteht der dreizehn Jahre jüngeren Frau, die er bald heiraten will, nicht gerne ein, daß er unter beginnender Senilität leidet.

Konrad Lang entwickelte Techniken, sein Problem zu kaschieren. Er skizzierte einen Lageplan des Hauses und der Geschäfte, in denen er normalerweise einkaufte. Er stellte eine Liste zusammen mit Namen, die er oft brauchte und die ihm eigentlich geläufig sein sollten. Er bewahrte in seinem Portemonnaie, seiner Brieftasche und seinem Schlüsseletui ihre gemeinsame Adresse auf. Und für den Fall, daß er sich im weiteren Umkreis verirrte, trug er einen Stadtplan bei sich, mit dessen Hilfe er sich als verirrter Tourist ausgeben konnte.

Aber Ende November passierte etwas, mit dem Konrad nicht gerechnet hatte: Er fand nicht mehr aus dem Supermarkt hinaus. Er irrte durch die Regalreihen wie durch ein Labyrinth und konnte den Ausgang nicht finden. Es gab nichts, woran er sich orientieren konnte, nie kam er an eine Stelle, die aussah, als wäre er hier schon einmal gewesen. Dabei war es ein kleiner Supermarkt.

Schließlich heftete er sich einer jungen Frau an die Fersen, deren Einkaufswagen beladen war mit Einkäufen und einem quengelnden Kind. Sie bemerkte bald, daß der ältere Herr ihr folgte – ging, wenn sie ging, und stehenblieb, wenn sie stehenblieb. Jedesmal, wenn sie einen mißtrauischen Blick über die Schulter warf, nahm Lang wahllos etwas aus einem Regal und legte es in seinen Wagen. Als er endlich glücklich an der Kasse angekommen war, räumte er erleichtert einer durch nichts zu erschütternden Kassiererin neben unverfänglichen Gemüsen und Fleischwaren eine Reihe seltsamer Produkte auf das Rollband. Das kompromittierendste: Kondome mit Himbeergeschmack.

Manchmal litt Konrad Lang unter den Aussetzern. Vor allem darunter, daß er ihnen so hilflos ausgeliefert war. Manchmal hätte er sein Gehirn packen und ihm nachhelfen wollen, wie seinem Knie, das manchmal lotterte, oder seinem Kreuz, das manchmal schmerzte. Aber ein Leben, wie er es geführt hatte, war nur auszuhalten, wenn man von klein auf zu verdrängen gelernt hat.

Deshalb ergriff er auch jetzt keine ernsteren Maßnahmen als den Kauf eines Ginkgo-Präparates, von dem er einmal gehört hatte, es verbessere die Gedächtnisleistung. »Gut für ältere Herren mit jüngeren Frauen«, scherzte er Rosemarie gegenüber, als sie ihn auf das Fläschchen ansprach, das sie bei seinen Klaviernoten fand, wo er es versteckt und vergessen hatte.

Rosemarie lächelte etwas nachdenklich.

Rosemarie Haug besaß aus ihrer ersten Ehe mit Robert Fries in Pontresina ein schönes altes Engadinerhaus. Sie hatte es, seit sie herausfand, daß es ihrem zweiten Mann als Liebesnest diente, nicht mehr benutzt und nach ihrer Scheidung vor sechs Jahren oft mit dem Gedanken gespielt, es zu verkaufen. Aber jetzt, mit Konrad Lang, hatte sie plötzlich wieder Lust, die Festtage dort zu verbringen. Es schien ihr, die Zeit und der Mann dafür seien gekommen.

Sie reisten per Bahn, weil Konrad der Meinung war, daß so die Ferien schon auf der Reise anfingen. Rosemarie, die eigentlich lieber den Audi Quattro genommen hätte, der kaum benutzt in der Garage stand, bereute es bald, daß sie sich hatte überreden lassen. Konrad zeigte sich auf der Reise nämlich von einer Seite, die sie noch nie an ihm bemerkt hatte. Er war so nervös vor der Abreise, daß sie fast eine Dreiviertelstunde zu früh am Bahnhof waren. Er suchte immer wieder nach den Fahrkarten, zählte pausenlos die Gepäckstücke und war während der ganzen Fahrt im bequemen Erster-Klasse-Abteil und im nostalgischen Speisewagen so angespannt und unkonzentriert, daß sie ganz erschöpft war, als sie schließlich ankamen.

Frau Candrian, die Frau, die sich um das Haus kümmerte, hatte sich große Mühe gegeben. Die Zimmer waren gelüftet und geputzt, die Betten bezogen, der Kühlschrank gefüllt. Auf dem Büffet im Entrée stand ein Adventskranz, und auf dem warmen Kachelofen in der Arvenstube dufteten getrocknete Apfelschalen.

