10

 

»Sie haben was probiert?« fragte Elvira Senn entgeistert. »Konrad Lang ist im Rahmen eines klinischen Tests ein Medikament verabreicht worden, das noch in der Forschung steckt«, erklärte Dr. Stäubli.

»Das dürfen die?«

»Wenn ein Arzt den Antrag stellt und alle Beteiligten einverstanden sind.«

»Ich wurde nicht gefragt.«

»Sie sind nicht beteiligt in diesem Sinn. Beteiligt sind der Arzt, das Pharmaunternehmen, eine Ethik-Kommission und der Patient. In diesem Fall die Vormundschaftsbehörde.«

»Und alle waren einverstanden?«

»Offenbar.«

Elvira Senn schüttelte den Kopf. »Ich dachte, das sei unheilbar.«

»Ist es auch. Bis jetzt.«

»Und Koni wird vielleicht der erste, den sie heilen?«

»Bestenfalls leistet er einen wissenschaftlichen Beitrag zur Alzheimerforschung.«

»Ohne es zu wissen?«

»Ohne den Hauch einer Ahnung.«

Die nächsten Tage konzentrierte man sich im Gästehaus darauf, die beiden Patienten wieder auf die Beine zu bekommen.

Konrad Lang wurde ein Gehgips angepaßt. Der Therapeut und Schwester Irma bemühten sich, ihn täglich zu ein paar Schritten zu bewegen.

Simone Koch verbrachte den größten Teil der Tage an der Infusion. Aber an Nachmittagen schaute sie mit Konrad ungefähr eine Stunde lang Fotos an, falls sie sein Interesse so lange fesseln konnte. Sie stellte ihm ihre genau vorgegebenen Fragen, Dr. Kundert wertete die Antworten am Bildschirm aus.

Bisher war, abgesehen von den üblichen Schwankungen, keine Verschlechterung festzustellen. Was nach so kurzer Zeit allerdings noch kein Grund zum Optimismus war.

Die einzige Überraschung im Gästehaus in diesen Tagen war ein Besuch von Thomas Koch.

Er stand plötzlich braungebrannt und energiegeladen vor der Tür und forderte Einlaß. Schwester Irma, die ihn noch nie zuvor gesehen hatte, machte den Fehler, ihn zu fragen, wer er sei und was er wolle. Und er machte den Fehler, ihr zu antworten: »Das geht Sie einen Dreck an! Lassen Sie mich rein!«

Dr. Kundert hörte die laute Diskussion im Windfang, sah nach, was los war, und rettete die Situation.

Kurz darauf stand Thomas gereizt im Zimmer, in dem seine Schwiegertochter an der Infusion hing und die Tropfen zählte.

Ihr Anblick – die hübsche Frau und werdende Mutter seines ersten Enkels – besänftigte ihn sofort. Anstatt sich über den Empfang durch Schwester Irma zu beklagen, was er sich fest vorgenommen hatte, sagte er: »Ich hoffe, es geht dir bald wieder gut.«

»Das hoffe ich auch«, seufzte Simone. »Wie war es?«

»Wo?«

»Ich weiß nicht. Da, wo du gerade warst.«

Thomas Koch überlegte einen Moment. »Jamaika.«

»Vielleicht reist du zuviel.«

»Wieso?«

»Wenn du so lange überlegen mußt, wo du gerade warst.«

»Das ist das Alter.« Er lachte etwas zu laut und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Dann wurde er ernst. Er nahm väterlich ihre Hand.

»Urs hat mir gestanden, daß du nicht nur wegen deinen Schwangerschaftsproblemen hier schläfst.«

Simone antwortete nichts darauf.

»Ich habe ihm den Kopf gewaschen.«

Sie wünschte, er würde ihre Hand loslassen.

»Ich fürchte, das hat er von mir. Die Katze läßt das Mausen nicht. Aber auf eines kannst du dich bei den Kochs verlassen: Wenn es hart auf hart geht, dann halten wir zu unseren Frauen. Was bedeutet schon alles andere? Nichts.«

Sie zog ihre Hand weg.

»Ich verstehe dich ja. Das tut man nicht, vor allem nicht, wenn die Frau in Erwartung ist. Dafür gibt es keine Entschuldigung.« Er kam zur Sache. »Trotzdem: Ich finde, du solltest hier raus. Ärzte, Krankenschwestern und ein alter Mann, der vor sich hin stirbt, sind eine bedrückende Umgebung für eine werdende Mutter. Wir richten dir drüben ein Zimmer ein und engagieren eine Pflegerin. Du wirst staunen, wie schnell du wieder auf den Beinen bist.«

»Ich habe hier alles, was ich brauche, und werde ausgezeichnet gepflegt. Ein untreuer Ehemann ist auch nicht gerade die ideale Umgebung für eine werdende Mutter.«

»Es wird nicht mehr vorkommen.«

»Es ist einmal zu oft vorgekommen.«

»Das renkt sich wieder ein.«

»Nein.«

Das klang, als ob Simone lange über alles nachgedacht hätte. Dabei war es ihr erst jetzt, in dieser Sekunde, klargeworden. Nein, es würde sich nicht mehr einrenken. Nie mehr. Es wurde Zeit, daß sie sich Gedanken darüber machte, wie es weitergehen sollte.

»Was heißt das?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Mach keine Dummheiten.«

»Bestimmt nicht.«

Thomas stand auf. »Kann ich Urs etwas ausrichten?«

Simone schüttelte den Kopf.

»Werd bald gesund«, sagte Thomas, drückte ihren Arm und stand auf.

»Warst du bei Konrad?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich wüßte nicht, was mit ihm reden.«

»Über alte Zeiten.«

»Alte Zeiten machen alt«, grinste Thomas und ging aus dem Zimmer.

Von diesem Augenblick an ging es Simone besser. Noch am gleichen Abend lösten die Gerüche, die aus der Diätküche heraufdrangen, bei ihr Hunger aus statt Übelkeit. Sie bat die erstaunte Schwester Ranjah, ihr etwas zu essen zu bringen, und verschlang mit Appetit zwei große Salamisandwiches. In der Nacht schlief sie wunderbar. Der Schwindel und das Erbrechen am Morgen blieben aus. Sie machte sich über ein großes Frühstück her.

Die plötzliche Gewißheit, daß sie Urs nicht liebte und ihr Leben nicht mit ihm verbringen wollte, hatte Simone gesund gemacht.

Sie brauchte von nun an keine Infusionen mehr, nahm sich aber vor, das vor der Familie Koch zu verheimlichen, bis sie sich die weiteren Schritte überlegt hatte. Vorläufig wollte sie noch im Gästehaus bleiben.

So plötzlich sich Simones Zustand verbesserte, so abrupt verschlechterte sich der von Konrad Lang.

Er hatte in der Nacht mehrmals versucht aufzustehen. Jedesmal war Schwester Ranjah, die den Monitor nicht aus den Augen ließ, rechtzeitig in seinem Zimmer erschienen und hatte das Schlimmste verhindert.

Jedesmal bestand er darauf, sich anzuziehen. Ranjah, die in der Tradition geboren und erzogen war, alte Menschen und ihren Willen zu respektieren, stützte ihn jedesmal zum Schrank und half ihm dabei.

Wenn Konrad dann in einem bizarren Aufzug – auch darin ließ Ranjah ihm seinen Willen – im Zimmer stand, wußte er nicht mehr, was er vorgehabt hatte.

Ranjah half ihm dann geduldig, sich wieder auszukleiden und ins Bett zu legen, brachte ihm Tee, blieb bei ihm, bis er wieder eingeschlafen war, und ging ins Stationszimmer an den Monitor zurück. Bis zum nächsten Mal.

Was Dr. Kundert bei der Auswertung der Aufzeichnungen dieser Nacht beunruhigte, war die Tatsache, daß Konrads Englisch schlechter geworden war. Er suchte lange nach den Wörtern und vermischte es mit Französisch und etwas Spanisch.

Auch daß er ins Bett gemacht hatte, war kein gutes Zeichen. Konrad Langs gelegentliche Inkontinenzprobleme hatten bisher mit seiner Apraxie zusammengehangen, der Unfähigkeit von Alzheimerpatienten in einem fortgeschrittenen Stadium, komplexe Handlungsabläufe durchzuführen. Aber mit der Unterstützung des Pflegepersonals hatte ihm das bisher keine größeren Schwierigkeiten bereitet.

Jetzt stand zu befürchten, daß sein Gehirn die Kontrolle über seine Körperfunktionen zu verlieren begann.

Dr. Kundert rechnete damit, daß sich der Zustand des Patienten verschlechterte. Als an diesem Nachmittag zur gewohnten Zeit Simone ihre Fotositzung mit Konrad hatte, sah er besonders gespannt am Monitor dabei zu.

Nach ein paar Minuten wußte er, daß sich seine Befürchtungen bestätigt hatten. Konrad Lang interessierte sich zwar für die Fotos, die ihm Simone zeigte, aber wie jemand, der sie zum ersten Mal sah. Kaum eine der Standardfragen konnte er beantworten, und kaum eine seiner Standarderklärungen kam vor. Immer wieder mußte Simone die für diesen Fall vereinbarten Hilfestellungen bieten. Und immer häufiger schickte Simone einen ratlosen Blick zum versteckten Objektiv hinauf.

Als sie zu dem Foto mit dem Kabriolett kam, hielt es Kundert nicht mehr auf seinem Stuhl aus. Er stand auf und stellte sich so dicht wie möglich vor den Monitor.

Sie stellte ihre gewohnte Frage: »Und das hier ist Elvira?«

Konrad zögerte wie jedes Mal. Aber diesmal offensichtlich nicht, um Simone zappeln zu lassen, sondern weil er es sich tatsächlich überlegen mußte.

Doch dann nickte er und schmunzelte. Simone schmunzelte erleichtert mit und Kundert vor dem Monitor auch.

Konrad Lang zeigte auf Konis Haarbüschel hinter dem linken Kotflügel und sagte: »Tomikoni.«

Dann zeigte er auf Tomi in der Lücke zwischen dem linken Scheinwerfer am vorderen Kotflügel und dem Kühler und grinste. »Konitomi.«

Simone improvisierte. Sie zeigte auf den versteckten Buben, den ihr Konrad bisher immer als »Koni« erklärt hatte, und fragte: »Koni?«

Konrad schüttelte amüsiert den Kopf und prägte ihr ein: »Tomi.«

»Und wie schnell fährt der Mercedes?« fragte sie.

»Keine Ahnung.«

Kundert und Simone schauten sich zusammen die Fotos an. »Als Sie auf Koni zeigten, sagte er ›Tomikoni‹?«

»Und als ich auf Tomi zeigte, ›Konitomi‹«, ergänzte Simone.

»Er wollte vertuschen, daß er nicht mehr wußte, welcher der beiden sich wo versteckt.«

»Und weshalb hat er dann die Namen vertauscht, als ich nachhakte?«

»Da hatte er den Trick mit Tomikoni und Konitomi bereits vergessen.«

Simone war entmutigt. »Heißt das, die Behandlung wirkt nicht?«

»Sie kann noch nicht gewirkt haben. Es bedeutet nur, daß die Krankheit ihren Lauf nimmt. Aber über POM 55 sagt es nichts aus. Es bedeutet, daß eine weitere Verbindung von Nervenzelle zu Nervenzelle gekappt worden ist, bevor das Mittel wirken konnte. Wir haben einfach Pech gehabt.«

»Vor allem Konrad.«

»Vor allem er.«

Beide schwiegen. Dann sagte Simone: »Stellen Sie sich vor, es wirkt und es ist nichts mehr da.«

Die Vorstellung war Kundert nicht fremd.

Koni sah alle Gesichter im Zimmer. Sie schauten ihn von der Tapete aus an und von den Vorhängen. Die meisten waren böse. Einige waren lieb und böse. Ganz wenige waren nur lieb.

Wenn er sich nicht bewegte, sahen sie ihn nicht und konnten ihm nichts tun.

Das Licht löschen nützte nichts. Dann kamen andere Gesichter. Solche, die Grimassen schnitten mit dem Wind. Und auch Tiere kamen dann, die auf dem Stuhl lauerten. Deswegen war es besser, das Licht nicht zu löschen. So konnte man die Gesichter im Auge behalten. Und so lagen auf dem Stuhl nur seine Kleider.

Die Hoffnung, daß es sich bei Konrads Veränderung nur um ein vorübergehendes Tief gehandelt hatte, zerschlug sich in den nächsten Tagen.

Dr. Kunderts Tests ergaben eine deutliche Verschlechterung praktisch aller gemessenen Hirnwerte. Und auch physiologisch hatte ein Rückschritt stattgefunden. Eine Diagnose, die ihm auch der Physiotherapeut bestätigte.

