9

 

»Wie uns das hier so hinüberzieht«, sagte Konrad Lang. Simone Koch versuchte ihn zu verstehen. Sie saßen im Fond von Dr. Kunderts Wagen und fuhren in einer Kolonne die Waldstraße hinauf zur Klinik.

Konrad erklärte es ihr. »Wenn das fährt, fahren wir auch. Und wenn es steht, stehen wir auch.« Er zeigte auf die Autos vor ihnen.

Jetzt verstand Simone. »Du meinst, wie ein Zug.«

Konrad schüttelte den Kopf. »Das hier, meine ich. Wie uns das hier hinüberzieht.«

Simone hatte sich daran gewöhnt, daß Konrad Dinge sah, die ihr verborgen blieben. Oder Dinge ganz anders sah als sie. Er konnte zum Fenster blicken und sagen: »Da hing früher ein anderes.« Das hieß dann, daß er das Fenster als Bild an der Wand betrachtete.

Es konnte aber auch passieren, wenn er ein Foto erklärte, daß er mit Händen und Füßen beschrieb, was darauf oben, unten, Vorder- und Hintergrund war. Weil er glaubte, sie würde die drei Dimensionen nicht begreifen. In letzter Zeit geschah dies öfter, und es beunruhigte sie alle. Das Foto auf dem Raddampfer, bei dem er früher die Namen aller Abgebildeten herunterbetete, hatte er ihr jetzt schon zweimal auf diese Weise erklärt. »Das da ist hier, und das da ist dort.«

Sie waren auf dem Weg in die Universitätsklinik, wo mit Konrad in den letzten Tagen verschiedene klinische Untersuchungen gemacht worden waren. Es ging um eine diagnostische Bestandsaufnahme. Als Entscheidungsgrundlage für die Ethik-Kommission und um zu Vergleichswerten für die Behandlung zu kommen.

Die psychologischen Tests, die sie im Gästehaus durchgeführt hatten, waren abgeschlossen. Die Elektroenzephalographie hatte er hinter sich, ebenso die Durchblutungsmessungen aller Hirnareale.

Heute fuhren sie zur letzten Untersuchung, der Computertomographie.

Konrad hatte alle Untersuchungen entweder gleichgültig oder amüsiert über sich ergehen lassen. Auch jetzt ließ er sich brav auf die Liege helfen, zudecken und in den Zylinder des Tomographen schieben.

Als dieser sich drehte, erst langsam, dann schneller, immer schneller, schlief Konrad ein.

Er schlief auch noch, als man die Liege aus dem Tomographen herauszog.

»Herr Lang?« rief die Assistentin.

»Herr Lang?« rief Dr. Kundert.

Konrad reagierte nicht. Kundert schüttelte ihn sanft. Dann etwas heftiger.

»Guten Morgen, Herr Lang«, sagte er jetzt ziemlich laut.

Konrad schlug die Augen auf. Dann riß er die Decke weg und schaute seine nackten Füße an. »Das habe ich genau gewußt«, stieß er hervor. »Drei Zehen.«

Er sprang von der Liege und landete so unglücklich, daß er sich das linke Schien- und Wadenbein brach.

»Das ist wirklich Pech. Der Ärmste!« sagte Elvira Senn, als ihr Dr. Stäubli während seiner Untersuchung von Konrad Langs Unfall berichtete. Es klang nicht sehr teilnahmsvoll, eher interessiert. »Ist es schlimm?«

»Der Bruch an sich ist nicht kompliziert. Aber es ist ein schwerer Rückschlag für einen Alzheimerpatienten, wenn er bettlägerig wird. Er muß auf die Gymnastik verzichten, seine Beweglichkeit und Koordinationsfähigkeit leiden, die Gefahr von Komplikationen wie Kreislaufschwächen, Embolien, Muskelschwund, Knochenentkalkung steigt.«

»Es beschleunigt den Verlauf der Krankheit?«

»Die Gefahr ist groß.« Er schrieb in ihrem Krankenblatt.

»Für ihn ist es wohl besser so.«

Dr. Stäubli schaute auf. »Warum glauben Sie das?«

»Das ist doch kein Leben.«

Er überlegte einen Moment. »Ich weiß es nicht. Vielleicht kommt das nur uns so vor. Vielleicht lebt er in einer Welt, von der wir alle keine Ahnung haben. Vielleicht ist das das eigentliche Leben.«

»Das glauben Sie nicht im Ernst.«

Dr. Stäubli zuckte die Schultern. »Ich möchte es jedenfalls nicht entscheiden müssen.«

Kundert und O’Neill beschlossen, vorsichtshalber den Unfall gegenüber der Ethik-Kommission nicht zu erwähnen, die in zwei Tagen unter anderem über den »Antrag Dr. Kundert« entscheiden sollte.