Rosemarie hatte es kaum erwarten können, Konrad den Ort zu zeigen, der ihr einmal so viel bedeutet hatte und, mit ihm, wieder bedeuten würde. Aber als sie ihn durch das alte Haus führte, war er auf eine Art zerstreut und unaufmerksam, die an Unhöflichkeit grenzte.

Sie gingen früh zu Bett. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, lag beim Einschlafen etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen.

Am nächsten Tag fand Rosemarie Konrads Gedächtnisstützen.

Konrad schlief, wie er es neuerdings öfter tat, bis in den späten Vormittag hinein. Rosemarie machte Frühstück. Dabei fand sie im Kühlschrank Konrads Brieftasche.

Als sie die auf den Küchentisch legte, fiel ein Zettel heraus. Er war beidseitig beschrieben. Auf der einen Seite eine Wegskizze mit der Lage des Metzgers, der Bäckerei, des Kiosks und des Einkaufszentrums und ihrer Wohnung, neben der »Wir« stand. Auf der anderen Seite Namen von guten Bekannten, Nachbarn, der Putzfrau. Zuunterst, dick unterstrichen, stand: »Sie: Rosemarie!«

Rosemarie steckte den Zettel zurück in die Brieftasche. Als Konrad aufgestanden war, schlug sie ihm einen Spaziergang zum Stazersee vor.

Der Weihnachtsrummel hatte noch nicht angefangen. Auf den frisch geräumten Wegen durch den tiefverschneiten Wald begegneten sie nur wenigen Spaziergängern. Die meisten waren wie sie: gutsituierte Paare, die keine Rücksicht mehr auf Schulferien und offizielle Feiertage zu nehmen brauchten. Wenn sie sich näherten, verstummten sie, wenn sich ihre Wege kreuzten, sagten sie »Grüezi« oder »Grüß Gott«, dann hörte man in der Stille das Knarzen von vier Paar teuren Schneestiefeln im festgestampften Neuschnee, und dann von weitem die Stimmen, die das unterbrochene Gespräch wieder aufnahmen.

»Das kennst du doch auch: Du gehst in die Küche, weil du den Schöpflöffel vergessen hast, und dann stehst du in der Küche und weißt nicht mehr, was du hier wolltest.«

Rosemarie hatte sich bei Konrad eingehängt. Sie nickte.

»So ist es«, fuhr Konrad fort, »nur extremer. Du stehst mit dem Schöpflöffel in der Hand im Schlafzimmer und weißt nicht, was du hier willst. Du gehst damit ins Wohnzimmer, ins Bad, in die Küche, ins Eßzimmer, und es fällt dir nicht ein, was du mit dem Schöpflöffel vorhattest.«

»Und schließlich versteckst du ihn im Wäscheschrank«, ergänzte Rosemarie.

»Kennst du das auch?«

»Dort habe ich ihn gefunden.«

Schweigend gingen sie weiter. Rosemarie hatte vor einer halben Stunde das Thema angeschnitten. Nach längerem Zögern – sie hatte sich einen schonenden Einstieg zurechtgelegt, der ihr zunehmend blöder vorgekommen war. Schließlich entschied sie sich für den direkten Weg. »Mir ist der Zettel in die Hände gekommen, mit dem du unsere Wohnung findest und dich an meinen Namen erinnerst.«

»Wo?« hatte er gefragt.

»Im Kühlschrank.«

Er lachte. Damit schien das Eis gebrochen. Er erzählte ihr alles. Alles, woran er sich erinnern konnte.

Ein Paar kam ihnen entgegen, verstummte, grüßte und verschwand aus ihrem Blickfeld. Nach einer Weile sagte Rosemarie sachte:

»Das war nicht das erste Mal, daß ich Dinge an seltsamen Orten fand.«

»Zum Beispiel?«

»Socken im Backofen.«

»Im Backofen? Warum hast du nichts gesagt?«

»Ich hielt es nicht für wichtig. Eine kleine Zerstreutheit.«

»Was noch?«

»Ach, nichts.«

»Du hast gesagt ›Dinge‹.«

Rosemarie drückte seinen Arm. »Kondome im Tiefkühlfach.«

»Kondome?« Konrad lachte verlegen.

»Himbeeraroma.«

Er blieb stehen. »Bist du sicher?«

»Es stand drauf.«

»Ich meine, bist du sicher mit dem Tiefkühlfach.« Konrad klang jetzt etwas gereizt. Rosemarie nickte.