Der Bericht von Joseline Jobert, der Beschäftigungstherapeutin, war etwas weniger ernüchternd. Konrad aquarellierte immer noch hingebungsvoll. Die Resultate wurden immer abstrakter, und die Orthographie der Legenden, mit denen er seine Bilder stets versah, hatte gelitten. Fast in jedem zweiten Wort kamen Wiederholungen von Buchstaben oder Silben vor, weil er vergaß, daß er sie schon geschrieben hatte. »EuEuropa«, schrieb er oder »Apfelelbaumaum«.

Nach wie vor summte er mit zu den Wander-, Weihnachts- und Studentenliedern, die sie ihm in gebrochenem Deutsch vorsang.

Aber auf die Fotos, die ihm Simone zeigte, reagierte er nur noch passiv. Er sagte nicht mehr: »Venedig«, »Mailand« oder: »Am Meer«, wenn sie ihn fragte, wo das gewesen sei. Er nickte höchstens, wenn sie vorschlug: »Ist das am Meer?« oder: »Ist das in Venedig?«

Sie konnte ihm aber auch das Foto vom Markusplatz zeigen und fragen: »Ist das in Paris?« Auch dann nickte er.

Thomas und sich konnte er nicht mehr unterscheiden. Er verwechselte sich und ihn oder nannte beide »Tomikoni« und »Konitomi«. Elvira Senn hingegen identifizierte er auf jedem Bild als »Mama Vira«.

Simone war deprimiert, als sie nach der letzten Fotositzung in ihr Zimmer kam und die Kopien auf den Tisch legte.

»Ich bin froh, daß es dir bessergeht«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Es war Thomas Koch. Er hatte auf dem Bettrand gesessen und stand jetzt auf. Simone sah ihn an und wartete.

»Die Schwester hat mich hereingelassen. Hat sich wohl erinnert, daß das mein Haus ist.«

»Ich komme nicht in die Villa zurück, wenn es das ist, was dich herführt.«

»Das ist eine Sache zwischen dir und Urs.«

Simone wartete.

»Wie geht es Koni?«

Simone hob die Schultern. »Heute nicht sehr gut.«

»Und das Wundermittel?«

»Kein Resultat«, sagte sie. »Noch«, fügte sie rasch hinzu.

Simone hatte Thomas Koch noch nie so erlebt. Seine Selbstsicherheit war weg. Er stand verlegen in ihrem kleinen schlichten Zimmer, wußte nicht, wohin mit seinen Händen, und schien sich ernsthaft Sorgen zu machen.

»Setz dich doch.«

»Ich habe nicht viel Zeit.« Er nahm die Fotos vom Tisch und blätterte abwesend darin. Simone erschrak. Aber Thomas schien sich über deren Herkunft keine Gedanken zu machen.

»So viele Erinnerungen«, murmelte er nachdenklich.

»Für ihn werden es jeden Tag weniger.« Simone zeigte auf einen der Buben unter dem Sonnensegel am Strand. Quadratischer Schädel, eng beisammenliegende Augen.

»Nicht wahr, das bist doch du?«

»Das siehst du doch.«

»Koni kann euch beide nicht mehr unterscheiden. Manchmal nennt er dich Koni, manchmal sich Tomi, und manchmal nennt er euch Tomikoni und Konitomi.«

»Eine schreckliche Krankheit.« Thomas blätterte weiter in den Fotos. »Wie hat es angefangen?«

»Wie bei allen: Kleine Vergeßlichkeiten, unbedeutende Zerstreutheiten, Dinge gehen verloren, Namen werden vergessen, man tut sich schwer mit Speisekarten, man verliert die Orientierung, dann erkennt man gute Bekannte nicht mehr, vergißt die Namen von Gegenständen, weiß nicht mehr, wofür sie benützt werden, kann sich nichts mehr merken und erinnert sich nur noch an Dinge, die weit zurückliegen.«

»Wie war das mit den Speisekarten?«

»Leute, die früher nie länger als eine Minute eine Speisekarte studiert haben, sitzen da und blättern und können sich nicht entscheiden.«

Thomas nickte. Wie wenn er wüßte, wovon sie sprach.

»Möchtest du ihn sehen?«

»Nein«, sagte er schnell. »Nein, vielleicht ein andermal. Du mußt das verstehen.«

Simone verstand. Thomas Koch machte sich aufrichtige Sorgen. Aber um sich, nicht um Konrad Lang.

Konitomi könnte schon schlafen. Er war müde. Aber er wollte nicht. Wenn er einschlief, kamen sie und stachen ihn.

Er durfte auch nicht die Arme hinter dem Kopf verschränken, wenn er auf dem Rücken lag. Dann stachen sie ihn in die Achselhöhlen. Mit langen Nadeln.

Tomikoni wußte nicht, was besser war: Wenn er kein Licht machte, würden sie ihn nicht sehen. Aber wenn er Licht machte, würde er sie rechtzeitig kommen sehen.

Wenn er jedoch einschlief, würde er es nicht merken, wenn sie Licht machten. Dann würde er zu spät merken, daß sie da sind.

Wenn er sich versteckte, würden sie vielleicht wieder gehen.

Konitomi schlug leise die Decke zurück und zog die Beine an. Das war nicht so einfach. Am linken Bein hatten sie ihm etwas Schweres befestigt, damit er nicht weglaufen konnte.

Jetzt die Füße vom Bett herunterhängen lassen. Zuerst den rechten, dann den schweren.

Er ließ sich vom Bettrand hinunter. Er stand neben dem Bett.

Wo sollte er sich verstecken?

Zu spät. Das Licht ging an.

»Nicht stechen«, flehte Tomikoni.

»Now there, now there«, beruhigte ihn Schwester Ranjah.

Seit dem Tag, an dem er an der Tür des Gästehauses mit der Auskunft abgespeist worden war, Simone dürfe nicht gestört werden, hatte Urs Koch fast vier Wochen verstreichen lassen. In dieser Zeit mußten ihn Dritte über das Befinden seiner Frau auf dem laufenden halten. Er hatte bisher mit der Taktik »den Frauen nicht hinterherrennen, denn dann kommen sie von selbst zurück« gute Erfahrungen gemacht.

Bei Simone, die er trotz ihres wohl schwangerschaftsbedingten Aufbegehrens als nachgiebig kennen- und schätzengelernt hatte, war er sich sicher, daß es funktionieren würde.

Als sein Vater meinte: »Du mußt da einmal nach dem Rechten sehen, sonst kommt die noch auf dumme Gedanken«, fragte er: »Selbstmord?«

Als der »Scheidung« antwortete, grinste Urs und machte sich weiter keine Sorgen. Er wartete noch etwas zu. Dann, als sie immer noch nichts von sich hören ließ, änderte er die Taktik.

Er ging mit einem großen Strauß Kamelien, Simones Lieblingsblumen, zum Gästehaus, läutete und ließ ihr über Schwester Irma ausrichten, er gehe nicht weg, bis er eingelassen werde. Und wenn es die ganze Nacht dauere.

Das funktionierte. Kurz darauf wurde er in Simones Zimmer geführt.

»Ich möchte mich entschuldigen und dich bitten, wieder zu mir rüberzukommen«, eröffnete er das Gespräch. Ebenfalls Teil seiner neuen Taktik.

Sogar als Simone erwiderte: »Nein, Urs, es hat keinen Sinn«, fiel er nicht aus der für ihn weiß Gott nicht einfachen Rolle. »Ich bin mir dessen bewußt: Was ich getan habe, ist nicht wiedergutzumachen.«

Erst als Simone darauf antwortete: »Nein, darum ist es besser, du versuchst es gar nicht«, wich er von seinem Text ab und brauste auf.

»Soll ich mich erschießen?«

Simone blieb ruhig. »Es ist mir egal, was du tust. Ich lasse mich scheiden.«

Einen Moment lang glaubte sie, er werde losbrüllen. Aber dann lachte er auf.

»Du spinnst. Schau dich doch an. Du bist bald im sechsten Monat.«

»Um das zu wissen, brauche ich mich nicht anzuschauen.«

»Wie stellst du dir das vor? Wir bekommen ein Kind und lassen uns scheiden, alles auf einmal?«

»Du hättest es lieber eins nach dem andern, wie sich das gehört?«

»Weder-noch. Ich will überhaupt keine Scheidung. Es kommt nicht in Frage. Ich diskutiere gar nicht darüber.«

»Prima. Ich nämlich auch nicht.« Simone ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.

»Du wirfst mich nicht aus meinem eigenen Gästehaus.«

»Bitte geh!«

Urs setzte sich aufs Bett. »Ich werde nie in eine Scheidung einwilligen.«

»Ich werde klagen.«

»Auf was?«

»Ehebruch. Siebenfach, wenn du willst.«

Urs zog die Brauen hoch. »Beweise?«

»Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, um Zeugen und Beweise zu finden.«

Simone stand immer noch an der Tür mit der Hand auf der Klinke. Sie wirkte sehr entschlossen.

Urs stand auf und trat nahe an sie heran. »Mir passiert das nicht, daß sich meine schwangere Frau nach zwei Jahren von mir scheiden läßt, verstehst du? So einfach ist das. Es passiert mir nicht, und es passiert uns nicht. Es passiert den Kochs nicht.«

»Es ist mir egal, was den Kochs passiert«, sagte Simone und öffnete die Tür.

»Weil es geschah, als du schwanger warst, nicht wahr?«

Simone schüttelte den Kopf.

»Warum denn?«

»Weil ich mein Leben nicht mit dir verbringen will.«

An einem falschen Frühlingstag – der Föhn hatte den Himmel blau gefegt und ließ die Gärtner die Stirn runzeln – malte Koni »Haus für SchneeSchneebälle im Mai«.

Simone war ein wenig zu früh zur Fotositzung erschienen. Die Beschäftigungstherapeutin war noch bei Konrad, der ganz vertieft am Tisch saß und malte.

Als Simone ihn begrüßte, nickte er nur kurz und wandte sich wieder seinem Blatt zu. Er tauchte den Pinsel in das Glas mit trübem Wasser und bearbeitete damit ein Blatt Aquarellpapier.

Simone setzte sich und wartete. Als die Therapeutin sagte: »Schön, Herr Lang, wunderbar, das gefällt mir ausgezeichnet. Darf ich es Frau Koch zeigen?«, stand sie auf und ging zum Tisch.

Das Blatt war noch feucht und gewellt. Wäßriges, wolkiges Blaugrau auf weißem Grund. Darin ein breiter Pinselstrich, den bräunliche und gelbliche gleich dicke Pinselstriche strahlenförmig umgaben. Darunter hatte er in großen steifen Druckbuchstaben geschrieben: »KoniTomi Lang – Haus für SchneeSchneebälle im Mai.«

»Wirklich sehr schön«, sagte auch Simone. Sie setzte sich neben Konrad und legte die Fotos vor ihm auf den Tisch, während die Beschäftigungstherapeutin ihre Utensilien zusammenräumte. In der Geschäftigkeit, die dadurch entstand, hatte sie Dr. Stäubli nicht hereinkommen hören.

Erst als sie beim dritten »Tomikoni, Konitomi« entmutigt den Blick zur Kamera hob, sah sie ihn neben dem Tisch stehen.

In Elviras Frühstückszimmer waren die Fenster offen. Die Nachmittagssonne schien tief hinein bis zum kleinen Sofa, wo sie mit Dr. Stäubli saß.

Er war gerade vom Gästehaus gekommen und hatte von einer weiteren Verschlechterung von Konrads Zustand berichtet.

»Also noch keine medizinische Sensation«, stellte sie fest.

»Sieht nicht so aus. Als ich kam, erkannte er nicht einmal sich selbst auf alten Fotos. Konitomi und Tomikoni war alles, was er sagte.«

»Was für alte Fotos?«

»Simone zeigte ihm Fotos, auf denen Sie und Thomas und Konrad offenbar auf Europareise sind. Die Buben sind wohl etwa sechs.«

Elvira stand wortlos auf und verschwand durch die Tür zum Ankleidezimmer. Dr. Stäubli blieb sitzen und fragte sich, was er wohl Falsches gesagt hatte.

Nach kurzer Zeit kam Elvira mit einem Fotoalbum zurück. »Diese Fotos?«

Stäubli nahm das Album, blätterte darin und nickte. »Fotokopien von genau diesen Fotos.«

Elvira mußte sich setzen. Sie sah plötzlich beinahe so alt aus, wie sie wirklich war. Dr. Stäubli nahm ihr Handgelenk, schaute auf die Uhr und begann ihren Puls zu zählen.

Elvira zog unwirsch die Hand zurück.

Dr. O’Neill, Dr. Kundert und Simone saßen im Stationszimmer und tranken Kaffee. Über den Monitor des Wohnzimmers sah man Konrad Lang in seinem Sessel sitzen. Das eingegipste Bein war hochgelagert, und er döste. Er hatte weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen.