Der Zwischenfall in der Tomographie hatte auch seinen positiven Aspekt: Die Krankengeschichte von Konrad Lang, mit der Dr. Wirth widerwillig und in drei Etappen herausgerückt war, erwähnte einen ähnlichen Vorfall während der ersten Computertomographie vor etwas über einem Jahr. Auch damals hatte der Patient den Vorgang mit dem Verlust seiner drei Zehen in Zusammenhang gebracht.

»Das heißt erstens, daß er noch vor einem Jahr etwas Neues gelernt hat«, erklärte Dr. Kundert Simone Koch, »und zweitens, daß es im episodischen Gedächtnis gespeichert ist und durch die gleiche Episode abgerufen werden konnte.«

»Und ist das ein gutes Zeichen?«

»Möglicherweise ist dieser Bereich des Gehirns also noch nicht so weit zerstört, daß er sich nicht mehr stimulieren ließe.«

Diesen Aspekt des Zwischenfalls beschlossen Kundert und O’Neill gegenüber der Ethik-Kommission herauszustreichen.

Als Simone Konrad am Tag vor der Entscheidung der Kommission besuchte, brachte sie neue Fotos mit.

Er lag in seinem Spitalbett und starrte auf sein eingegipstes Bein, das an einer Art Flaschenzug von einem Gestänge über dem Bett hing. Als sie ihm die Bilder zeigte, auf denen die beiden Buben mit Elvira auf Reisen abgebildet waren, schien er nicht sonderlich interessiert.

Er sah sich als Kind auf dem menschenleeren Markusplatz in Venedig neben Thomas und Elvira stehen, um sie herum ein paar Dutzend Tauben. Den kurzen Schatten nach mußte es Mittag sein. Im Hintergrund die leeren Tische vor den Arkaden der Cafés, deren Markisen alle herabgelassen waren, damit dahinter die vernünftigeren Menschen von der Mittagssonne unbehelligt speisen konnten.

Bei einigen Bildern wußte Konrad, wo sie aufgenommen waren. »Venedig«, sagte er, oder: »Mailand.« Und bei allen erkannte er: »Tomi, Koni und Mama Vira.«

»Mama Vira?«

»Mama Vira.«

Er sah sich an einem menschenleeren Sandstrand mit Tomi im Schatten eines gestreiften Sonnensegels eine Sandburg bauen. Im Hintergrund eine Reihe ebenfalls gestreifter Strandkabinen. Genau an der Stelle, wo der Schatten des Segels endete, saß in einem Liegestuhl Elvira in einem züchtigen Badeanzug. Neben ihr ein zweiter, leerer Stuhl.

»Tomi, Koni und Mama Vira.«

»Wo?«

»Am Meer.«

Auf der letzten Seite waren drei Fotos. Das eine zeigte den Ausschnitt eines dunklen Schiffsbauches, zwei Reihen Bullaugen und das Muster der groben Nieten der Außenhaut. Eine weiße Gangway mit der Aufschrift »Dover« ragte in das Innere des Schiffes, wo im Halbdunkel die weiße Hemdbrust eines wahrscheinlich uniformierten Mannes auszumachen war.

Das zweite Foto zeigte noch einmal die gleiche Gangway von näher. Im Hintergrund der Uniformierte, im Vordergrund, mit dem Rücken zum Schiff, Elvira und Thomas, die in die Kamera winkten.

Das dritte Foto war es, das Konrad aufwühlte. Es zeigte die Gangway in umgekehrter Richtung. Im Hintergrund ein Teil eines Hafengebäudes, ein paar winkende Menschen in Hüten und Mänteln, im Vordergrund, auf der Gangway, eine Frau und ein Mann. Man sah seinen lächelnden schmalen Mund, seine Augen waren von der Krempe eines weichen Filzhutes mit breitem Band umschattet. Er trug einen offenen Tweedmantel über einem dreiteiligen Flanellanzug, ein helles Hemd und eine gestreifte Krawatte. Sein Mantelkragen war hochgeschlagen, seine linke Hand steckte in der Tasche, die so hoch angesetzt war, daß er den Arm abwinkeln mußte.

Es war nicht zu erkennen, ob er den rechten Arm herunterhängen oder um die Taille der Frau neben ihm gelegt hatte. Sie war gleich groß wie er und lächelte herausfordernd in die Kamera. Eine kleine Pelzmütze saß verwegen auf ihrem Pagenschnitt. Sie trug ein grobes Tweedkostüm mit zur Mütze passendem Pelzkragen, einen Pullover mit feinen Querstreifen und einen langen Schal mit Kaschmirmuster. Über der rechten Schulter hing eine Tasche an einem langen Riemen.