»Und warum hast du nichts gesagt?«

»Ich wollte nicht… ach, ich weiß nicht.«

Langsam gingen sie weiter. Konrad entspannte sich. Plötzlich lachte er auf. »Mit Himbeeraroma.«

Rosemarie lachte mit. »Vielleicht solltest du zum Arzt.«

»Glaubst du, es ist so ernst?«

»Nur sicherheitshalber.«

Hinter ihnen rasselte ein Pferdeschlitten. Sie traten an den Wegrand und ließen ihn vorbei. Zwei kleine, alte Gesichter unter riesigen Pelzmützen guckten aus den Lammfelldecken.

Sie gingen weiter im warmen Geruch der Pferde. Als das Bimmeln verklungen war, sagte Konrad: »Es war schön, daß ich mal mit jemandem so offen reden konnte. Mit Rosemarie kann ich das nie.«

Rosemarie blieb stehen. »Aber ich bin doch Rosemarie.«

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, er würde die Fassung verlieren. Dann grinste er. »Reingefallen!«

Der Entschluß, einen Arzt aufzusuchen, gab Konrad Auftrieb. Als ob der Vorsatz, seinen Problemen auf den Grund zu gehen, auch zugleich deren Lösung darstellte. Sein Gedächtnis spielte ihm keine Streiche mehr. Nie hatte Rosemarie das Gefühl, er verwechsle sie.

Sie verbrachten einen harmonischen, sentimentalen Weihnachtsabend mit Christbaum und Wunderkerzen und Mitternachtsmesse. Und ein gepflegtes Silvester mit viel Oscietre und keinem Champagner und einer halben Stunde am offenen Fenster bei fernem Glockengeläut.

Voller Zuversicht begannen sie das neue Jahr.

Am Morgen des Dreikönigstages stand Konrad Lang um vier Uhr leise auf, schlich aus dem Schlafzimmer, zog über jeden Fuß zwei Socken und über den Pyjama einen Regenmantel. Er setzte sich Rosemaries Pelzkappe auf und öffnete die schwere Haustür, trat in die sternklare Winternacht hinaus und ging rasch über die Hauptstraße in Richtung Dorfausgang. Dort nahm er eine Abzweigung, überquerte vorsichtig die Bahntrasse und schritt tüchtig aus in Richtung Stazerwald.

Es war eine kalte Nacht, und Konrad war froh, daß er in seiner Manteltasche ein paar schweinslederne Handschuhe fand. Er zog sie an, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Wenn er so weiterging, würde er in einer Stunde dort sein. Das war früh genug. Er könnte es sich sogar leisten, aufgehalten zu werden. Er war extra beizeiten aufgestanden.

Der Wald war tief verschneit, hohe Schneewände säumten den Weg und schluckten jedes Geräusch, er hätte nicht einmal die weichen Schuhe anzuziehen brauchen.

Ab und zu kam er an freigeschaufelten Ruhebänken vorbei. Neben jedem stand ein Papierkorb, auf dem ein schwarzes Strichmännchen auf gelbem Grund etwas in einen Strich-Papierkorb warf. Aber Konrad fiel nicht darauf herein. Er warf nichts hinein.

Alles lief nach Plan, bis er zu einer Stelle kam, wo sich der Weg teilte. Dort stand ein Wegweiser mit zwei gelben Schildern. Auf dem einen stand: »Pontresina 1/2 Std.«, auf dem andern: »St. Moritz 1 1/4 Std.« Damit hatte er nicht gerechnet.

Er blieb stehen und versuchte den Trick zu durchschauen. Er brauchte lange, bis er dahinterkam: Man wollte ihn auf eine falsche Fährte locken. Das brachte ihn zum Lachen. Er stand da, schüttelte den Kopf und lachte immer wieder auf. Ihn auf eine falsche Fährte locken!

Als Rosemarie erwachte, war es noch stockdunkel. Sie spürte, daß etwas nicht stimmte. Konrads Platz im Bett war leer.

»Konrad?«

Sie stand auf, machte Licht, schlüpfte in den Morgenrock und ging hinaus.

»Konrad?«

Im Vestibül brannte Licht. Konrads Kamelhaarmantel hing an der Garderobe, seine Schneestiefel standen auf dem Abtropfblech daneben. Er mußte also im Haus sein.

Die Windfangtür war zu, aber als sie daran vorbeiging, spürte sie einen kalten Luftzug. Sie öffnete sie. Eisige Nachtluft schlug ihr entgegen. Die Haustür stand sperrangelweit offen.

Sie ging zurück, schlüpfte in ihre Lammfellstiefel und zog sich den gefütterten Lodenmantel über. Die Stelle, wo ihre Pelzkappe hätte sein müssen, war leer.

Sie trat vor die Tür.

»Konrad?«

Dann etwas lauter: »Konrad!«

Alles blieb still. Sie ging vors Haus bis zum Gartentor. Es stand offen. Die Dorfstraße lag still vor ihr. Die Häuser waren dunkel.