Simone stellte die Frage, die sie schon lange beschäftigte: »Daß die Behandlung den Prozeß beschleunigt hat, ist völlig ausgeschlossen?«

Kundert und O’Neill wechselten einen Blick. »Soweit ein Wissenschaftler etwas völlig ausschließen kann, ja«, antwortete O’Neill.

»Es ist also nicht völlig ausgeschlossen?«

»In Zellkulturen und im Tierversuch wurde der Prozeß nach zwei bis drei Wochen gestoppt und in keinem Fall nur verlangsamt und in keinem Fall beschleunigt. Das heißt, daß ich zwar persönlich nicht sicher bin, ob es das beim Menschen auch tut, aber ich bin hundertprozentig davon überzeugt, daß es nicht das Gegenteil bewirkt. Wissenschaftlich beweisen kann ich es Ihnen nicht.«

O’Neill schenkte sich Kaffee nach. Simone und Kundert wurden den Eindruck nicht los, daß seine kurze Ansprache auch dazu gedient hatte, sich selbst zu überzeugen.

»Bei Herrn Lang sind es jetzt dann fünf Wochen«, bemerkte Simone.

»Danke, daß Sie mich daran erinnern«, brummte O’Neill.

»Vielleicht sind es die fehlenden zwanzig Prozent der Verbindung. Vielleicht sollte man eine zweite Anwendung machen.«

»Wir haben die Erlaubnis für eine einmalige Anwendung.«

Sie starrten auf den Monitor. Konrad Lang bewegte sich. Er öffnete die Augen, schaute sich erstaunt im Zimmer um, schloß sie wieder und döste weiter.

»Ich glaube immer noch daran, daß es funktioniert«, beteuerte O’Neill.

»Wenn es dann nicht zu spät ist«, zweifelte Simone.

»Der Mensch kann noch mit Bruchteilen seines Gehirns funktionieren«, sagte Dr. Kundert.

»Es müssen allerdings die richtigen Bruchteile sein«, schränkte O’Neill ein.

»Und wenn die falschen überleben?« wollte Simone wissen.

»Ein Forscherteam hat bewiesen, daß sich unter gewissen Voraussetzungen Nervenzellen regenerieren können. Und wir wissen auch, daß man in Zellkulturen Zellen mit einer Anzahl Faktoren behandeln kann, mit dem Resultat, daß neue Kontakte sprießen. Wir wissen nur nicht, ob das gut ist oder schlecht, denn normalerweise entstehen neue Kontakte, wenn die Zellen etwas lernen. Das ist ein sehr kontrollierter Prozeß. Wenn wir den unkontrolliert auslösen, kann es sein, daß Kontakte sprießen, die man gar nicht will.«

»Das heißt, bis dieses Problem gelöst ist, bleiben die Zellen kaputt.«

O’Neill wollte sich nicht festlegen. Kundert fuhr fort. »Die Neurologie kennt viele Fälle, in denen Patienten nach einem Schädeltrauma oder einer Operation große Teile des Gehirns verloren hatten. Manchmal mußten sie vieles wieder von Grund auf lernen, manchmal vergaßen sie ganze Bereiche ihres Lebens. Aber meistens gewannen sie die Funktionen wieder, die ihnen erlaubten, wieder ein normales Leben zu führen.«

»Sie glauben, das wäre auch bei Konrad Lang möglich?«

»Wenn es gelingt, den Prozeß zu stoppen, solange er noch sprechen und Sprache verstehen kann, besteht die Chance, daß die verbliebenen Zellen stimuliert werden und neue Kontakte knüpfen können. Wahrscheinlich hätte er große Gedächtnislücken, und man müßte die Organisation seines Wissens in mühsamer Kleinarbeit wieder in Ordnung bringen. Aber es ist möglich. Wir gehen davon aus, daß es möglich ist, sonst wären wir nicht hier.«

»Sie wollen mir Mut machen«, lächelte Simone.

»Ist es mir gelungen?«

»Ein bißchen.«

Elvira hatte Thomas und Urs in ihr Arbeitszimmer zitiert, in dem sonst die informellen Verwaltungsratssitzungen der Koch-Werke stattfanden. Sie kam gleich zur Sache.

»Urs, deine Frau hat mich bestohlen.«

Urs fiel aus allen Wolken. Er hatte angenommen, es ginge um etwas Geschäftliches.

»Ich weiß nicht, wie und mit wessen Hilfe, ich weiß nur, daß sie im Besitz von Fotos ist, die ich hier an einem sicheren Ort aufbewahre.« Sie zeigte auf die Alben, die auf dem Tisch lagen. Urs nahm eines und begann darin zu blättern.

»Sie muß hier eingedrungen sein und sich Kopien gemacht haben. Dr. Stäubli hat gesehen, wie sie sie mit Koni anschaute.«

Thomas nahm sich ebenfalls ein Album und begann darin zu blättern.

»Weshalb sollte sie so etwas tun?«

»Sie will ihn damit stimulieren, was weiß ich. Es soll helfen, den Bezug zur Realität wiederherzustellen. Zur Realität!«

»Vermutest du das, oder weißt du es?«

»Ständig lag sie mir in den Ohren, daß ich ihr Fotos von früher gebe. Und Thomas auch. Nicht wahr, Thomas?«

Thomas war in das Fotoalbum vertieft. Jetzt schaute er auf. »Was?«

Elvira winkte ab und wandte sich wieder an Urs. »Ich will die Fotos zurück, und zwar sofort.«

»Aber du hast sie ja, sie hat doch nur Kopien gemacht, sagst du.«

»Ich will nicht, daß sie mit Konrad in unserer Vergangenheit wühlt.«

Urs schüttelte den Kopf und blätterte in einem Album. »Warum sind hier so viele Fotos herausgerissen?«

Elvira nahm ihm das Album weg. »Bring mir die Fotos zurück!«

Thomas lachte auf und hielt Urs sein Album vor die Nase. »Was siehst du hier?«

»Elvira vor einem Kabrio.«

»Und mich und Koni siehst du nicht?« grinste er.

Elvira riß ihm das Album aus der Hand.

Thomas schaute sie verdattert an. Dann beugte er sich zu seinem Sohn. »Der Mercedes machte hundertzehn.«

»Bring mir die Fotos!« befahl Elvira und stand auf.

»Gibt es etwas in der Vergangenheit, das man nicht wissen darf?« fragte Urs mißtrauisch.

»Bring mir die Fotos!«

Urs stand verärgert auf. »Und ich dachte, es gehe um die Firma.«

»Um die geht es auch.« Elvira verließ das Zimmer.

»Sie wird langsam alt«, erklärte Thomas seinem Sohn.

Konrad Lang streikte immer noch. Er aß nichts, er war zu keinem Pinselstrich zu bewegen, und er hatte dem Therapeuten eine gelangt, als der ihn mit sanfter Gewalt zu einer harmlosen Übung drängen wollte. Dr. Kundert hatte angeordnet, daß Konrad nachts künstlich ernährt werden müsse, wenn er auch das Abendessen verweigerte.

Sie hatten beschlossen, daß Simone ihm heute die Fotos aus dem ältesten Album zeigen sollte. Sie hofften, ihn damit aus seiner Apathie zu reißen.

Koni saß im Morgenrock in seinem Sessel im Wohnzimmer. Es war nicht möglich gewesen, ihn anzukleiden. Als Simone das Zimmer betrat, reagierte er nicht. Auch nicht, als sie einen Stuhl heranzog und sich neben ihn setzte.

»Koni«, fing sie an, »ich habe hier ein paar neue Bilder, bei denen ich deine Hilfe brauche.« Sie schlug das Album auf.

Das erste Foto zeigte die junge Elvira im Wintergarten der »Villa Rhododendron«. Sie trug einen wadenlangen Rock und einen ärmellosen, hochgeschlossenen Pullover, an dessen Halsausschnitt ein weißes rundes Kräglein hervorschaute. Sie saß in einem Liegestuhl und strickte. Im Vordergrund sah man die Lehne des Biedermeiersessels, der jetzt, anders bezogen, im Boudoir in der Villa stand.

»Diese Frau, zum Beispiel, wer ist das?«

Konrad schaute gar nicht hin.

Simone hielt ihm das Album vors Gesicht. »Diese Frau?«

Koni seufzte. »Fräulein Berg«, antwortete er, wie zu einem schwierigen Kind.

»Ach, und ich dachte, es sei Elvira.«

Koni schüttelte den Kopf über so viel Begriffsstutzigkeit.

Neben dem Bild von Elvira war ein weißer Fetzen, wo früher einmal ein Foto geklebt hatte. Simone blätterte.

Das nächste war von der Südseite der Villa her aufgenommen. Es zeigte die Treppe zur großen Terrasse, und darauf Wilhelm Koch. Er trug eine helle Hose, ein weißes Hemd mit Krawatte und eine dunkle Weste, aber kein Jackett. Er hatte einen runden, kahlen Schädel und lächelte steif in die Kamera.

»Und dieser Mann?«

Koni hatte sich damit abgefunden, daß er seiner Befragerin selbst die offensichtlichsten Dinge erklären mußte. »Papa Direktor«, antwortete er geduldig.

»Wessen Papa ist er?«

»Tomitomis.«

Auf der gegenüberliegenden Seite, neben einem weggerissenen Bild, war der Pavillon zu sehen. Die Rhododendren waren noch kleine Pflänzchen, und die Fichten im Hintergrund gab es heute nicht mehr. Am gußeisernen Geländer standen zwei alte Frauen mit breitkrempigen Hüten und formlosen, weiten, fast bodenlangen Kleidern.

»Tante Sophie und Tante Klara«, erklärte Koni unaufgefordert. Sein Interesse war jetzt geweckt. Dr. Kundert registrierte es am Monitor mit Erleichterung.

Seite um Seite gingen Simone und Konrad zusammen das Album durch. Bilder vom Park, von »Papa Direktor«, von »Fräulein Berg«, »Tante Sophie und Tante Klara«. Und Bilder, von denen nur noch ein weißer Fetzen übriggeblieben war.

Eines der letzten zeigte Elvira in einem geblümten, kurzärmeligen, zweiteiligen Sommerkleid an der Brüstung der Terrasse. Neben ihr stand Wilhelm Koch und hatte – was er auf keinem anderen Foto tat – besitzergreifend den Arm um sie gelegt. Im Hintergrund sah man den See in der Talsohle und die noch kaum verbauten Hügelzüge des anderen Ufers.

»Papa Direktor und Mama«, kommentierte Konrad.

»Wessen Mama?«

»Von Tomitomi«, seufzte Konrad Lang.

»Fräulein Berg ist die Mama von Tomitomi?«

»Jetzt schon.«

Beim letzten Foto, um das herum alle anderen weggerissen worden waren, geschah etwas Seltsames. Es zeigte eine Rabatte vor einer Hecke und einen Kübel mit einem blühenden Oleander, um den es dem Fotografen wohl gegangen war. Koni studierte das Bild lange und genau. Schließlich konstatierte er: »Papa Direktor und Tomitomi.«

Simone schickte einen Blick zum versteckten Objektiv.

»Papa Direktor« – Koni zeigte auf eine Stelle im Oleander – »und Tomitomi.« Er deutete auf eine Stelle dicht darunter.

Erst als Simone genauer hinschaute, merkte sie, daß der Fotograf den Film zu transportieren vergessen und das Foto zweimal belichtet hatte. In der Hecke konnte sie schemenhaft den kahlen Schädel von Wilhelm Koch erkennen. Und auf seinem Schoß die Umrisse eines Kindes.

Dr. Kundert und Simone saßen lange über den Fotos und versuchten aus den Antworten klug zu werden. Daß Elviras Mädchenname Berg gewesen war, war kein Geheimnis. Aber wenn Konrad dieser Name geläufig war, mußte er sie schon gekannt haben, bevor seine Mutter Anna Lang damals ihren Dienst in der »Villa Rhododendron« antrat. Zu der Zeit war Elvira schon Frau Direktor Koch gewesen.

Natürlich war es nicht unwahrscheinlich, daß die junge Elvira als Frau eines um so viele Jahre älteren Mannes jemanden zur Gesellschaft engagiert hatte, den sie von früher kannte.

Viel eigenartiger war dagegen die Doppelbelichtung. Je mehr sich ihre Augen darauf eingestellt hatten, das andere, schwächere Bild anzuschauen, desto deutlicher wurde es. Darüber, daß es sich bei dem Mann um Wilhelm Koch handelte, bestand kein Zweifel. Aber das Kind sah nicht aus wie Thomas. Weder die charakteristische Schädelform noch die eng zusammenliegenden Augen waren auszumachen. Wenn der Kleine jemandem glich, dann eher den Kinderfotos von Konrad Lang.

»Warum gibt es im ganzen Album kein einziges Foto von Thomas?« fragte Dr. Kundert.