»Mama Anna«, stieß Konrad verächtlich hervor und wischte mit einer heftigen Bewegung die Laserkopien vom Bett.

Als Simone das Bild später genauer studierte, glaubte sie eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Frau und Sophie Berger, der entlassenen rothaarigen Aushilfsschwester, festzustellen.

Koni mußte im Dunkeln im Bett liegen, obwohl er Angst im Dunkeln hatte. Er durfte nicht rufen, und er durfte auch nicht aufstehen.

Sonst holten ihn die schwarzen lauten Männer mit den weißen Augen, die die Kohle brachten. Die kamen mit vollen schwarzen Säcken in den Keller des Hotels und gingen mit leeren schwarzen Säcken wieder hinaus. Einmal sah er, wie einer von ihnen mit einem Sack wieder hinausging, der noch halb voll war. Er fragte Mama Anna, was in dem Sack sei. »Solche wie du, die nicht gehorchen.«

»Was machen die mit denen?«

»Was denkst du, was die mit denen machen?«

Koni wußte es nicht, aber er malte sich das Schlimmste aus.

Das Schlimmste wäre, wenn er immer in dem schwarzen Sack bleiben müßte. Immer im Dunkeln.

Koni hatte früher nie Angst gehabt vor der Dunkelheit. Erst, seit sie in London waren. In London ertönten manchmal plötzlich Sirenen, und dann wurde es dunkel. Sie übten für den Krieg, hieß es, und er sah den Leuten an, daß sie auch Angst hatten.

Eigentlich hatte er Angst vor den Sirenen, aber weil die Dunkelheit mit den Sirenen zusammenhing, hatte er auch Angst vor der Dunkelheit.

Koni konnte sich also entscheiden zwischen der Angst vor der Dunkelheit und der Angst, daß er mit brennendem Licht erwischt wurde. Es war vorgekommen, daß er sich für letzteres entschieden und Licht gemacht hatte. Deswegen hatte ihn Mama Anna jetzt mit dem Bein ans Bett gefesselt.

Er konnte sie nebenan hören mit dem Mann, der ihn nicht sehen durfte. Wenn der Mann ihn sah, kam Koni in den Sack.

Früher waren auch Männer gekommen und geblieben. Aber die durften ihn sehen. Denen durfte er gute Nacht sagen, und dann ab ins Bett. Die brachten ihm manchmal etwas mit. Aber dieser durfte ihn nicht sehen.

Deswegen war er im Dunkeln angebunden.

Schwester Ranjah saß im Stationszimmer und beobachtete den Monitor von Konrads Schlafzimmer. Das Zimmer war verdunkelt, und Konrad Lang war nur als Umriß auf dem helleren Hintergrund des Bettes zu erkennen. Er rührte sich nicht, aber sie wußte, daß er wach war. Wenn Konrad Lang auf dem Rücken schlief, wie jetzt, wo das mit dem Gips nicht anders möglich war, dann schnarchte er. Aber über den Lautsprecher war kein Schnarchen zu hören. Nur der flache Atem und das tiefe Luftholen eines, der wach lag in der Nacht.

Schwester Ranjah stand von ihrem Stuhl auf und ging leise die Treppe hinunter. Vorsichtig drückte sie die Klinke seiner Schlafzimmertür runter. Als sie im Raum stand, merkte sie, wie er den Atem anhielt.

»Herr Lang?« flüsterte sie. Keine Reaktion. Sie ging an sein Bett.

»Herr Lang?«

Konrad Lang rührte sich nicht. Jetzt war Schwester Ranjah beunruhigt. Sie suchte nach dem Schalter, der neben der Klingel am Haltegriff hing, und machte Licht.

Konrad Lang preßte die Hände vor die Augen.

»Ich habe kein Licht gemacht, Mama Anna«, flehte er.

»Mama Anna isn’t here«, sagte Schwester Ranjah und nahm ihn in die Arme.

Beim Übergabegespräch am nächsten Morgen berichtete Schwester Ranjah Schwester Irma vom Zwischenfall. »Sagen Sie dem Doktor, die Teufel der Vergangenheit lassen ihn nicht schlafen.«

Später schauten sich Dr. Kundert und Simone die Aufzeichnung des Zwischenfalls an.

»Warum hatte er wohl Angst vor dem Licht?« fragte Simone.