Die Uhr der Dorfkirche schlug fünf.

Rosemarie ging ins Haus zurück, öffnete die Tür zu jedem Zimmer und rief Konrads Namen.

Dann ging sie zum Telefon und wählte den Notruf der Polizei.

Hercli Caprez war schon lange Polizist im Oberengadin. Er war es gewohnt, daß wohlsituierte Herren in den besten Jahren nachts abhanden kamen. Aber er wußte natürlich auch, daß er solche Fälle sehr ernst zu nehmen hatte; in der Saison befanden sich hier lauter Leute mit Einfluß an Stellen, die ihm das Leben schwermachen konnten. Sein junger Kollege besaß zwar noch nicht diese Abgeklärtheit, aber genügend Respekt, um das Maul nur dann aufzumachen, wenn er gefragt wurde.

Caprez gab sofort vor Rosemaries Augen in sachlichem Ton telefonisch eine Beschreibung von Konrad Lang durch. »Nach den bisherigen Erkenntnissen trägt der Vermißte einen Regenmantel und einen Pyjama, keine Schuhe und eine Nutria-Damenmütze.«

Der Polizist am anderen Ende lachte. »Der dürfte eigentlich nicht allzuschwer zu finden sein.« Caprez antwortete mit einem diskreten »Danke«.

Er legte auf, schaute Rosemarie in die Augen und sagte: »Die Fahndung läuft, Frau Haug.«

Fausto Bertini fuhr den Pferdeschlitten Nummer eins im ersten Morgengrauen zur Werkstatt des Fuhrbetriebes, für den er in der Wintersaison arbeitete. Der Eisenbeschlag einer Kufe war abgerissen und mußte repariert sein, bevor es losging. Es war Hochsaison. Jeder Schlitten wurde gebraucht.

Alle paar Meter schlingerte und ruckte das beschädigte Gefährt und brachte die Stute aus dem Tritt und Bertini zum Fluchen.

An der Abzweigung nach Pontresina blieb das Tier vollends stehen.

»Hü!« rief Bertini, »hü!« Und als das nichts half: »Porca miseria!« Und: »Vaffanculo!«

Die Stute rührte sich nicht. Gerade als Bertini die Peitsche aus der Halterung nehmen wollte, wo er sie meistens stecken hatte – er war trotz seiner Ausdrucksweise ein sanfter Kutscher –, sah er ein Stück Fell, das sich im Schnee vor dem Wegweiser bewegte. Die Stute scheute. »Hoo, hoo«, machte Bertini. Als sie sich beruhigt hatte, stieg er vorsichtig vom Bock und ging leise auf das Pelztier zu.

Es war kein Tier, es war eine Pelzmütze. Sie saß auf dem Kopf eines älteren Herrn, der aus einem Loch im tiefen Schnee ragte.

»Ich glaube, meine Füße sind erfroren«, sagte er.

Konrad Langs Füße waren nicht erfroren. Aber zwei Zehen des linken und einer des rechten Fußes mußten amputiert werden. Abgesehen davon war er erstaunlich heil geblieben. Daß er sich in den Schnee eingegraben hatte, habe ihm das Leben gerettet, meinten die Ärzte.

Er konnte sich an nichts erinnern bis zum Moment, als er das Bimmeln des Pferdeschlittens gehört hatte. Als ihn Bertini auf den Schlitten gepackt hatte, redete er wirres Zeug. Im Spital in Samedan, kurz nach der Einlieferung, verlor er dann zweimal das Bewußtsein. Aber jetzt schien ihn der Vorfall weniger zu belasten als Rosemarie. Sein Hauptproblem war: Raus aus dem Spital.

Da Rosemarie Haug weder Verwandte noch Ehefrau war, hatte sie keine Rechte in bezug auf Konrad; zum Glück verfügte sie über gute Beziehungen zur Spitalleitung und bat den Chefarzt, Konrad erst zu entlassen, nachdem er von einem Neurologen untersucht worden war.

Zwei Tage später landete Dr. Felix Wirth in Samedan.

Felix Wirth war einer der wenigen aus dem Freundeskreis ihrer zweiten Ehe, mit denen Rosemarie noch Kontakt hatte. Er hatte mit ihrem Mann studiert, und sie hatten sich nicht aus den Augen verloren, obwohl sich beide auf sehr unterschiedliche Gebiete, ihr Mann auf Chirurgie, Felix Wirth auf Neurologie, spezialisiert hatten.

Bei ihrer unschönen Kampfscheidung schlug sich Felix überraschend auf ihre Seite und sagte sogar vor Gericht gegen ihren Mann aus.