»Vielleicht waren es die, die fehlen.«

»Warum sollte sie jemand herausreißen?«

Simone sprach aus, was sie beide dachten: »Weil das Kind auf den Fotos nicht Thomas Koch ist.«

In derselben Nacht rief Urs Simone von der Villa aus an. »Ich muß mit dir sprechen. Jetzt. Ich komme rüber.«

»Es gibt nichts zu besprechen.«

»Und was ist mit den Fotos, die du Elvira gestohlen hast?«

»Ich habe sie nur ausgeliehen und Kopien davon gemacht.«

»Du bist bei ihr eingebrochen.«

»Ich habe den Schlüssel benutzt.«

»Du bist in ihre Privatsphäre eingedrungen. Für das, was du getan hast, gibt es keine Entschuldigung.«

»Ich bitte nicht um Entschuldigung.«

»Du gibst jetzt ganz einfach die Fotos zurück.«

»Sie hat Angst vor diesen Fotos. Und langsam wird mir klar, warum.«

»Warum?«

»Irgend etwas stimmt nicht, was die Vergangenheit betrifft. Sie befürchtet, daß es Konrad an den Tag bringen könnte.«

»Was sollte ein kranker Mann mit einem kaputten Hirn schon an den Tag bringen?«

»Frag Elvira! Frag sie, wer auf den Fotos war, die sie herausgerissen hat!«

Tomi lag im Torf im Gärtnerschuppen, warm zugedeckt mit Jutesäcken, und war ganz still. Draußen lag Schnee, und es schneite Fazonetli. Sie suchte ihn.

Wenn sie ihn fand, würde sie ihn stechen. Wie Papa Direktor.

Er hatte es gesehen.

Er war erwacht, weil Papa Direktor so sprach, wie er spricht, wenn er Schnaps getrunken hat. Laut und anders als sonst. Er hörte, wie er die Treppe heraufkam und in das Zimmer polterte, wo er und Mama schliefen.

Tomi stand auf und schaute durch den Türspalt, der immer offen war, bis sie ins Bett gingen. Seine und Konis Mama stützten Papa Direktor ins Zimmer und setzten ihn aufs Bett. Konis Mama gab ihm Schnaps. Sie zogen ihn aus und legten ihn aufs Bett.

Dann stach ihn Konis Mama mit einer Nadel. Sie deckten ihn zu, löschten das Licht und gingen aus dem Zimmer. Koni machte die Tür weiter auf und ging zu Papa Direktor. Der roch nach Schnaps.

Plötzlich ging das Licht an, und Konis Mama kam zurück. Sie nahm ihn an der Hand und brachte ihn ins Bett.

»Warum habt ihr Papa Direktor gestochen?« fragte er.

»Wenn du das noch einmal sagst, steche ich dich auch«, antwortete sie.

Früh am Morgen hörte er viele Stimmen im Nebenzimmer. Er stieg aus dem Bett und sah nach, was los war. Es waren viele Leute da, auch seine und Konis Mama. Papa Direktor lag ganz still im Bett.

Dann sah ihn Konis Mama und brachte ihn weg. »Was hat Papa Direktor?« fragte er.

»Er ist tot«, antwortete sie.

Draußen fiel der Schnee. Immer höher und höher. Bis übers Dach und die Bäume.

Tomi schloß die Augen. Hier würde sie ihn nicht finden.

Doch als er aufwachte, tat ihm der Arm weh, und als er hinschaute, war der Arm angebunden, und eine Nadel steckte darin. Sie hatte ihn also doch gefunden.

Er riß die Nadel heraus. Das Licht ging an. Er schloß die Augen. »Nicht stechen!«

Auch im »Stöckli« brannte noch Licht. Urs war spät zu Elvira gekommen. Sie saßen im Salon. Im Kamin glimmte der Rest eines Feuers.

»Sie sagt, du fürchtest dich vor den Fotos, weil etwas nicht stimme in der Vergangenheit. Du hättest Angst, Koni könnte sich daran erinnern.«

»Was soll nicht stimmen in der Vergangenheit?«

Urs hätte nicht sagen können, ob Elvira beunruhigt war.

»Ich soll dich fragen, wer auf den Fotos war, die herausgerissen worden sind.«

Doch, jetzt war sie beunruhigt. »Ich weiß nicht, was sie meint.«

»Ich schon. Ich habe das Album bei dir gesehen. Das mit den herausgerissenen Fotos.«

»Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich habe ich mir darauf nicht gefallen.«

Elvira schaute Urs an. Er war anders als sein Vater. Er wich den Problemen nicht aus. Er wollte wissen, was auf ihn zukam, damit er die richtigen Maßnahmen treffen konnte. Urs Koch war der geeignete Mann für die Koch-Werke. Er würde sie so erhalten, wie Elvira sie gemacht hatte: groß, gesund und über alle Zweifel erhaben.

»Wenn es etwas gibt, das ich wissen muß, solltest du es mir sagen.«

Elvira nickte. Sie würde es nicht so weit kommen lassen, daß er es wissen mußte.

Am nächsten Morgen kam Elvira ins Gästehaus. Simone war mit Dr. Kundert bei Konrad. Sie versuchte gerade, ihn zum Frühstück zu überreden. Aber er starrte nur an die Decke.

Schwester Irma kam herein. »Da draußen steht Frau Senn und sagt, sie will Frau Koch sprechen.«

Simone und Kundert wechselten einen Blick. »Führen Sie sie herein«, sagte Simone.

Kurz darauf kam Schwester Irma wieder. »Sie will nicht hereinkommen, Sie sollen herauskommen, sagt sie. Sie ist ziemlich wütend.«

»Wenn sie mich sprechen will, muß sie hereinkommen.«

»Das soll ich ihr sagen? Die bringt mich um.«

»Sie sind stärker als sie.«

Schwester Irma ging hinaus und blieb eine ganze Weile draußen. Als sie zurückkam, war Elvira bei ihr. Sie war bleich und hatte Mühe, sich zu beherrschen. Sie ignorierte Konrad und Dr. Kundert und baute sich vor Simone auf. Sie mußte sich sammeln, bevor sie sprechen konnte.

»Gib mir die Fotos!«

Simone war ebenfalls bleich. »Nein. Sie werden zu therapeutischen Zwecken gebraucht.«

»Gib mir sofort die Fotos!«

Die beiden Frauen starrten sich an. Keine bereit nachzugeben.

Da ertönte vom Bett her Konrads Stimme. »Mama, warum habt ihr Papa Direktor gestochen?«

Elvira sah Konrad nicht an. Ihr Blick irrte von Schwester Irma zu Dr. Kundert und zu Simone.

Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.

Simone ging zu Konrads Bett. »Wer hat Papa Direktor gestochen?«

Konrad legte seinen Zeigefinger an die Lippen. Psst.

Seit Simone nicht mehr künstlich ernährt wurde und Konrad Lang nichts mehr aß, konzentrierte sich Luciana Dotti auf Simone. Sie war zwar ausgebildete Diätköchin, aber bei schwangeren Frauen hielt sie nichts von Diät. Sie kochte ihr »fettuccine al prosciutto e asparagi«, »pizzoccheri della Valtellina«, »penne ai quattro formaggi«, und jedesmal, wenn Simone zwischen den Mahlzeiten in die Nähe der Küche kam, versuchte sie ihr ein Röllchen Parmaschinken oder ein Rädchen weiche Salami in den Mund zu stecken. »Per il bambino.«

Heute hatte es »conchiglie alla salsiccia e panna« gegeben, und Simone hatte sich zwei große Portionen aufdrängen lassen. Noch während sie den Tisch im Stationszimmer abräumte, kündigte Luciana an: »Heute abend mache ich ›maccheroni al forno alla rustica‹. Mit Auberginen und geräuchertem Mozzarella überbacken, ein Gedicht.«

Simone reagierte schnell. »Oh, habe ich das nicht gesagt? Heute abend bin ich zum Essen eingeladen.«

Luciana nahm es mit Würde. »Viel Vergnügen«, wünschte sie knapp und trug ab. Schwester Irma half ihr dabei.

Dr. Kundert betrachtete Simone. Als sie seinen Blick spürte, sah sie auf. »Auberginen mit geräuchertem Mozzarella. Ich wußte mir nicht anders zu helfen.«

»Sie sind gar nicht eingeladen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und wie lösen Sie das?«

Sie zuckte die Schultern.

»Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?«

Den ganzen Tag verbrachte Elvira Senn in ihrem Schlafzimmer und ließ niemanden zu sich. Am Abend, als es Zeit für ihr Insulin wurde, ging sie zu dem kleinen Kühlschrank im Bad, nahm ihre Insulin-Pen, hielt sie über das Lavabo und drückte auf den Knopf. Dann drehte sie beide Hähne auf und ließ lange das Wasser laufen.

Tomi lag im Bett und weinte. Aber nur leise. Wenn ihn Konis Mama hörte, würde sie kommen und ihn stechen. Das hatte sie selbst gesagt.

Konis Mama schlief jetzt nebenan. Deswegen war es gut möglich, daß sie ihn hörte. Sie hieß jetzt Mama Anna. Und Mama hieß jetzt Mama Elvira. Weil Konis Mama und seine Mama beide Mama hießen, wußte man sonst nämlich nie, welche Mama sie meinten.

Tomi weinte, weil er in Konis Bettchen schlafen mußte, in Konis Zimmer.

Das war ein Spiel. Manchmal spielte Tomi Koni und Koni Tomi. Dann durfte Koni in Tomis Bettchen schlafen und Tomi in Konis.

Aber Tomi mochte das Spiel nicht. Konis Zimmer war im Häuschen hinter der Villa, wo Konis Mama schlief. Mama Anna. Vor ihr hatte er Angst.

Er hörte Stimmen streiten im Treppenhaus. Die Tür ging auf, und das Licht ging an.

»Nicht stechen«, sagte Tomikoni.

»Niemand wird dich stechen, Kind«, sagte die Stimme. »Wir bringen dich jetzt in dein Bettchen.«

Tomi war froh. Es war nicht Mama Anna. Es waren Tante Sophie und Tante Klara.

Elvira saß hochgebettet in ihrem riesigen Bett. Der Föhn war zusammengebrochen, der März zeigte wieder sein wahres Gesicht. Die Vorhänge aus altrosa Crêpeseide waren zugezogen und ließen nur wenig vom Licht des grauen Nachmittags herein.

Auf dem Biedermeiersekretär neben dem Bett und der ausladenden Empire-Kommode brannten zwei Lampen mit seidenen Schirmen und tauchten den Raum in perlmuttfarbenes Licht.

Urs saß auf einem kleinen gepolsterten Sessel am Bettrand. Elvira hatte ihn zu sich gebeten, weil sie ihm wichtige Dinge zu sagen hatte.

»Du hast mich gestern gefragt, ob es Dinge in der Vergangenheit gibt, die du wissen solltest. Es gibt solche Dinge.«

Als Urs zwei Stunden später aus einem Fenster der Villa zum Gästehaus hinüberschaute, war er nicht so unbesorgt, wie er Elvira hatte glauben lassen. Er erwiderte den Gruß von Dr. Stäubli nur flüchtig, der ihm auf dem Weg zum »Stöckli« im Vorübergehen zuwinkte.

Elvira hatte Stäubli angerufen und ihm ihre Blutzuckerwerte genannt. »Da stimmt etwas nicht«, hatte er gesagt und sich sofort auf den Weg gemacht.

Als er ihre Werte maß, runzelte er die Stirn und nahm eine Stechampulle Alt-Insulin heraus. Ein rasch aber nur kurze Zeit wirkender Insulintyp, den man zur Ersteinstellung bei absolutem Insulinmangel verwendet.

Er zog eine Spritze auf und injizierte sie in ihren Oberschenkel. »Ein Kilo Pralinen haben Sie ja wohl nicht gegessen.«

Elvira winkte ab. Sie haßte Süßigkeiten.

»Und Sie sind sicher, daß Sie immer gespritzt haben?«

»Ich glaube schon. Aber vielleicht kontrollieren Sie es besser, ich bin eine alte Frau. Im Badezimmer im kleinen Kühlschrank.«

Dr. Stäubli ging ins Bad. Elvira beugte sich aus dem Bett und griff in seinen Koffer. Als er nach einer Weile zurückkam, war er ratlos. »Scheint alles korrekt. Die Aufzeichnungen und der effektive Verbrauch stimmen überein. Ich werde die angebrochene Patrone ins Labor schicken.«

Dr. Stäubli versprach, am nächsten Tag wieder nach ihr zu sehen.

Als sie allein war, griff Elvira unter die Bettdecke, holte die Stechampulle Insulin heraus und stellte sie auf den Sekretär.

Simone und Dr. Kundert hatten im Fresco reserviert, einer der vielen ehemaligen Quartierbeizen, die die neuen Besitzer auf die alte Substanz reduziert und mit weißer Farbe, Papiertischtüchern, gutgelauntem Personal und unprätentiöser, internationaler Küche in sympathische Trendlokale verwandelt hatten.