»Er hatte keine Angst vor dem Licht. Nur davor, Licht zu machen. Weil Mama Anna es ihm verboten hat. Er fürchtet sich nicht vor dem Licht. Er fürchtet sich vor Mama Anna.« Dr. Kundert spulte das Video zurück. Bis zur Stelle, wo Konrad Lang sich die Augen zuhielt und flehte: »Ich habe kein Licht gemacht, Mama Anna.«

»Mama Anna«, wiederholte Simone. »Haben Sie eine Ahnung, weshalb er sie Mama Anna und Mama Vira nennt?«

»Kindersprache«, vermutete Kundert.

»Oder vielleicht: Zwei gleichaltrige Kinder, und beide nennen ihre Mütter Mama. Das gibt doch ständig Verwechslungen. Deshalb Mama Anna und Mama Vira.«

Eine Woche später kam die Zusage der Ethik-Kommission für die Aufnahme des Patienten Konrad Lang, siebenundsechzig, in die Testanlage POM 55 für eine einmalige Anwendung. Dr. Kundert konnte es kaum erwarten, es Simone mitzuteilen.

Aber Simone hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Urs hatte darauf bestanden, Dr. Spörri zu rufen. Dieser war noch vor Öffnung seiner Praxis vorbeigekommen und hatte ihr Bettruhe verordnet. Sie war in der achtzehnten Woche, und die Übelkeit am Morgen war schlimmer denn je. Es begann jetzt mitten in der Nacht, das Bett fing an, sich zu drehen. Manchmal mußte sie schon um drei Uhr aufstehen und sich übergeben.

»Da ist doch etwas nicht in Ordnung«, sagte Urs immer wieder. Er war es gewohnt, daß man seine Einwände ernst nahm.

Dr. Spörri beruhigte ihn: »Erbrechen und Schwindel gehören zu einer gesunden Schwangerschaft. Aus Studien wissen wir, daß die Babys von Frauen, die darunter gelitten haben, in der Regel mehr wiegen und pünktlicher zur Welt kommen.«

Trotzdem verordnete er Simone Bettruhe. Mehr zur Beruhigung des Ehemannes als aus medizinischer Notwendigkeit.

Candelaria, die Haushälterin, hatte strikte Anweisung, Telefongespräche und Besucher von seiner Frau fernzuhalten.

»Aber es ist sehr wichtig«, insistierte Dr. Kundert.

»Wenn Doktor sagt nein, ist nein«, antwortete Candelaria. »Sie sind doch auch Doktor.«

So mußte er sich bis zum Nachmittag gedulden, als Simone sich besser fühlte und trotz des Protestes von Candelaria ins Gästehaus hinüberging.

»Es kann losgehen«, bemerkte Kundert beiläufig, als sie das Stationszimmer betrat, das mehr und mehr zu einem Überwachungsraum umfunktioniert worden war.

Simone dachte zuerst, er beziehe sich auf den Bildschirm, auf dem zu sehen war, wie sich der Physiotherapeut mit dem apathischen Konrad im Bett abmühte. Erst als sie bemerkte, wie er schmunzelnd auf ihre Reaktion wartete, begriff sie.

»Sie haben grünes Licht gegeben?«

»Morgen kommt O’Neill mit dem POM 55. Übermorgen kann es losgehen.«

»So rasch geht das?«

»Mit jedem Tag, den wir warten, gehen mehr Zellen verloren.«

Simone setzte sich an den Tisch, auf dem Kaffeetassen und ein Thermoskrug standen. Sie hatte sich verändert in den letzten Monaten. Sie benützte weniger Schminke und kleidete sich nicht mehr so adrett. Ihr Stil war etwas praktischer, ihre Mode etwas klassischer geworden. Ihre Züge hatten an Fraulichkeit gewonnen. Die Schwangerschaft sah man ihrer Figur noch kaum an. Aber sie war etwas bleich, und das Make-up hatte die Schatten unter den Augen nicht ganz zum Verschwinden gebracht.

»Geht es Ihnen besser?« fragte Dr. Kundert.

Simone nickte.

»Können wir mit Ihnen rechnen?«

Für den Fall, daß sie die Bewilligung erhielten, waren eine ganze Reihe von Tests vorgesehen, mit denen sie die Wirkung der Behandlung messen wollten. Neben den apparativen, labordiagnostischen und psychologischen Untersuchungen wollten sie auch Konrads Erinnerungsvermögen anhand der Fotos aus seiner Vergangenheit kontrollieren. Simone hatte sich damit einverstanden erklärt, bei diesem Teil des Programms mitzuarbeiten. Sie sollte weiterhin mit ihm die Fotos anschauen und sich dabei an ein bestimmtes Fragemuster halten, in der Hoffnung, daß man aufgrund seiner Antworten feststellen konnte, ob sich sein Erinnerungsvermögen weiter verschlechtert hatte oder gleich geblieben war.