Felix Wirth war immer da, wenn sie ihn brauchte. Daß sie ihn nicht schon früher um Rat gefragt hatte, konnte sie sich nur damit erklären, daß sie, wie Konrad, die Augen vor der Wirklichkeit verschloß. Er hatte sofort eingewilligt, Konrad Lang zu untersuchen, ohne diesem gegenüber zu erwähnen, daß er das auf Veranlassung von Rosemarie tat.

Sie holte ihn vom Flugplatz ab. Während der ganzen Taxifahrt zum Spital stellte Dr. Wirth Rosemarie Fragen. Kann er sich allein rasieren? Nimmt er Anteil daran, was um ihn herum geschieht? Kann er kleine Besorgungen allein machen? Setzt er eine Unterhaltung richtig fort, wenn sie unterbrochen wurde?

»Er ist nicht senil. Er hat einfach diese Blackouts, von denen ich dir am Telefon erzählt habe.«

»Entschuldige, ich muß diese Fragen stellen.«

Sie schwiegen, bis das Taxi vor dem Spital hielt. Als Dr. Wirth ausstieg, sagte Rosemarie: »Ich habe Angst, es ist Alzheimer.«

Dr. Wirth drückte sie an sich.

»Sie sind Hirnspezialist?« fragte Konrad Lang, als Dr. Wirth seine Befragung zur Anamnese abgeschlossen hatte.

»So kann man es nennen.«

»Und Sie sind ans Arztgeheimnis gebunden?«

»Natürlich.«

»Was ich Ihnen jetzt sage, fällt darunter: Ich möchte niemanden beunruhigen, aber ich fürchte, ich habe Alzheimer.«

»Daß Sie mir das so sagen, Herr Lang, spricht eigentlich gegen die Diagnose. Solche Blackouts können viele Ursachen haben.«

»Mir wäre es trotzdem lieber, Sie untersuchten mich auf Alzheimer. Frau Haug und ich haben nämlich vor zu heiraten.«

Die Mitteilung kam unerwartet für Dr. Wirth. Er brauchte einen Moment, bis er seine Sachlichkeit zurückgewonnen hatte. »Es gibt leider bis heute keine zuverlässige Diagnose für Alzheimer Demenz. Das einzige, was wir versuchen können, ist, die anderen Ursachen auszuschließen. Aber selbst wenn wir sie alle ausschließen könnten, wüßten wir immer noch nicht, ob Sie Alzheimer haben. Nicht mit letzter Sicherheit.«

»Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit?«

»Das schon.«

»Dann lassen Sie uns anfangen auszuschließen.«

Dr. Wirth setzte sich neben das Bett, öffnete sein Köfferchen und nahm ein paar Papiere heraus. »Ich werde Ihnen jetzt dreißig Fragen und Aufgaben stellen.«

»Ein Test?«

»Eine Art Bestandsaufnahme.«

»Schießen Sie los.«

»Welcher Wochentag ist heute?«

»Keine Ahnung. Dienstag?«

»Donnerstag.« Dr. Wirth machte ein Kreuz auf seinen Fragebogen. »Neunzehnhundertwieviel?«

»Dreiundsiebzig?«

Dr. Wirth machte sein Kreuz. »Welche Jahreszeit?«

»Dreiundneunzig, wollte ich sagen.«

»Wir sind bei der Jahreszeit.«

»Sechsundneunzig? Ich weiß doch, welches Jahr wir schreiben.«

»Ist es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter?«

»Schauen Sie doch raus! Winter.«

»Welcher Monat?«

»Dezember. Nein, Januar. Ich bleibe bei Januar.«

»Den wievielten?«

»Nächste Frage.«

»Wo sind wir hier?«

»Im Spital.«

»In welchem Stockwerk?«

»Ich war bewußtlos, als man mich hierher brachte.«

»In welcher Ortschaft?«

»Wenn ich das mitgekriegt hätte, wüßte ich auch das Stockwerk.«

»Welcher Kanton?«

»Graubünden.«

»Welches Land?«

»Griechenland.«

»Bitte sprechen Sie mir nach: Zitrone.«

»Zitrone.«

»Schlüssel.«

»Schlüssel.«

»Ball.«

»Ball.«

»Und jetzt ziehen Sie bitte sieben von hundert ab.«

Konrad wiederholte: »Und jetzt ziehen Sie bitte sieben von hundert ab.«

»Nein, das ist jetzt eine Rechenaufgabe. Bitte führen Sie sie aus.«

Konrad Lang rechnete. Dr. Wirth wartete geduldig.

»Der Wechsel ist so abrupt.«

»Das ist Absicht.«

Konrad Lang rechnete. »Dreiundneunzig.«

»Und davon wieder sieben abziehen.«

Viermal zog Konrad Lang die Zahl Sieben vom jeweiligen Resultat ab. Es fiel ihm nicht leicht, aber es gelang ihm.