Sie bestellten griechischen Salat und als Hauptgang Tacos. Die Kellnerin duzte sie beide, und Simone bemerkte zu Dr. Kundert: »Ich glaube, wir sind die einzigen Menschen in diesem Raum, die einander siezen.« Von diesem Moment an duzten sie sich.

»Was ich dich schon lange fragen wollte: Warum tust du das für ihn? Du kennst ihn doch gar nicht.«

»Ich weiß es nicht.« Sie dachte nach. »Er tut mir einfach leid. Wie ein ausgedienter Teddybär. Ab und zu noch einmal hervorgekramt aus Langeweile und irgendwann ganz weggeschmissen. Das kann doch nicht das Leben gewesen sein.«

Kundert nickte. Simones Augen füllten sich mit Tränen. Sie nahm ein Taschentuch aus der Handtasche und wischte sie ab. »Entschuldige, das passiert mir öfter, seit ich schwanger bin. Wer, glaubst du, ist auf den herausgerissenen Fotos?«

»Konrad Lang«, antwortete Kundert ohne Zögern.

»Das vermute ich auch.«

Kundert schenkte Wein nach. »Das würde auch erklären, warum er Koni und Tomi auf den alten Fotos verwechselt.«

»Man hat ihm gesagt, er sei Koni, dabei ist er Tomi.«

»Wie ist so etwas möglich?«

»Bei Vierjährigen ist das nicht ausgeschlossen: Tomikoni, Konitomi. Mama Vira, Mama Anna.« Kundert wurde aufgeregt. »Die beiden Frauen haben die Kleinen so durcheinandergebracht, haben mit ihren Identitäten so lange gespielt, bis diese nicht mehr wußten, wer sie waren. Und dann haben sie sie vertauscht.«

»Und jetzt, mit der Krankheit, taucht bei Koni die alte Identität wieder auf?«

»Es ist denkbar, daß bei ihm die Struktur des semantischen Wissens so durcheinandergeraten ist, daß diese Informationen eine höhere Priorität erhalten haben. Oder vielleicht sind durch die Krankheit Erinnerungskapazitäten frei geworden. So konnten alte Erinnerungen in den Vordergrund treten.«

»Aber warum sollten die beiden Frauen die Kinder tauschen?«

»Für Anna Langs Kind. Damit es die Koch-Werke erbt.«

Das Ganze ergab für Simone keinen Sinn. »Wie käme Elvira dazu, Anna Lang diesen Gefallen zu tun?«

Das Fresco hatte sich gefüllt. Das Gemurmel und Gelächter sorgloser Menschen und der Geräuschteppich aus Tangos, Belcantos und Rock-Klassikern verschluckten die Ungeheuerlichkeit, die Simone jetzt leise aussprach: »Demnach wäre Koni der wahre Erbe der Koch-Werke.«

Auch zur vorgerückten Apérostunde war die Bar des Des Alpes schwach besetzt. Ein paar Hotelgäste, ein paar Geschäftsleute, ein Pärchen, dessen Beziehung noch nicht so weit gefestigt war, daß es sich in besser frequentierten Lokalen blicken lassen wollte, und die Hurni-Schwestern, die die Pause des Pianisten dazu benutzten, umständlich ihre Rechnung zu signieren.

Charlotte, die Nachmittagsbarfrau, war von Evi abgelöst worden, auch sie nicht mehr fünfzig und offensichtlich eine der wenigen regelmäßigen Kundinnen im hoteleigenen Solarium.

Vom Pausenband sang Dean Martin You’re nobody till somebody loves you.

Urs Koch saß in einer Nische mit Alfred Zeller. Beide hatten ein Glas Whisky vor sich, Urs mit Eis, Alfred mit Eis und Wasser. Die beiden kannten sich seit ihrer Jugend. Sie waren zusammen im »St. Pierre« gewesen, wie schon ihre Väter. Alfred hatte nach dem Internat Jura studiert, war in die renommierte Praxis seines Vaters eingetreten, deren wichtigster Klient die Koch-Werke waren. Er war, neben seiner Tätigkeit für die Werke, Urs’ persönlicher Rechtsberater geworden und, soweit das in einer solchen Konstellation möglich war, auch sein Freund.

Urs hatte ihn angerufen und gefragt, ob er heute abend zufällig frei sei. »Zufällig ja«, hatte Alfred geantwortet und die Theaterpremiere sausenlassen.

Urs wußte nicht, wie er anfangen sollte.

»Schade um den alten Kasten«, bemerkte Alfred, um etwas zu sagen. Als Urs nicht verstand, was er meinte, erklärte er: »Das Des Alpes. Seit Jahren in den roten Zahlen. Die ›Nationalkredit‹ hat ihm die Hypotheken gekündigt. Es heißt, sie will es übernehmen und ein Ausbildungszentrum daraus machen. Die Bar wird mir fehlen. Ruhig genug, um etwas besprechen zu können. Laut genug, um dabei nicht belauscht zu werden. Man ist unter sich.«

Urs genügte das als Stichwort. »Was ich dich fragen will, soll auch unter uns bleiben. Es wird dir seltsam vorkommen, und es könnte dich zu falschen Schlüssen verleiten. Betrachte es als eine rein theoretische Erörterung. Mehr kann ich dir über die Hintergründe nicht sagen, außer: Es ist nicht so, wie du meinst.«

»Alles klar.«

»Folgendes Szenario: Eine junge Frau heiratet in den Dreißigerjahren einen wohlhabenden Fabrikanten, Witwer mit fünfjährigem Sohn. Ein Jahr später stirbt er. Einen Erbvertrag gibt es nicht, seine einzigen Erben sind seine Frau und sein Sohn. Sie tauscht diesen gegen den Sohn einer Freundin, was niemand merkt. Was geschieht, wenn die Sache heute auffliegt?«

»Weshalb sollte sie das tun?«

»Einfach so. Eine Hypothese. Was geschieht also?«

Alfred überlegte einen Moment. »Nichts.«

»Nichts?«

»Betrug verjährt nach zehn Jahren.«

»Da bist du sicher?«

»Ich kenne doch die Verjährungsfrist von Betrug.«

Urs rührte mit einer Giraffe aus Plastik im Glas. Die Eiswürfel klingelten. »Zusatzfrage, noch hypothetischer: Der Mann ist nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern die Frau hat etwas nachgeholfen, ohne daß es jemand gemerkt hat.«

»Mord verjährt nach zwanzig Jahren, Betrug nach zehn. Wenn in dieser Zeit nichts ans Licht gekommen ist, ist die Sache erledigt.«

»Und das Erbe?«

»Die Frau ist als Mörderin lebenslänglich erbunwürdig. Das heißt, wenn die Sache heute auffliegt, verliert sie automatisch alle Ansprüche auf das Erbe.«

»Und muß es dem rechtmäßigen Erben zurückgeben.«

»Von Rechts wegen schon.«

Urs nickte. »Das hab ich mir gedacht.«

»Aber wenn sie es nicht tut, kann er nichts machen. Die Erbschaftsklage verjährt nach dreißig Jahren.«

»Und der falsche Sohn?«

»Da ist noch weniger zu holen. Bei dem verjährt sie bereits nach zehn. Und weil er ja nichts dafür kann, daß er als Kind vertauscht wurde, ist er nicht einmal erbunwürdig.«

»Bist du sicher?« Urs winkte der Barfrau.

Alfred Zeller grinste. »Unser Erbrecht schützt die Vermögen besser als die Erben.«

»Noch einmal das gleiche?« fragte Evi.

Etwa zur selben Zeit stand Elvira Senn zum Ausgehen gekleidet im Badezimmer und zog den ganzen Inhalt der Stechampulle, die sie Dr. Stäubli entwendet hatte, auf drei Spritzen auf.

Sie schlug sie in einen trockenen Waschlappen ein und steckte ihn in die Handtasche. Dann trat sie ins Entrée, nahm aus der Vase neben der Garderobe den Frühlingsstrauß und ging hinaus. Die Laternen, die den Weg durch die Rhododendren säumten, hatten gelbe Höfe aus Nieselregen.

Konitomi lag im Bett. Im Bett über ihm lag Tomikoni. Die Mamas schliefen nebenan.

Die Betten rüttelten und wackelten. Sie fuhren in einem Zug durch die Nacht. Sie waren auf einer langen Reise.

Es war dunkel, das Rollo am Fenster runtergezogen. Wenn der Zug hielt, hörte man vor dem Fenster Lärm und Stimmen und vor der Tür Schritte und Leute, die aufgeregt in fremden Sprachen durcheinanderredeten.

Nach einer Weile ruckten die Betten, es ächzte und quietschte, und dann ratterte der Zug weiter. Langsam und dann immer schneller. Radada, radada, radada.

Er und Tomikoni hatten jetzt jeder zwei Mamas: Mama Anna und Mama Vira. Damit sie nicht so traurig waren, daß sie keinen Papa mehr hatten und keine Tanten.

Er war trotzdem traurig. Tomikoni nicht.

Schwester Ranjah war überrascht, als sie der älteren Dame mit dem großen Blumenstrauß die Tür öffnete.

»Ich bin Elvira Senn. Ich wollte Herrn Lang ein paar Blumen bringen. Ist er noch auf?«

»Er ist im Bett, aber ich glaube, er ist noch wach. Er freut sich bestimmt über Ihren Besuch.«

Sie ließ Elvira Senn herein, nahm ihr die Blumen ab und half ihr aus dem Regenmantel. Dann klopfte sie an Konrads Tür und öffnete sie: »Überraschung, Herr Lang.«

Konrad hatte die Augen geschlossen. Als er Ranjahs Stimme hörte, schlug er sie auf. Sobald er Elvira sah, schloß er sie wieder.

»Er ist sehr müde, weil er nichts ißt«, flüsterte Ranjah.

»Ich werde einfach ein Weilchen hier sitzen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Als Ranjah die Blumen in eine Vase gestellt hatte und damit zurück ins Zimmer kam, saß Elvira auf dem Stuhl am Bettrand und betrachtete den schlafenden Koni.

Das Bild berührte Ranjah. Sie freute sich, daß die alte Frau nun doch noch zu ihm gefunden hatte. Wieder draußen, widerstand sie dem Impuls, die beiden im Stationszimmer am Monitor zu beobachten. Sie beschloß, diskret im Wohnzimmer zu warten, bis Konis Besucherin sich verabschiedete.

Simone Koch und Peter Kundert waren beim dritten Kaffee. Das Papiertischtuch war vollgekritzelt mit Symbolen und Wörtern. Konitomi Õ Tomikoni stand da und Tomi Õ Koni und Mama Vira ÷ Mama Anna. Kundert konnte besser denken, wenn er sich Notizen machte.

Je länger sie darüber redeten, desto mehr Sinn ergab das Ganze.

»Darum die lange Reise. Damit sie die Kinder ungestört umprogrammieren konnten«, sagte Simone.

»Und Elvira konnte das Personal entlassen und nach der Rückkehr neues einstellen«, vermutete Kundert.

»Dann mußte sie die Buben wohl auch von den beiden alten Tanten fernhalten. Die hätten bestimmt etwas gemerkt.«

»Und warum haben sie nach der Rückkehr nichts gemerkt?«

»Vielleicht waren sie dann schon tot. Sie sehen sehr alt aus auf den Fotos.«

Kundert notierte sich »Tanten wann †?«, riß die Notiz aus dem Tischtuch und steckte sie zu den anderen in die Brusttasche seines Hemdes.

Das Fresco hatte sich geleert gehabt. Aber jetzt waren die Kinos aus, und das Lokal füllte sich wieder. Unter all den Menschen, die an den Tischen saßen und versuchten, sich über den gerade gesehenen Film klarzuwerden, fielen Simone Koch und Peter Kundert nicht auf.

»Nur etwas paßt nicht«, grübelte Kundert. »Anna Lang. Oder vielmehr: Was hat Elvira dazu bewogen, bei diesem Tausch mitzumachen?«

»Er nannte sie Mama. ›Mama, warum habt ihr Papa Direktor gestochen?‹«

Kundert zögerte einen Moment. »Vielleicht haben sie Wilhelm Koch etwas injiziert.«

»Sie haben ihn umgebracht«, stellte Simone fest.

»Können wir das ausschließen?« Er schrieb »Todesursache Koch??«, riß das Papier weg und steckte es zu den anderen.

»Ich glaube, es ist besser, wir gehen jetzt zurück«, sagte Simone.

Zwei Stunden nachdem Elvira Senn gegangen war, merkte Schwester Ranjah, daß mit Konrad Lang etwas nicht in Ordnung war.

Als sie routinemäßig nach dem Patienten schaute, war er schweißgebadet, leichenblaß, sein Herz klopfte wild, und er zitterte am ganzen Leib. Seine Lippen bewegten sich, als versuchte er etwas zu sagen.