»Natürlich können Sie mit mir rechnen. Aber vielleicht planen Sie mich doch besser für die Nachmittage ein.«

Konrads Lieblingsfoto zeigte ein Mercedes Kabriolett auf einer Wiese an einem Waldrand. An der verchromten Verschalung des Reserverades, die sich an den elegant geschweiften vorderen Kotflügel schmiegte, lehnte Elvira, ganz in Weiß: enger, wadenlanger Rock; kurzes, zweireihiges Jackett mit ausladendem Revers; Handschuhe; Baskenmütze vom linken Scheitel über das rechte Ohr. Nur Schuhe und Strümpfe waren schwarz.

Unter dem linken Arm hatte sie eine henkellose Krokotasche geklemmt, der rechte Ellbogen war nonchalant ins offene Fenster gestützt. Auf den ersten Blick sah es aus, als ob sie allein sei auf dem Bild. Aber schon als Konrad das Foto zum ersten Mal sah, hatte er Simone auf ein Haarbüschel hinter dem hinteren linken Kotflügel aufmerksam gemacht: »Koni.« Bei näherer Betrachtung konnte man eine halbverdeckte Stirn erkennen und ein Auge, das hervorspähte.

Dann zeigte Konrad auf den vorderen linken Kotflügel: »Tomi.« Auch dort konnte man in der Lücke zwischen Scheinwerfer und Kühler einen versteckten Buben hervorlinsen sehen. »Der Mercedes macht hundertzehn.«

Von da an wartete er jedesmal, wenn das Foto an die Reihe kam, amüsiert ab, ob ihr etwas daran auffiel. Wenn sie ihm dann den Gefallen tat, nichts Besonderes an dem Bild zu finden, zeigte er ihr mit kindlicher Freude die beiden versteckten Buben. »Koni. – Tomi.« Und fügte geschäftsmäßig hinzu: »Der Mercedes macht hundertzehn.«

Wenn er apathisch und deprimiert war und die Fotos wegschob, konnte sie ihn jedesmal mit diesem Vexierbild aus seiner Stimmung herausholen. Wenn nötig, auch mehrmals kurz hintereinander.

Dieses Spielchen spielte Simone mit Konrad, als Schwester Irma hereinkam und ausrichtete, Dr. O’Neill sei nebenan und möchte sie kurz sprechen.

Im Wohnzimmer standen O’Neill und Kundert am Tisch um einen kleinen eckigen Apparat mit einem Aufsatz, an dem eine Maske steckte. Sie sah aus wie die Sauerstoffmaske, deren Anwendung das Kabinenpersonal den Passagieren vor jedem Flug demonstriert.

O’Neill hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf. »Wir sollten ausprobieren, wie er darauf reagiert.«

»Was ist das?«

»Ein Aerosolapparat. Damit werden wir POM 55 verabreichen. Es wird inhaliert.«

»Inhaliert? Ich hatte gedacht, gespritzt oder geschluckt.«

»Das wäre besser. Aber so weit sind wir noch nicht. Er muß es inhalieren. Der beste Weg, um die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden.«

Simone nickte. »Was soll ich tun?«

Dr. Kundert schaltete sich ein. »Der Zerstäuber ist jetzt mit Wasser und ein paar Tropfen ätherischem Öl gefüllt. Ich möchte nur, daß Sie jetzt wieder zurückgehen und weiter mit ihm Bilder anschauen. Dann kommen wir, und Sie bitten ihn, kurz zu inhalieren, und wir schauen, ob es Probleme gibt und ob die Maske paßt und so weiter. Er sollte möglichst entspannt sein.«

Als Simone in Konrads Zimmer zurückkam, döste er vor sich hin. Sie hatte einige Mühe, seine Konzentration auf die Fotos zu lenken. Erst als der Mercedes kam, erwachte sein Interesse.

»Ach, und hier, das ist Elvira vor einem Auto?«

Er schmunzelte einen Moment und sagte nichts. Dann zeigte er auf den hinteren Kotflügel. »Koni.« Und dann auf den vorderen. »Tomi.«

Dann lachte er und fügte hinzu. »Der Mercedes macht hundertzehn.«

Er beachtete Dr. Kundert und Schwester Irma kaum, als sie mit dem Apparat ins Zimmer kamen und diesen auf der schwenk- und fahrbaren Tischplatte aufbauten, auf der jetzt Konrads Mahlzeiten serviert wurden.

Erst als sie sie über sein Bett manövrierten und Simone die Fotokopien von seiner Bettdecke nahm und sagte: »Ach ja, machen wir das schnell zwischendurch«, wurde er auf den Apparat aufmerksam. »Was ist das?« fragte er Schwester Irma.