»Das war sehr gut«, sagte Dr. Wirth. »Welches waren die drei Wörter, die Sie mir vorhin nachgesprochen haben?«

»Drei Wörter?«

»Ich bat Sie doch, mir drei Wörter nachzusprechen. Können Sie sich erinnern?«

»Wenn ich gewußt hätte, daß ich sie mir merken muß, könnte ich mich jetzt daran erinnern.«

Dr. Wirth machte drei Kreuze und hielt dann seinen Bleistift hoch. »Was ist das?«

»Der Test ist unfair. Wenn man die Spielregeln nicht vorher kennt, hat man keine Chance.«

Dr. Wirth hielt immer noch seinen Bleistift hoch. »Bitte, Herr Lang: Was ist das?«

»Zum Schreiben.«

Dr. Wirth machte sein Kreuz. Dann zeigte er auf seine Armbanduhr. »Und das?«

»Zitrone. Eines war Zitrone.«

»Von den drei Wörtern?«

»Eines war Zitrone. Oder Ball.«

»Ball oder Zitrone?«

»Ich erinnere mich nicht.«

Dr. Wirth zeigte auf die Uhr.

»Elf?« riet Konrad Lang.

Der Arzt machte sein Kreuz. »Sprechen Sie mir bitte folgenden Satz nach: Bitte keine Wenn und Aber

»Bitte kein Wenn und Aber. Es heißt kein, nicht keine.«

Dr. Wirth gab ihm ein Blatt Papier. »Nehmen Sie dieses Blatt in die rechte Hand.«

Konrad Lang nahm es.

»Falten Sie es in der Mitte.«

Lang faltete es.

»Lassen Sie es auf den Boden fallen.«

Konrad Lang schaute Dr. Wirth verwundert an, zuckte mit den Schultern und warf das Blatt über den Bettrand. Es segelte zwei Meter, dann lag es auf dem gebohnerten Linoleum.

Der Arzt gab ihm ein weiteres Blatt Papier. Darauf stand: »Lesen Sie: Schließen Sie beide Augen! und führen Sie es aus.«

Lang zuckte die Schultern und sah Dr. Wirth verständnislos an.

»Sie sollen: Schließen Sie beide Augen! lesen und es tun.«

Lang verstand nicht. »Nächste Frage.«

Dr. Wirth gab ihm wieder ein Blatt. »Schreiben Sie irgendeinen Satz auf dieses Blatt.«

Konrad Lang schrieb: »Wer von uns beiden spinnt?« und gab es ihm zurück. Dr. Wirth las es, lächelte säuerlich und gab ihm ein neues Papier. Darauf waren zwei Fünfecke gezeichnet. Das eine steckte in der Seite des andern. »Zeichnen Sie das bitte ab.«

Konrad brauchte lange für diese letzte Aufgabe. Aber zum Schluß fand er, daß sie ihm nicht schlecht gelungen war.

Dr. Wirth dagegen gab ihm dafür eine Null.

Konrad Lang erreichte achtzehn von möglichen dreißig Punkten bei diesem Test. Das war ein katastrophales Ergebnis. Selbst wenn ihm Dr. Wirth zugute hielt, daß die Fragen nach Ort und Zeit in Anbetracht der Umstände schwer zu beantworten waren, selbst wenn er einräumte, daß er die Befragung aus persönlichen Gründen nicht absolut fair geführt hatte, würde der Patient nicht die sechsundzwanzig Punkte erreichen, die ein gesunder Mensch im schlechtesten Fall erreichen müßte.

Der Arzt empfahl Rosemarie Haug dringend, Konrad Lang für weitere Untersuchungen in die Universitätsklinik einzuweisen.

»Wenn es dich beruhigt«, sagte Konrad, als Rosemarie ihm diesen Vorschlag unterbreitete.

Drei Tage später lag Konrad Lang in einem Einzelzimmer der Universitätsklinik. Daß es sich um die geriatrische Abteilung handelte, fiel ihm nicht auf.

Aufgrund der Laboruntersuchungen von Blut und Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit konnten Infektionskrankheiten des Hirns ausgeschlossen werden.

Die Elektroenzephalographie ergab keine Hinweise auf andere Ursachen für eine Demenz.

Messungen der Hirndurchblutung schlossen arteriosklerotische Durchblutungsstörungen aus.

Die Ermittlung der Sauerstoff- und Glukoseverwertung im Hirnstoffwechsel deutete auf verminderte Stoffwechselaktivitäten bestimmter Gehirnzonen hin.

Zwei Wochen nachdem er von einem Veltliner Pferdekutscher mit erfrorenen Zehen in einer Schneehöhle im Stazerwald gefunden worden war, lag Konrad Lang in einem Spitalhemd auf einer mit Kunststoff bezogenen Liege und fror.