Sie hielt ihr Ohr ganz dicht an seinen Mund, aber sein Gelalle und Gestammel ergab keinen Sinn.

»What’s the matter, baby, tell me, tell me!« Sie versuchte, von seinen Lippen zu lesen.

»Angry? Why are you angry, baby?«

Konrad schüttelte den Kopf. Wieder versuchten seine Lippen das Wort zu formen.

»Hungry? You are hungry?«

Konrad Lang nickte.

Schwester Ranjah rannte hinaus und kam mit einem Einmachglas zurück. Sie schraubte es auf, fischte eine honigtriefende Mandel heraus und steckte sie ihm in den Mund. Und dann die nächste. Und dann die nächste.

Konrad verschlang die Mandeln mit einer Gier, wie sie es noch nie bei einem Kranken erlebt hatte. Außer vielleicht manchmal bei Diabetikern, denen der Blutzuckerspiegel plötzlich abgefallen war. Aber Konrad Lang war kein Diabetiker.

Seltsam war nur: Je mehr Honigmandeln er aß, desto besser ging es ihm. Sein Puls normalisierte sich, die Schweißausbrüche ließen nach, und er bekam wieder etwas Farbe.

Schwester Ranjah steckte Konrad gerade die letzte Mandel in den Mund, als die Tür aufging und Dr. Kundert und Simone eintraten. Beide waren erleichtert.

»Schwester Ranjahs Zauber hat wieder einmal gewirkt«, sagte Simone, »Konrad ißt wieder.«

Schwester Ranjah erzählte, was passiert war. Die Symptome sprachen für eine Hypoglykämie. Dr. Kundert maß Konrads Blutzuckerwerte und stellte fest, daß sie immer noch an der unteren Grenze lagen. Schwester Ranjah hatte ihm mit ihren Honigmandeln wohl das Leben gerettet. Als er Glukose in das Latexverbindungsstück von Konrads Infusionsbesteck spritzte, fand er dort Einstiche. Er selbst hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden keine Medikamente zugespritzt.

»Als Herr Lang letzte Nacht die Infusion herausriß, habe ich das ganze Besteck ausgewechselt.«

Dr. Kundert suchte nach einer Erklärung. Ein Patient mit normalen Zuckerwerten bekommt nicht aus heiterem Himmel einen hypoglykämischen Schock. »Und Ihnen ist den ganzen Abend nichts Besonderes an ihm aufgefallen?«

»Nur daß er sehr müde war. Sogar, als Frau Senn kam, schlief er weiter.«

»Frau Senn war da?« fragte Simone.

»Ja. Sie war über eine Stunde bei ihm.«

»Ist Ihnen da etwas Besonderes aufgefallen?«

»Ich war nicht im Zimmer.«

»Und am Monitor?«

»Auch nicht. Es war ja jemand bei ihm.«

Kundert und Simone waren schon auf der Treppe.

Thomas war zerzaust und aufgedunsen, als er um zwei Uhr nachts ins Gästehaus kam. Simone hatte ihn aus dem Bett geholt.

»Wenn es nicht um Leben und Tod geht, wirst du mich kennenlernen«, hatte er gedroht, als sie darauf bestand, daß er seine Brille mitnehmen und auf der Stelle kommen solle.

»Genau darum geht es«, antwortete sie. »Um Leben und Tod.«

Auch Urs rief sie an. Er sei noch nicht zurückgekommen, versicherte ihr eine verschlafene Candelaria.

Sie führte Thomas ins Stationszimmer und stellte ihm Dr. Kundert und Schwester Ranjah vor, die er unwirsch begrüßte. Einen Stuhl lehnte er ab. Er habe nicht vor, lange zu bleiben. Kundert ließ das Überwachungsband von der Stelle an laufen, wo die Schwester mit dem Blumenstrauß hereinkam und dann Elvira mit Konrad allein ließ.

»Sie hat Koni besucht?« wunderte sich Thomas. »Wann war das?«

Simone schaute auf die Uhr. »Vor sieben Stunden.«

Das Bild blieb immer gleich. Konrad Lang lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Elvira Senn saß neben ihm.

Dr. Kundert spulte das Band vor bis zu einer Stelle, wo Elvira kurz aus dem Sessel hoch- und zurückschnellte. Er stoppte das Band, spulte es zurück und ließ es in normaler Geschwindigkeit laufen.

Jetzt sah man, wie Elvira vorsichtig aufstand, sich über Konrad beugte und wieder setzte. Noch zweimal wiederholte sich diese Szene.

Als Elvira im Schnellgang zum vierten Mal hochfederte, blieb sie stehen und zappelte ums Bett herum. Kundert spielte den Vorgang in normaler Geschwindigkeit.

Elvira stand auf. Sie beugte sich über Konrad. Sie richtete sich auf. Sie öffnete ihre Handtasche. Sie nahm ein helles Tuch heraus. Sie legte es auf den Nachttisch. Sie schlug es auseinander. Sie nahm etwas in die rechte Hand. Sie ging damit zum Infusionsschlauch. Sie hielt ihn mit der linken Hand. Was sie dann tat, wurde durch ihre rechte Schulter verborgen.

Sie ging wieder zurück zum Nachttisch. Sie legte den Gegenstand auf das helle Tuch. Sie nahm einen zweiten Gegenstand. Sie ging zurück zum Infusionsschlauch. Sie hielt den Gegenstand gegen das Licht. Einen Moment zeichnete er sich deutlich gegen die Bettdecke ab. Es war eine Spritze.

Was sie dann tat, wurde wieder durch ihre Schulter verdeckt.

Erst beim dritten Mal war es genau zu sehen: eine Spritze! Und: Sie stieß die Nadel in die Latexverbindung des Infusionsschlauchs.

Elvira packte das Tuch wieder in ihre Tasche und verließ den Raum, ohne sich ein einziges Mal nach Konrad umzusehen.

»Was war das?« fragte Thomas Koch verdattert.

»Ein Mordversuch. Insulin. Herr Lang sollte durch einen hypoglykämischen Schock umgebracht werden. Nicht nachweisbar. Nur dank Schwester Ranjah hat er überlebt.«

Thomas Koch setzte sich. Lange Zeit schien er wie benommen. Dann sah er Simone an. »Warum hat sie das getan?«

»Frag sie selbst.«

»Vielleicht ist sie verrückt geworden.«

»Hoffentlich kann sie das beweisen«, sagte Dr. Kundert.

Am nächsten Morgen fühlte sich Elvira Senn ausgezeichnet. Sie hatte herrlich geschlafen, erwachte in der frühen Morgendämmerung mit einem Gefühl großer Erleichterung, stand sofort auf und ließ ein Bad ein.

Als sie eine dreiviertel Stunde später ihr Frühstückszimmer betrat, merkte sie, daß etwas schiefgegangen sein mußte. Thomas lag angezogen auf dem kleinen Sofa und schlief mit offenem Mund. Sie rüttelte ihn wach. Er setzte sich auf und versuchte sich zurechtzufinden.

»Was machst du hier?«

Thomas überlegte. »Ich habe auf dich gewartet.«

»Warum?«

»Ich muß mit dir reden.«

»Worüber?«

Er hatte es vergessen.

Elvira half ihm. »Hat es etwas mit Koni zu tun?«

Thomas dachte nach. Plötzlich tauchten die Erinnerungen an die letzte Nacht wieder auf. »Du wolltest ihn umbringen.«

»Wer sagt das?«

»Ich habe es gesehen. Es ist auf Band aufgezeichnet.«

Elvira mußte sich setzen. »Konrads Zimmer wird mit Kameras überwacht?«

»Euch war ja nur das Beste gut genug.«

»Was sieht man?«

»Dich, wie du dreimal etwas in seinen Infusionsschlauch spritzt.«

»Und er lebt?«

»Die Nachtschwester hat ihn gerettet. Mit Honig, soviel ich verstanden habe.«

Elvira wurde still.

»Warum hast du das getan?«

Sie gab keine Antwort.

»Warum hast du das getan?«

»Er ist gefährlich.«

»Koni? Gefährlich? Für wen?«

»Für uns. Für dich und Urs und mich. Für die Koch-Werke.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sein kaputtes Hirn hat sich an Dinge erinnert, die niemand wissen darf.«

»Was für Dinge?«

Vor dem Fenster begann ein neuer Tag, verhangen wie der letzte. Elvira hatte nicht mehr die Kraft zu schweigen.

»Weißt du, wie alt ich war, als ich als Kindermädchen zu Wilhelm Koch kam? Neunzehn. Und er war sechsundfünfzig. In den Augen einer Neunzehnjährigen ein alter Mann. Aufdringlich, versoffen und sechsundfünfzig.«

»Aber du hast ihn geheiratet.«

»Mit neunzehn macht man Fehler. Vor allem, wenn man kein Geld hat und nichts gelernt.«

Es klopfte. Montserrat kam mit einem Tablett herein. Als sie Thomas sah, nahm sie ein zweites Gedeck aus der Anrichte. Elvira und Thomas schwiegen, bis sie wieder allein waren.

»Ich holte Anna ins Haus, damit ich nicht allein war und ihm ganz ausgeliefert. Sie hatte dann die Idee« – Elvira machte eine Pause – »sie hatte dann die Idee, ihn umzubringen.«

Thomas streckte seine Hand nach der Kaffeetasse aus. Aber sie zitterte so, daß er es aufgab. Sie wartete, daß er etwas sagte. Thomas versuchte das Geständnis in seiner ganzen Tragweite zu erfassen.

»Anna hatte eine Ausbildung als Krankenschwester abgebrochen. Sie wußte, wie man das macht, ohne daß es jemand merkt: mit einer hohen Dosis Insulin. Man stirbt an einem Schock. Das Insulin läßt sich nicht nachweisen. Höchstens der Einstich. Wenn man danach sucht.«

Jetzt brachte Thomas Koch hervor: »Ihr habt meinen Vater umgebracht?«

Elvira griff nach ihrem Glas Orangensaft. Ihre Hand war ruhig. Sie hielt es einen Augenblick und setzte es dann ab, ohne daraus getrunken zu haben. »Wilhelm Koch wurde erst nach seinem Tod zu deinem Vater.«

Thomas verstand nicht.

»Nach seinem Tod haben wir euch vertauscht. Wilhelm Koch war Konrads Vater.«

Während sie Thomas Zeit gab, seine nächste Frage zu formulieren, griff sie wieder nach dem Glas. Doch jetzt zitterte auch ihre Hand. Sie stellte es wieder ab.

»Warum habt ihr das gemacht?« gelang es Thomas zu fragen.

»Wir wollten, daß du alles bekommst, nicht Konrad.«

Wieder brauchte Thomas eine Weile, um das zu verdauen. »Aber warum?« fragte er dann. »Warum ich?«

»Mit Konrad verband mich nichts. Er erinnerte mich nur an Wilhelm Koch.«

»Und mit mir? Was verband dich mit mir?«

»Anna und ich waren Halbschwestern.«

Thomas stand auf und ging ans Fenster. Ein eintöniger Dauerregen hatte eingesetzt. »Anna Lang ist meine Mutter«, murmelte Thomas. »Und du – meine Tante.«

Elvira sagte nichts.

Ein paar Minuten stand Thomas nur da und starrte in die regennassen Rhododendren. Dann schüttelte er den Kopf. »Wie kann eine Mutter ihr Kind einfach mir nichts, dir nichts ihrer Halbschwester überlassen?«

»Daß sie in London blieb, war nicht so geplant. Sie hatte sich verliebt. Und dann kam der Krieg.«

»Und wer ist mein Vater?« fragte er schließlich.

»Er ist nicht wichtig.«

Thomas wandte sich vom Fenster ab. »Und was passiert, wenn das herauskommt?«

»Es kommt nicht heraus.«

»Die schalten die Behörden ein.«

»Du und Urs, ihr sprecht mit Simone. Ihr versucht, ihr das auszureden. Um jeden Preis.«

Thomas nickte. »Und du?«

»Ich verreise besser für ein paar Tage.«

Er schüttelte den Kopf und wollte gehen, besann sich aber, umarmte sie und küßte sie auf beide Wangen.

»Geh jetzt«, antwortete sie und drückte ihn fest an sich.

Als er gegangen war, hatte sie Tränen in den Augen. »Dummkopf«, murmelte sie. Dann ging sie ins Bad.

Urs hatte einen Kater, als ihn sein Vater kurz nach sieben weckte. Es war letzte Nacht sehr spät geworden. Er hatte den günstigen Bescheid von Fredi Zeller etwas zu ausgiebig gefeiert, war gegen zwei Uhr in einem Lokal gelandet, das er sich eigentlich seit Eintritt in den Gesamtverwaltungsrat verboten hatte. Um vier Uhr morgens hatte er sich im Zimmer eines Altstadthotels wiedergefunden, mit einer hinreißenden Brasilianerin, die, wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, einen Penis besaß. Was ihn in dem Moment überhaupt nicht gestört hatte. Im Gegenteil, wie er sich im nachhinein zu seinem blanken Entsetzen eingestehen mußte.