»Ein Inhalationsapparat. Zum Inhalieren.«

»Ach so«, nickte er. Aber man sah ihm an, daß er nicht wußte, was er damit anfangen sollte.

»Wir ziehen Ihnen die Maske an, und dann atmen Sie ein paarmal tief ein. Das ist alles.«

»Ach so«, nickte er. Dann schaute er Simone an, grinste und zuckte die Schultern.

»Das wird dir guttun«, sagte sie. Konrad ließ sich widerstandslos die Maske umschnallen.

Dr. Kundert befahl: »Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen.« Konrad Lang gehorchte. Beim fünften Einatmen drückte Kundert den Ventilknopf am Vernebler und ließ ihn beim Ausatmen wieder los. Konrad atmete ruhig weiter.

Nach sieben Inhalationen drückte Kundert nicht mehr auf den Knopf, ließ Konrad noch ein paarmal durchatmen und schnallte ihm dann die Maske ab.

»Schon passiert«, lächelte er. »Wie fühlen Sie sich?«

Wieder schmunzelte Konrad Simone an und zuckte die Schultern.

Die Schwester fuhr die Tischplatte weg, Simone legte die Fotos wieder auf die Bettdecke. Als Kundert und die Schwester das Zimmer verließen, hörten sie Konrad Lang sagen: »Der Mercedes macht hundertzehn.«

Langsam glitt das Boot den Fluß hinunter. An beiden Ufern wuchs der Dschungel ins Wasser. Koni tauchte das Paddel ein, schlug, nahm es hoch, brachte es nach vorn, tauchte es ein, schlug, nahm es hoch, brachte es nach vorn, tauchte es ein. Immer schneller glitt das Boot, floß der Fluß, glitt das Boot, floß der Fluß.

Jetzt hörte Koni eine Stimme. Sie sagte: »Rudern, rudern.«

Koni tauchte das Paddel ein, schlug, nahm es hoch, brachte es nach vorn, tauchte es ein, schlug.

»Rudern, rudern«, sagte die Stimme.

Ich rudere ja, dachte Koni.

»Atmen, atmen«, sagte die Stimme.

Koni schlug die Augen auf. Ein Gesicht schaute auf ihn herab. Mund, Nase und Haare waren mit einem weißen Tuch bedeckt. Er sah nur die Augen.

»Atmen, atmen«, sagte das Gesicht.

Koni atmete. Plötzlich durchzuckte ihn ein entsetzlicher Schmerz. Er wollte sich an den Bauch fassen, aber er konnte nicht. Seine Hände waren angebunden.

Er schrie. Jemand drückte ihm eine Maske vor Mund und Nase.

Koni versuchte den Kopf wegzudrehen.

Jemand hielt seinen Kopf fest. Sein Bauch tat weh.

»Atmen, atmen«, sagte die Stimme.

Koni hielt den Atem an.

»Atmen, atmen.«

Koni atmete.

Der Schmerz ging weg.

»Rudern, rudern«, sagte die Stimme.

Koni tauchte das Paddel ein, schlug, nahm es hoch, brachte es nach vorn, tauchte es ein, schlug. Immer schneller glitt das Boot, floß der Fluß, glitt das Boot.

»Rudern, rudern.«

»Atmen, atmen.«

»Atmen.«

»Atmen!«

Koni schlug die Augen auf. Es war dunkel. Er schrie. Und schrie. Und schrie.

Die Tür flog auf, und das Licht ging an. Schwester Ranjah rannte zu Konis Bett.

Er hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und hielt sich den Bauch, den er freigelegt hatte.

»Now then, now then«, sagte Schwester Ranjah und streichelte sein Gesicht.

»It hurts«, wimmerte Koni.

»Let’s see.« Ranjah zog sanft seine Hand weg. Darunter kam Konrads alte Blinddarmnarbe zum Vorschein.

Simone hatte eine schlechte Nacht. Sie schlief unruhig und erwachte kurz nach zwei. Lange versuchte sie, gleichmäßig weiterzuatmen, damit Urs, der einen leichten Schlaf hatte, nicht merkte, daß sie wach lag, und wieder anfing, sie zu bedrängen. »Was ist? Ist dir nicht gut? Soll ich dir etwas bringen? Soll ich den Arzt rufen? Da stimmt doch etwas nicht. Das ist doch nicht normal. Vielleicht sollten wir den Arzt wechseln. Du schonst dich zuwenig. Das ist dieser Unfug mit Koni. Du hast gesagt, das werde besser mit dem neuen Arzt. Du trägst jetzt Verantwortung für zwei. Das ist nicht nur dein Kind, es ist auch meins. Soll ich dir etwas bringen? Mußt du ins Bad, Schatz?«

Erst als sie den Lichtstreifen unter der Tür sah, die zum »Boudoir« führte, merkte sie, daß sie allein im Bett lag. Sie machte Licht.