Eine Assistentin legte eine Decke über ihn und schob die Liege in die kreisrunde Öffnung des Computertomographen. Der Zylinder begann sich zu drehen. Langsam, schneller, immer schneller.

Konrad Lang lag wieder in einer blauen Höhle. Alles um ihn herum versank.

Ganz weit weg sagte eine Stimme: »Herr Lang?«

Und noch einmal: »Herr Lang?«

Ein Herr Lang wurde gesucht.

Eine Hand legte sich leicht auf seine Stirn. Er schlug sie weg und setzte sich auf. Als er von der Liege klettern wollte, merkte er, daß seine Füße verbunden waren.

»Ich will hier weg«, sagte er zu Rosemarie, als sie sein Zimmer betrat. »Hier schneiden sie dir Zehen ab.«

Sie dachte, er wolle einen Witz machen, und lächelte. Aber Konrad schlug die Decke zurück. Er hatte die Verbände abgenommen und zeigte triumphierend auf die kaum verheilten Narben an seinen Füßen.

»Gestern waren es zwei«, sagte er, »heute bereits drei.«

Am gleichen Tag wurde Konrad Lang aus dem Universitätsspital entlassen. Die klinischen Untersuchungen hatten die meisten anderen Ursachen ausgeschlossen.

Auf Drängen von Rosemarie hatte Dr. Wirth eingewilligt, die psychologischen Tests ambulant durchzuführen.

Was Schöller zu berichten hatte, überraschte Elvira Senn. »In der Geriatrie?« fragte sie noch einmal.

»Sie untersuchen dort sein Gehirn. Er leidet unter Gedächtnisstörungen. Demenz.«

»Demenz? Mit wieviel? Knapp fünfundsechzig?«

»Er hat eben ein bißchen nachgeholfen.« Schöller kippte ein unsichtbares Glas.

»Kann man etwas dagegen tun?«

»Wenn es zum Beispiel Alzheimer ist, nicht.«

»Damit rechnet man?«

»Muß man wohl. Über die Hälfte von denen, die dort untersucht werden, haben Alzheimer.«

Elvira Senn schüttelte nachdenklich den Kopf. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Damit wandte sie sich anderen Traktanden zu.

Als Schöller ihr Arbeitszimmer verlassen hatte, stand sie auf und ging ans Büchergestell, auf dem ein paar Erinnerungsfotos standen. Eines zeigte sie als junges Mädchen mit Wilhelm Koch, dem Firmengründer, einem älteren steifen Herrn. Auf dem andern war sie am Arm von Edgar Senn, ihrem zweiten Mann, zu sehen. Zwischen ihnen stand Thomas Koch im Alter von etwa zehn Jahren.

Elvira nahm ein Fotoalbum aus dem Regal und blätterte darin. Bei einem Foto, das sie mit Thomas und Konrad als kleine Buben auf dem Markusplatz zeigte, verweilte sie einen Augenblick. Noch vor kurzer Zeit hatte Konrad sie mit seinen plötzlichen genauen Erinnerungen an die Zeit in Venedig erschreckt. War es möglich, daß ein gütiges Schicksal jetzt damit begonnen hatte, diese ein für allemal auszulöschen?

Sie stellte das Album ins Regal zurück. Es war dunkel geworden. Sie machte Licht und ging zum Fenster. Als sie die Vorhänge zuzog, sah sie für einen Moment ihr Spiegelbild in der Scheibe. Es lächelte.

»Der Löwe wird von einem Tiger gefressen. Welches Tier ist tot?« fragte ihn Dr. Wirth. Da wußte Konrad Lang, daß er verarscht werden sollte.

»Der Tiger«, antwortete er. Dr. Wirth machte sich eine Notiz.

»Reingefallen«, lachte Konrad.

»Das ist kein Spiel, Herr Lang«, mahnte Dr. Wirth ernst.

»Was denn sonst? Ein besonders blödes Spiel ist das sogar. Was haben eine Banane und ein – Dings gemeinsam, was für Sachen liegen unter diesem Tuch, zeichnen Sie eine Uhr. Ich bin doch kein Kind! Ich konnte schon die Uhr lesen, da waren Ihre Eltern noch gar nicht auf der Welt.«

»Es ist wichtig, daß wir diesen Test machen, er hilft uns bei der Diagnose.« Dr. Wirth hielt einen kleinen Gummihammer hoch. »Wie nennt man diesen Hammer?«

»Wechseln Sie jetzt nicht das Thema.«

»Sie wissen es nicht?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Weil ich es Ihnen vor ein paar Minuten gesagt habe.«

»Keine Ahnung.«

»Reflexhammer«, sagte Dr. Wirth und machte sich eine Notiz. Genüßlich, wie es Konrad schien.