Er war erst vor zwei Stunden heimgekommen, hatte den Wecker auf zehn Uhr gestellt und wollte mit Elvira zu Mittag essen, um sie, was die Vergangenheit anging, zu beruhigen.

Dazu war es nun zu spät, wie er der stockenden Erklärung seines Vaters entnahm.

Alles, was er noch tun konnte, war, einen möglichst klaren Kopf zu bekommen und mit der Schadensbegrenzung zu beginnen.

Noch vom Bett aus rief er Fredi Zeller an. Hoffentlich hatte er nicht den gleichen Brummschädel wie er.

Im Gästehaus kümmerte man sich unterdessen um den Patienten. Dr. Kundert machte vor allem eines Sorgen: Die Nervenzellen des Gehirns sind zur Energiegewinnung ausschließlich auf Glukose angewiesen. Seine Zuckerreserven reichen höchstens für zehn bis fünfzehn Minuten. Je nach Länge und Schwere der Unterzuckerung kann es zu schlimmen Schädigungen kommen. Und zu Persönlichkeitsveränderungen, selbst bei einem gesunden Gehirn.

Bei einem Gehirn wie dem von Konrad Lang konnte es katastrophale Folgen haben.

Die psychologischen Tests, die Kundert bis zu Simones Rückkehr (sie war zu ihrem Anwalt gefahren, um dort das Videoband zu deponieren) durchführte, hatten ihn etwas beruhigt. Konrad Langs Werte hatten sich nicht verschlechtert. Er war in Anbetracht der Erlebnisse der letzten Nacht sogar von erstaunlicher Präsenz.

Aber nun, da Simone mit Konrad die Fotos durchging, sank ihm der Mut.

Er erkannte nichts und niemanden auf keinem einzigen der Bilder. Er reagierte auf kein Stichwort. »Papa Direktor« war für ihn ein Fremdwort, »Konitomi« und »Tomikoni« entlockten ihm ein höfliches Lächeln und »Mama Vira« ein Achselzucken.

Simone blieb hartnäckig. Dreimal fing sie wieder von vorn an, dreimal mit dem gleichen Resultat.

Beim vierten Mal, als sie wieder auf die junge Elvira im Wintergarten zeigte und fragte: »Und das, ist das nicht Fräulein Berg?«, antwortete er leicht gereizt:

»Wie gesagt, ich weiß es nicht.«

Wie gesagt?

Im Innern des schwarzen Daimlers war das Rauschen des Regenwassers kaum zu hören, das die Reifen des schweren Wagens aufwirbelten.

Elvira Senn starrte zum Fenster hinaus, auf die trostlosen Ostschweizer Ortschaften und die paar vermummten Leute, die man in den Schneeregen hinausgejagt hatte.

Schöller war zwar nicht Elviras Chauffeur, aber es war immer wieder vorgekommen, daß sie ihn kurzfristig zitierte für einen ihrer spontanen Ausflüge. Es gehörte zum Spiel, daß sie ihm nicht sagte, wohin die Reise führte. Manchmal, weil sie ihn überraschen wollte, manchmal, weil sie das Ziel selbst nicht kannte.

Aber diesmal schien sie es genau zu kennen. Die Ortschaften waren ihr geläufig, Aesch bei Neftenbach, Henggart, Andelfingen, Trüllikon. Elvira Senn dirigierte Schöller mit knappen Anweisungen. Hinter Basadingen, einem Kaff, dessen Name Schöller aus Zeckenwarnungen an Spaziergänger und Jogger kannte, ließ sie ihn in einen Feldweg abbiegen.

Ein paar Einfamilienhäuser und Bauernhöfe, dann hörte der Asphalt auf. Zweimal schrammte der Auspufftopf des Daimlers über die Kuppe des ausgefahrenen Weges. Ein Transformatorenhäuschen, eine eingezäunte Brunnenstube, dann Wald. Schöller blickte in den Rückspiegel. Elviras Hand winkte ihn weiter.

Stöße aus säuberlich beschriftetem, exakt auf Länge gesägtem Holz säumten den Weg. Bei einem Polter aus frischgeschlagenem Langholz ließ sie ihn halten. Schöller stellte den Motor ab. Von den Tannenästen fielen schwere Tropfen auf das Wagendach.

»Wo sind wir hier?« fragte Schöller.

»Am Anfang«, antwortete Elvira.

An einem schönen Sonntagmorgen im März 1932 spazierte ein ungleiches Paar durch den Geißwald. Der Mann war etwa vierzig, kräftig, hatte schütteres blondes Haar und einen gezwirbelten Schnurrbart. Sein Gesicht war gerötet vom Frühschoppen, den er mit den Kirchgängern in der Dorfbeiz genommen hatte. Er trug einen groben Sonntagsanzug, in dessen Hosensäcke er die Fäuste vergrub.

Die Frau war ein vierzehnjähriges Mädchen, blond, mit einem runden, hübschen Kindergesicht. Sie trug einen wadenlangen Rock, Wollstrümpfe, halbhohe Schnürstiefel und eine Strickjacke. Ihre Hände steckten in einem Muff aus abgewetztem Kaninchenfell.

Das Mädchen wohnte mit ihren Eltern und ihrer Halbschwester in einem gelb geschindelten Haus am Dorfrand von Basadingen. Die Mutter nähte in Heimarbeit Achselpolster für eine Kleiderfabrik in St. Gallen. Der Vater war Sägereiarbeiter. Einer der ganz wenigen mit zehn Fingern, wie er gern betonte.

Der Mann war ein Arbeitskollege des Vaters. Er ging bei ihnen ein und aus, und niemand hatte etwas dagegen, denn er war ein Witzbold, und sie hatten nicht viel zu lachen. An seiner rechten Hand befanden sich nur noch Daumen und Zeigefinger. Die andern drei hatte ihm die Bandsäge genommen. Als es passiert war, hatte ihm ein bleicher Lehrling die drei Finger gebracht. »Gib sie dem Hund«, hätte er gesagt; so ging die Anekdote.

Diese rechte Hand hatte etwas Obszönes, was das Mädchen faszinierte. Einmal, als er bemerkte, wie sie die Finger anstarrte, sagte er: »Damit kann ich alles machen, wozu man eine rechte Hand braucht.« Sie wurde rot. Von da an richtete er es immer wieder ein, daß er mit ihr allein war. Dann brachte er sie in Verlegenheit mit allerlei Anzüglichkeiten.

Sie war ein neugieriges Mädchen. Es brauchte nicht viel, um sie zu überreden, daß sie sich mit ihm an einem Sonntag nach der Kirche im Geißwald traf. Er wollte ihr etwas zeigen, das sie noch nie gesehen hätte. Sie war nicht so naiv, zu glauben, es handele sich dabei um einen seltenen Pilz.

Aber jetzt, als er sie in einen Holzweg zog, der vom Waldsträßchen wegführte, hatte sie Herzklopfen. Und als sie zu einem mit frischem Sägemehl gefleckten Holzeinschlag kamen und er sie aufforderte, sich neben ihn auf einen Tannenstamm zu setzen, sagte sie: »Ich will lieber wieder zurück.«

Aber sie wehrte sich nicht, als er begann, sie mit seiner schwieligen Krabbenzange abzutasten. Sie hielt auch still, als er über sie herfiel. Schloß die Augen und wartete, bis es vorbei war.

Als sie ihre Kleider in Ordnung gebracht und aufgehört hatte zu weinen, begleitete er sie bis zum Waldrand. Dort schickte er sie nach Hause. »Das erzählst du niemandem«, sagte er zum hundertsten Mal. Es wäre nicht nötig gewesen. Elvira Berg dachte nicht im Traum daran, es einer Menschenseele zu erzählen.

Ihre Periode hatte erst vor kurzem eingesetzt. Als sie jetzt wieder ausblieb, machte sie sich darüber keine Gedanken. Im Mai begann sie unter Schwindelanfällen zu leiden. Dann unter Übelkeit. Im Juni brachte sie ihre Mutter nach Konstanz zu einem Arzt, den sie aus der Zeit ihrer ersten Ehe kannte. Elvira war im vierten Monat schwanger.

Sie kam in ein Heim im Kanton Freiburg, das von Ordensschwestern geleitet wurde. Man besaß dort Erfahrung mit solchen Fällen. Im November brachte Elvira einen gesunden Jungen zur Welt. Die Schwestern tauften ihn auf den Namen Konrad. Nach dem heiligen Konrad, der im neunten Jahrhundert Bischof von Konstanz war.

Im Januar 1933 begann Elvira ihr Welschlandjahr. Sie kam zu einer Familie in Lausanne, der sie für ein Taschengeld den Haushalt führte. Konrad blieb in der Obhut von Elviras Mutter. Er wurde als das uneheliche Kind von Anna, Elviras älterer Halbschwester, ausgegeben. Der Dorfklatsch von Basadingen kannte keine Gnade.

Anna stammte aus Mutters erster Ehe mit einem Friseur aus Konstanz, der im Juli 1918 an der Marne gefallen war. Sie hieß Lang, wie ihr Vater, war neunzehn und besuchte die Schwesternschule in Zürich. Erst an Heiligabend 1933, ihrem ersten Besuch in Basadingen in diesem Jahr, erfuhr sie, daß der inzwischen über einjährige Konrad im Dorf als ihr uneheliches Kind galt. Sie reiste noch in der gleichen Nacht ab. Aber ihre Drohung, die ganze Welt über den wahren Sachverhalt aufzuklären, machte sie nicht wahr.

Zwei Jahre später war Elvira wieder schwanger. Diesmal von »monsieur«, dem Vater der Familie, bei der sie arbeitete. Sie kannte nun die Symptome und war fest entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen wie das erste Mal. Sie fuhr zu ihrer Schwester, die sich im letzten Jahr ihrer Ausbildung zur Krankenschwester befand. Als Anna klar wurde, worum Elvira sie bat, lehnte sie empört ab. Aber Elvira hatte in den letzten Jahren ihr Talent entdeckt und entwickelt, zu bekommen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Am zweiten Tag ihres Besuchs willigte ihre Schwester ein, ihr zu helfen.

Anna war während ihrer Ausbildung zweimal bei einem Schwangerschaftsabbruch dabeigewesen. Sie traute sich zu, den Eingriff selbst vorzunehmen. Sie schmuggelte die Instrumente, die nach ihrer Erinnerung dazu gebraucht wurden, aus der Klinik. Auf der Federkernmatratze ihres Mansardenzimmers machte sie sich an der mit einer halben Flasche Pflümli anästhesierten Elvira zu schaffen.

Es wurde ein Desaster. Elvira verlor eine Unmenge Blut und hätte nicht überlebt, wenn Anna nicht im letzten Moment einen Krankenwagen bestellt hätte.

Elvira Berg verbrachte vier Wochen im Spital. Als man ihr sagte, sie würde nie mehr Kinder bekommen können, seufzte sie: »Gott sei Dank!«

Anna Lang verlor ihre Ausbildungsstelle und wurde zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt.

Weihnachten 1935 fanden sich die beiden Halbschwestern im kleinen zugigen Haus in Basadingen wieder. Sie wußten nicht, was trostloser aussah: ihre Gegenwart oder ihre Zukunft.

Doch kurz nach Neujahr wendete sich das Schicksal. Elvira meldete sich auf das Inserat einer Stellenvermittlung, die ein Kindermädchen für einen Witwer in »allerbesten Verhältnissen« suchte. Sie kam in die engere Wahl und durfte sich bei Wilhelm Koch, einem reichen Fabrikanten vorstellen. Als sie die Stelle bekam, machte sie sich keine Illusionen darüber, daß sie das nicht allein dem enthusiastischen Arbeitszeugnis zu verdanken hatte, das ihr »monsieur« ausgestellt hatte.

Thomas Koch war vier, ein einfaches, ruhiges Kind, das ihr nicht viel abverlangte. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater. Aber diesmal diktierte Elvira die Bedingungen. Kein Jahr später war sie Wilhelm Kochs Frau. Und kurz darauf zog Anna Lang als Dienstmädchen ins Personalhaus. Sie brachte den kleinen Konrad mit, der immer noch als Annas Sohn galt.

Lange hatte Elvira tief in Gedanken im Fond des Daimlers gesessen. Die Scheiben hatten sich beschlagen, und der Regen tropfte immer noch in unregelmäßigem Takt aufs Dach. Als sie Anstalten machte, die Tür zu öffnen, stieg Schöller aus, spannte einen Schirm auf und half ihr aus dem Wagen.