Langsam begann sich das Zimmer zu drehen, und der Speichel lief ihr im Mund zusammen. Sie setzte sich auf den Bettrand und versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Plötzlich schien ihr, als hörte sie Urs’ Stimme im Boudoir. Sie stand langsam auf, ging zur Tür und öffnete sie.

Urs saß halb auf dem kleinen Schreibtisch, lächelte und hatte den Telefonhörer ganz eng an sein Gesicht gepreßt. Er reagierte so ertappt auf Simones Eintreten, daß es sinnlos war, ihr etwas vorzumachen. Er blieb einfach sitzen, ließ den Hörer sinken und schaute zu, wie sie angewidert die Tür hinter sich schloß.

Simone schaffte es gerade noch bis zur Toilette. Dann übergab sie sich wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Sie wußte nicht, wie lange sie vor der Kloschüssel gekniet hatte. Aber als sie bleich und erschöpft aus der Toilette kam, wurde sie von Dr. Spörri erwartet. Sie führte ihn in ihr Laura-Ashley-Zimmer und würdigte Urs, der neben ihm stand, keines Blickes. Sie schloß die Tür und legte sich auf die Recamière. Der Arzt maß ihren Puls und Blutdruck.

»Sie müssen ins Spital, bis es besser wird.«

»Das wird nicht besser im Spital.«

»Aber dort können wir Sie künstlich ernähren. Sie nehmen nicht zu, Sie dehydrieren. Das ist sehr schlecht für Ihr Baby.«

»Künstlich ernährt werden kann ich auch hier.«

»Sie brauchen Pflege und Kontrolle, das geht nur im Spital.«

»Ein Spital habe ich auch hier.«

Kurz nach Sonnenaufgang hing Simone bereits an der Infusionsflasche in einem der beiden Personalschlafzimmer im ersten Stock des Gästehauses. Urs hatte einen schwachen, vergeblichen Versuch gemacht zu protestieren.

»Sei du ruhig«, sagte sie nur, und er kuschte sofort.

Dr. Spörri zeigte sich nach anfänglicher Skepsis beeindruckt vom Standard des Gästehauses, von dessen Belegschaft und Ausrüstung.

Schwester Ranjah bereitete routiniert die Infusion vor, und als Dr. Spörri sie angelegt hatte, fixierte sie mit leichter Hand die Kanüle und den Infusionsschlauch.

Kurz darauf schlief Simone ein.

Simone erwachte durch ein etwas gekünsteltes Hüsteln. Sie öffnete die Augen und sah Schwester Irma neben ihrem Bett stehen. Sie war dabei, die Infusionsflasche auszuwechseln.

»Ihr Mann war hier«, lächelte sie. »Ich habe gesagt, Sie dürften nicht gestört werden.«

»Gut. Sagen Sie ihm das auch in Zukunft. Wie spät ist es?«

»Kurz nach zwei.«

Simone erschrak. Acht Stunden hatte sie geschlafen. »Und Herr Lang?«

»Alles startbereit.«

»Warum hat man mich nicht geweckt?« Simone schlug die Decke zurück und wollte aufstehen. Schwester Irma legte ihr die Hand auf die Schulter. »Dr. Kundert hat gesagt, ich darf Sie nicht wecken. Aber wenn Sie wach seien, solle ich ihn rufen. Das tue ich jetzt. Und Sie warten.«

Kurz darauf kam Kundert herein.

»Ich dachte, ich werde dabei gebraucht?« fragte Simone.

»Wir wollten abwarten, ob Sie beim Auswechseln der Infusion aufwachen.«

»Und wenn ich nicht aufgewacht wäre, hätten Sie ohne mich angefangen?«

Kundert schmunzelte. »Sie sind ja aufgewacht.«

»Also, nehmen Sie mir das ab.« Sie hielt ihm den Arm hin.

»Fühlen Sie sich wirklich dazu in der Lage? Ich glaube nicht, daß es Probleme geben wird. Schwester Ranjah ist auch da. Sie wirkt beruhigend auf den Patienten.«

»Ist er denn unruhig?«

»Er hatte eine unruhige Nacht. Deswegen ist Schwester Ranjah gekommen. Für alle Fälle, sagt sie.«

»Nehmen Sie mir das bitte ab.«

Kundert stand auf, holte Desinfektionsmittel und ein Pflaster, klemmte das Infusionsbesteck ab, entfernte die Kanüle, desinfizierte und verband die Punktionsstelle. Dann ging er hinaus. »Wir erwarten Sie unten.«

In Konrads Schlafzimmer war der Aerosolapparat auf der fahrbaren Tischplatte aufgebaut, die außerhalb seines Gesichtsfeldes schräg hinter dem Bett stand. Kundert, O’Neill und Schwester Irma standen daneben und nickten Simone zu, als sie ins Zimmer trat.