»Meinen Sie eigentlich, ich merke nicht, was hier läuft? Sie wollen mich vor ihr als senilen Knacker hinstellen, weil Sie es selbst auf sie abgesehen haben.«

»Auf wen?«

»Auf Elisabeth, natürlich.«

Dr. Wirth machte sich eine Notiz. »Sie meinen, Rosemarie.«

»Sag ich ja.«

»Nein, Elisabeth haben Sie gesagt.«

Konrad gab keine Antwort. Er holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Immer wieder hatte er sich vorgenommen, sich von Dr. Wirth nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Und immer wieder hatte der es doch geschafft. Er wußte, wie er ihn verunsichern konnte. »Zeichnen Sie das, welches Datum haben wir heute, was ist das, wozu benützt man es, erkennen Sie die Person auf diesem Foto?« Der Mann war Psychologe und darin geschult, Leute wie ihn aus dem Konzept zu bringen. Und wenn er das einmal geschafft hatte, konnte er ihn mit kinderleichten Fragen hereinlegen. Mit Fragen, auf die er unter normalen Umständen, ohne nachzudenken, die richtige Antwort gewußt hätte. Aber das waren keine normalen Umstände.

Nur weil Konrad Rosemarie versprochen hatte, die Tests durchzustehen, sagte er schließlich: »Machen wir weiter.«

»Wir sind fast durch«, sagte Dr. Wirth. »Ich bitte Sie jetzt, mir ein Sprichwort zu erklären. Es lautet: ›Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.‹«

Konrad Lang überlegte einen Moment. Dann stand er auf. »Ich bin doch kein Fünfjähriger«, sagte er, ging aus dem Sprechzimmer, durchs Vorzimmer und hinaus auf den Gang.

Dr. Wirth folgte ihm. »Lassen Sie sich wenigstens ein Taxi bestellen«, rief er ihm nach.

Aber Konrad Lang war bereits im Lift und hatte den Knopf gedrückt. Die automatische Tür schloß sich, und der Lift fuhr an.

Im obersten Stockwerk stieg Konrad Lang aus und konnte den Ausgang nicht finden.

Nach einer Weile kam Dr. Wirth, brachte ihn zum Lift und fuhr mit ihm hinunter zum Ausgang.

Vor dem Haus stand ein Taxi. Dr. Wirth nannte dem Fahrer eine Adresse.

Als das Taxi am Ziel ankam, erwartete ihn Rosemarie am Gartentor.

Im Frühling fuhr Rosemarie mit Konrad nach Capri. Sie wußte, daß die Reise sehr anstrengend sein würde, Konrad wurde zusehends komplizierter. Aber er sprach in letzter Zeit immer wieder von Capri, wie wenn sie zusammen dort gewesen wären. So kam sie auf die Idee, sich gemeinsame Erinnerungen an Capri zu schaffen.

Sie mietete bei einem Limousinenservice einen großen Mercedes mit Fahrer. Sie kam sich zwar etwas versnobt vor, aber eine Tramfahrt mit Konrad war schon nervenaufreibend genug, eine Bahn- oder Flugreise wollte sie ihm und sich ersparen.

Konrad genoß die Fahrt in der Limousine, als wäre er sein ganzes Leben nur mit Chauffeur gereist. Erst als sie in Neapel das Aliscafo bestiegen und er die Koffer nicht mehr sah, geriet er kurz in Panik.

Als das Boot vor der Hafeneinfahrt das Tempo drosselte und die Tragflächen wieder eintauchten, legte Konrad den Arm um ihre Schultern und zog sie immer wieder fest an sich, als wollte er sagen: »Weißt du noch?«

Konrad kannte jeden Pfad und jede Bucht auf Capri. Er führte Rosemarie zu den Ruinen der Tiberius-Villa, er aß mit ihr junge rohe Saubohnen im Garten einer Trattoria unter Zitronenbäumen, und er führte sie durch die Villa Fersen, ratlos über ihren plötzlichen Zerfall.

»Weißt du noch?«, »Erinnerst du dich?« fragte er sie immer wieder. Wenn sie ihm erklärte: »Wir waren noch nie zusammen hier«, schaute er sie irritiert an und murmelte: »Natürlich, entschuldige.« Kurz darauf fragte er sie wieder: »Weißt du noch?«, »Erinnerst du dich?«

Schließlich gab Rosemarie es auf, ihn zu korrigieren. Sie lernte, in Erinnerungen zu schwelgen, die nicht ihre eigenen waren. Beide verbrachten noch einmal glückliche Tage auf der Insel seiner ersten großen Liebe.