»Lassen Sie mich einen Augenblick allein«, bat sie. Schöller reichte ihr den Schirm und blickte der zerbrechlichen Gestalt mit der großen Handtasche nach, die sich auf dem aufgeweichten Waldweg unsicher entfernte und schließlich in der Biegung hinter einem Dickicht junger Tannen verschwand. Er setzte sich wieder hinters Steuer und wartete.

Zwanzig Minuten später, gerade als er sich entschlossen hatte, ihr entgegenzufahren, und schon den Motor startete, tauchte sie wieder auf. Er fuhr langsam die paar Meter auf sie zu und half ihr in den Wagen. Sie sah aus, als hätte sie sich frisch zurechtgemacht. Nur ihre Pumps waren in einem erbärmlichen Zustand.

Als er darüber eine Bemerkung machte, lächelte sie und sagte: »Fahr mich in die Sonne!«

Schöller fuhr vorschriftsmäßig hundertdreißig. Es war nicht ungewöhnlich, daß Elvira nicht sprach. Nur daß sie einnickte, war neu.

Im Gotthardtunnel, knapp über zwei Stunden nachdem sie Basadingen in Richtung Süden verlassen hatten, bemerkte er im Rückspiegel, wie ihr immer wieder die Augen zufielen. »Wecken Sie mich in Rom«, sagte sie, als sie spürte, daß er sie beobachtete. Dann schlief sie ein.

Auch als er bei der Tunnelausfahrt den Wagen etwas brüsk abbremsen mußte, weil er von dem starken Regen auf der Südseite überrascht wurde, erwachte sie nicht aus ihrem sonst so leichten Schlaf.

Der Scheibenwischer kämpfte vergeblich gegen die Flut aus Regen und Spritzwasser, als er in einer dichten Kolonne fast im Schrittempo durch die Leventina fuhr. Elvira Senn schlief immer noch.

Kurz nach Biasca fiel ihm auf, wie bleich sie geworden war. Ihr Mund war leicht geöffnet.

»Frau Senn«, rief er leise. Dann etwas lauter: »Frau Senn!« Und schließlich ziemlich laut: »Elvira!«

Sie reagierte nicht. Bei der nächsten Raststelle bremste er und bog ein. Etwas überraschend für den folgenden Wagen, dessen langgezogenes Hupen noch nachklang, als Schöller schon im Regen stand und die Tür zum Fond aufriß.

Der Schweiß hatte Elviras Make-up aufgelöst. Sie war ohne Bewußtsein, aber Schöller spürte ihren Puls. Er schüttelte sie, zuerst behutsam, dann kräftig. Als sie kein Lebenszeichen von sich gab, setzte er sich wieder ans Steuer und fuhr los. Diesmal ohne auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu achten. Kurz hinter Claro hatte er endlich die Auskunft erreicht, die Nummer des Spitals von Bellinzona erfahren und den diensthabenden Notfallarzt am Apparat. Gerade als er bei überhöhter Geschwindigkeit auf der Überholspur am Autotelefon die Details der Symptome durchgab und den Arzt über die Bedeutung der Patientin informierte, flog das letzte Schild der Ausfahrt nach Bellinzona Süd an ihm vorbei. Er trat auf die Bremsen, riß das Steuer nach rechts, merkte, daß er einem Lastwagen auf der rechten Spur den Weg abschnitt und gab Gegensteuer. Der Daimler brach aus, flog auf den Mittelstreifen, durchbrach beide Leitplanken, überschlug sich mehrmals, verfehlte einen entgegenkommenden Lieferwagen um Haaresbreite und kam auf dem Pannenstreifen der Gegenspur zum Stehen. Kühler in Fahrtrichtung, aber Räder in der Luft.

Zwei Stunden nach Eintreffen der Todesnachricht erklärte Urs Koch seiner Frau Simone die juristische Lage, wie sie ihm Fredi Zeller auseinandergesetzt hatte. Er hatte sich geweigert, die Besprechung im Gästehaus zu führen. Sie hatte schließlich eingewilligt, in die Villa zu kommen, aber auf ihrem »Laura-Ashley-Zimmer« bestanden.

Er war sehr bestimmt und dynamisch aufgetreten, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß die roten Augen nicht von den Tränen um Elvira herrührten.

Sie hörte seinen Ausführungen ruhig zu und ließ ihn geschäftsmäßig rekapitulieren. Erst als er sagte: »Du siehst: Juristisch ist der Fall erledigt«, fragte sie: »Und menschlich?«

»Menschlich ist er natürlich tragisch. Für alle Beteiligten.«

»Du weißt gar nicht, wie tragisch, wenn ich mit euch fertig bin.«

Urs kniff sich in den Nasenrücken. Sein Kopf tat weh. »Womit drohst du jetzt?«

»Veröffentlichung.« Simone stand auf. »Du wirst jedes Detail dieser schäbigen Geschichte in jedem Käsblatt und jedem Sender des Landes und der halben Welt so oft zu hören und zu lesen bekommen, bis du dich vor dir selbst ekelst.«

»Was willst du?«

Simone setzte sich wieder.

Erst eine Woche nach Elvira Senns Tod fand die Trauerfeier statt. So viel Zeit war, mit Rücksicht auf die Agenden der Crème aus Wirtschaft, Politik und Kultur erforderlich gewesen, um der Trauerfeier den angemessenen Rahmen zu verleihen.

Auf dem Platz vor dem Münster drängten sich ernste Menschen in feierlicher Kleidung. Die meisten kannten sich. Sie nickten sich stumm zu. Wenn sie sich die Hand gaben, taten sie es unerfreut, damit man nicht denken mochte, Elvira Senns Schicksal lasse sie kalt.

Man stand in kleinen Grüppchen beisammen und unterhielt sich mit gedämpfter Stimme. Ein paar Beamte der Stadtpolizei sorgten dafür, daß man unter sich blieb.

Mitten in die Betretenheit hinein hoben die schweren Münsterglocken an zu läuten. Langsam setzte sich die Trauergemeinde in Bewegung und trieb auf die Kirche zu. An der Pforte staute sie sich kurz und verteilte sich dann über die harten Bänke als tuschelnde, hüstelnde und schneuzende Gemeinde, die gefaßt den nächsten anderthalb Stunden entgegensah.

Von zwei Richtungen her füllten sich die Reihen: von vorn mit Angehörigen, Freunden, Bekannten; von hinten mit Geschäftsbeziehungen, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Presse. Als beides sich in der Mitte des Schiffes vermischt hatte und zusammengewachsen war, begannen sich die Gänge mit den Eiligen zu füllen, die nahe bei den Ausgängen bleiben wollten, damit sie danach keine Zeit verloren.

Während man in aller Form und Würde der Verstorbenen gedachte und auch Schöller nicht unerwähnt ließ, der beim Versuch, Elvira zu retten, sein Leben geopfert hatte, starrten die, die weiter vorn saßen, ins Blumenmeer und versuchten die Inschriften der Seidenschleifen zu entziffern. Die anderen hingen ihren Gedanken nach.

Niemand außer Dr. Stäubli wußte von den sechs Insulinampullen ›U 100‹, die im Kühlschrank von Elvira Senn gefehlt hatten.

Zu den wuchtigen, ermutigenden Orgelklängen und unter den teilnehmenden Blicken der Gemeinde verließen die Hinterbliebenen das Münster durch den Mittelgang. Ungefähr eine Stunde dauerte es, bis sich der zähe Strom der Trauergäste an Thomas, Urs und Simone Koch vorbeikondoliert hatte.

Als Simone endlich den Münsterplatz verließ, brach die Sonne durch die Wolken. Der Frühling machte sich bemerkbar, die Welt ging daran, Elvira Senn zu vergessen.

Als Simone vom Leichenmahl zurückkam (ihre Anwesenheit dort war ebenfalls Teil der Vereinbarung mit den Kochs), hielt die Beschäftigungstherapeutin eine Überraschung für sie bereit.

»Kommen Sie, Herr Lang hat ein Geschenk für Sie.«

Simone legte den Mantel ab und ging ins Wohnzimmer, wo Konrad neuerdings wieder einen Teil seiner Zeit verbrachte und seit Schwester Ranjahs Lebensrettung mit den Honigmandeln auch seine Mahlzeiten einnahm. Jetzt saß er am Tisch und malte.

Die Therapeutin nahm ein Blatt vom Tisch und hielt es Simone hin.

Es war das graublaue Aquarell mit dem Titel »Haus für SchneeSchneebälle im Mai«. Aber jetzt stand darunter noch: »Für Simone«.

Simone war gerührt. Weniger über Konrad als über die Therapeutin, die ihm den Namen diktiert hatte, um sie nach der Trauerfeier etwas aufzumuntern.

»Danke vielmals, Koni, das ist wunderschön. Wer ist Simone?«

Koni schaute sie an mit seinem mitleidigen Blick. »Das bist doch du.«

Am nächsten Tag war O’Neill da. Drei Stunden lang studierte er mit Kundert das Videoband zu jener Therapiesitzung; dann war auch er überzeugt, daß die Beschäftigungstherapeutin nicht geschummelt hatte.

Das aber bedeutete: Konrad Lang hatte einen neuen Namen gelernt und sich daran erinnert.

Am Nachmittag, zur üblichen Zeit, machte Simone mit Konrad eine Fotositzung. Diesmal mit allen vier Alben. Auch den dreien, auf die er schon lange nicht mehr reagiert hatte.

Jegliche Erinnerung an die dort abgebildeten Szenen seines Lebens war ausgelöscht.

Aber als sie zum letzten Album kam und auf das erste Bild – die junge Elvira im Wintergarten – zeigte, sagte er vorwurfsvoll: »Fräulein Berg. Gestern hast du es noch gewußt.«

An diesem Abend feierte die Belegschaft des Gästehauses eine Party. Luciana Dotti kochte sechs verschiedene Pastas, und Simone ging in den Weinkeller der Villa und kam mit acht Flaschen Brane-Cantenac 1961 zurück, einer Rarität, die noch Edgar Senn eingekellert hatte.

»Auf POM 55«, rief Ian O’Neill immer aus, wenn Luciana nachschenkte.

»Wenn es nicht das Insulin war«, grinste Peter Kundert jedesmal.

»Oder die Honigmandeln«, ergänzte Schwester Ranjah.

Peter Kundert ging als letzter. Als Simone ihn zur Tür brachte, küßten sie sich.

Konrad Lang fehlten zwar ganze Abschnitte seines Lebens, aber mit intensivem Training gelang es stückchenweise, sein altes Wissen neu zu organisieren und seinen Bezug zur Realität wiederherzustellen.

Er mußte wieder lernen, Bewegungsabläufe zu beherrschen, zuerst einfache, dann immer komplexere.

Nach einigen Monaten konnte er ohne Hilfe aufstehen und sich waschen, rasieren und anziehen. Wenn auch letzteres nicht immer ganz passend.

Je mehr er lernte, desto mehr kam von selbst zurück. Es war, wie sich das O’Neill und Kundert in ihren kühnsten Träumen erhofft hatten: Allein dadurch, daß die Krankheit gestoppt war, wurden die Hirnzellen stimuliert und stimulierten sich gegenseitig, bildeten neue Kontakte zu längst stillgelegten Hirnteilen, die auf diese Weise plötzlich wiedererweckt wurden.

Vieles blieb verschüttet, aber immer wieder tauchten Erinnerungen an die Oberfläche, wie Korken, die tief unten im Tang seines Gedächtnisses verheddert gewesen waren.

Das Gästehaus der »Villa Rhododendron« wurde zum Zentrum des Interesses der internationalen Alzheimerforschung. Und Konrad Lang ihr unbestrittener Star.

Im Juni wurde die Ehe zwischen Simone und Urs Koch geschieden.

Im Juli brachte Simone ein gesundes Mädchen zur Welt, das sie Lisa taufte.

Im September, an einem der letzten schönen Sommerabende – es roch nach frisch gemähtem Rasen, und weit unten am See glitzerten unternehmungslustig die Lichter der Vororte –, setzte sich Konrad Lang im Wohnzimmer des Gästehauses aus einer Eingebung heraus ans Klavier. Er öffnete den Deckel und machte einen Anschlag mit der rechten Hand. Er spielte ein paar Akkorde und dann sachte die Stimme der rechten Hand der Nocturne Opus 15, Nummer zwei, in Fis-Dur, von Frédéric Chopin. Zuerst unsicher, dann immer beherzter und flüssiger.

Als Schwester Ranjah leise ins Zimmer trat, lächelte er sie an.

Dann nahm er die linke Hand zur Hilfe.

Und die Linke begleitete die Rechte. Blieb ein bißchen stehen, verschnaufte ein paar Takte, holte sie wieder ein, nahm ihr die Melodie ab, führte sie allein weiter, warf sie ihr wieder zu, kurz: benahm sich wie ein selbständiges Lebewesen mit einem eigenen Willen.