O’Neills Frisur ließ auf eine unruhige Nacht schließen.

An Konrads Bett saß Schwester Ranjah und schaute mit ihm Fotos an. Als Simone herantrat, blickte er kurz auf und begrüßte sie mit einem verwunderten Lächeln, das hieß: Wer bist du, schöne Fremde?

»Laßt euch nicht stören, ich wollte nur ein wenig mitschauen.«

Konrad war erfreut über soviel Publikum. Er fuhr fort, die Bilder zu erklären. Er war präsenter als am Vortag und hielt sich auch mit Bildern auf, die ihn sonst nicht sonderlich interessierten: Venedig, Sandstrand, Mailänder Dom.

Im Hintergrund öffnete Dr. O’Neill einen Kühlbehälter und entnahm ihm eine kleine Ampulle, desinfizierte ihren Gummipfropfen, stach eine Aufziehkanüle hinein und zog ihren Inhalt auf. Er injizierte ihn in den Vernebler des Aerosolapparates und nickte Simone zu.

Schwester Ranjah blätterte zu Konrads Lieblingsfoto. »Das hier würde uns noch interessieren. Kannst du uns dazu etwas erzählen?« bat Simone. Sie nickte O’Neill zu.

Der Kompressor des Aerosolapparates begann zu summen. Schwester Irma schob die fahrbare Tischplatte zum Bett.

Konrad Lang freute sich auf das Spiel. Gerade als er damit beginnen wollte, sagte Simone: »Ach, machen wir doch vorher noch schnell die Inhalation.«

Sie nahm die Fotos von der Bettdecke, und Schwester Irma schob Konrad den Apparat unter die Nase.

»Was ist das?«

»Es ist wieder Zeit zum Inhalieren.«

Konrad gab sich keine Blöße. »Natürlich«, nickte er und ließ sich widerstandslos die Maske umschnallen. Simone und Schwester Ranjah lächelten ihm zu. Dann machten sie Platz für Dr. Kundert.

»Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen«, befahl er. Konrad gehorchte. Kundert stellte sich auf seinen Rhythmus ein. Dann drückte er den Ventilknopf, ließ ihn los, drückte ihn, ließ ihn los. Bei jedem Einatmen inhalierte Konrad jetzt fein zerstäubte Tröpfchen POM 55.

»Einatmen – ausatmen – einatmen.«

»Atmen, atmen.«

Konrad Lang schloß die Augen.

»Atmen, atmen.«

Der Pegel im Vernebler sank.

»Atmen, atmen.«

»Rudern, rudern.«

Konrad riß die Augen auf, griff nach der Inhalationsmaske und zerrte sie sich vom Gesicht.

Niemand war darauf gefaßt gewesen, niemand hatte die Geistesgegenwart besessen, ihn daran zu hindern. Kundert gelang es gerade noch, den Apparat vor dem wild um sich schlagenden Konrad Lang in Sicherheit zu bringen.

Konrad Lang war nicht dazu zu bewegen, die Maske noch einmal anzuziehen. So beschlossen denn O’Neill und Kundert widerstrebend, es dabei bewenden zu lassen. O’Neills Messung des Restes POM 55 hatte ergeben, daß sie bis zum Zwischenfall etwa achtzig Prozent der Dosis verabreicht hatten.

»Das sollte genügen«, sagte er. Es klang nicht sehr überzeugt.

Konrad hatte eine Weile gebraucht, bis er sich beruhigt hatte. Simone versuchte vergeblich, ihn mit den Fotos abzulenken. Erst als alle den Raum verlassen hatten und Schwester Ranjah mit ihren Honigmandeln kam und in ihrem zärtlichen Kauderwelsch auf ihn einplapperte, entspannte er sich allmählich.

Nun saßen Kundert, O’Neill und Simone im Stationszimmer.

»Wenn es nicht funktioniert, werden wir nie wissen, ob nicht einfach die Dosis zu klein war«, ärgerte sich Kundert.

»Die Dosierung von experimentellen Medikamenten ist sowieso Glückssache«, beruhigte ihn O’Neill.

»Was geschieht jetzt?« erkundigte sich Simone.

»Jetzt warten wir ab«, antwortete Kundert.

»Wie lange?«

»Bis sich etwas tut.«