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«Wenn jemand ins Gefängnis geht, wird seine gesamte Familie verhaftet», sagt die texanische Unternehmerin Karen Lucchesi Lewis, die wegen des – in ihrem Fall zweifelhaften – Vorwurfs money laundering fünf Jahre in Haft gesessen hat: «Niemand kann sich in dieser Zeit noch frei bewegen.» Heute würde ich ergänzen: Vieles von dem, was einem Menschen und seinen Angehörigen durch eine Inhaftierung widerfährt, versteht man erst nach und nach, wenn man wieder in Freiheit ist.

Meine größte Sorge galt während meiner gesamten Haftzeit meinen Kindern. Würden sie es schaffen, ihren eigenen Weg weiterzugehen? Sie waren in einer sensiblen Lebensphase, in der sich junge Menschen vor allem um ihre eigene Zukunft und nicht um ihre Eltern kümmern sollten. Zwei Jahre lang mussten sie gleichsam die Luft anhalten, waren sie in ihren Gedanken, Gefühlen und Plänen ständig mit meiner Situation verbunden. Niemals kehrte während dieser Zeitspanne wirklich Ruhe ein, nie war klar und absehbar, wie lange ich mich wo aufhalten würde und wann die nächste Verlegung wieder alles durcheinanderbringen würde.

In meinem Fall fiel vor allem meinen Töchtern, Jan Jütting und den Mitarbeitern meiner Kanzlei auch noch die Aufgabe zu, unser aller Existenzgrundlage vor der Vernichtung zu bewahren. Die finanziellen Mittel, aber auch Daten, Fakten und Stellungnahmen zu meiner Verteidigung mussten aufgetrieben werden. Das alles ist ihnen in einem gewaltigen Kraftakt gelungen. Und so hatte ich ein Glück, das nicht vielen entlassenen Strafgefangenen zuteilwird: Auf mich wartete eine berufliche und private Existenz, in die ich zurückkehren konnte und auch zurückgekehrt bin. Am Montag nach meiner Entlassung saß ich wieder an meinem vertrauten Arbeitsplatz in meiner Kanzlei. Am 1. Januar 2009 wurde aus dem Rechtsanwaltsbüro Berkau die Anwaltssozietät Berkau – Jütting, zu der außer mir Jan H. Jütting und meine Tochter Lisa Lou Berkau als Anwälte gehören.


Für mich hat sich viel verändert. Das Allerwichtigste ist eine tiefe Wertschätzung für die Erfüllung ganz alltäglicher Bedürfnisse: für die Nähe der Menschen, die ich liebe und als Freunde schätze, für ein gutes Essen, für die Freiheit, an dem Ort zu sein, an dem ich sein möchte. Viel zu viel hatte ich vorher als selbstverständlich hingenommen oder betrachtet.

Dennoch konnte ich nicht alles, was ich mir im Gefängnis vorgenommen hatte, ohne weiteres umsetzen. Der Alltag war schnell wieder da und stellte seine eigenen Forderungen. Vor allem aber hatte ich alle Hände voll damit zu tun, die finanziellen Folgen meiner Haftzeit zu bewältigen, die Folgen von zwei Jahren Verdienstausfall, von immensen Anwalts- und Verfahrenskosten. Um vieles hatten sich meine Töchter und Jan Jütting bereits gekümmert, während ich noch in Haft saß. Ich war froh darüber, dass ich die Dinge wieder selbst in die Hand nehmen konnte.


Es gibt vermutlich nur wenige Phasen im Leben, in denen man mit einer solchen Klarheit feststellen kann, wer ein wirklicher Freund oder ein verlässlicher (Geschäfts-)Partner ist – und wen man nicht dazu zählen kann. Ich habe eine überwältigende Unterstützung durch meine Familie, meine Freunde, Berufskollegen und Geschäftspartner erfahren, aber auch in einigen wenigen Fällen das Gegenteil – sei es die Kündigung der Kreditlinien durch die Hamburger Sparkasse, sei es die Häme von Schmierenjournalisten oder Anwaltskollegen, die es sich nicht versagen konnten, in laufenden Rechtsstreitigkeiten oder im Internet auf meinen Gefängnisaufenthalt in den USA hinzuweisen.

Meine Freunde wussten alle, was geschehen war, und freuten sich einfach, dass ich wieder da war. In meinem weiteren sozialen Umfeld hingegen habe ich die unterschiedlichsten Reaktionen erlebt. Manche Leute haben überhaupt nicht gemerkt, dass ich über zwei Jahre lang weg war. Einige haben angerufen und mich gefragt, was mit mir passiert ist. Andere Bekannte und Berufskollegen haben das bis heute nicht getan. Manche denken vielleicht: «Es wird schon irgendwas dran gewesen sein.» Möglicherweise löst auch die Mitteilung, dass man inhaftiert war, eine ähnliche Scheu und Hilflosigkeit aus wie die Nachricht von einer schweren Krankheit. Ich habe schnell gelernt, dass die Mitteilung «Ich war im Gefängnis» schlimm genug ist. Noch schlimmer ist nur, wenn man erklärt: «Ich war unschuldig im Gefängnis.» Denn dann gilt man auch noch als uneinsichtig.

Dafür sind einige der Menschen, die ich in amerikanischen Gefängnissen kennengelernt habe, zu Freunden geworden und Freunde geblieben: zum Beispiel Harry de Loos, der erst sechs Wochen nach mir aus den USA in die Niederlande überstellt wurde. Er war trotzdem schneller wieder in Freiheit als ich. Am 21. Februar 2008 konnte er direkt vom Flughafen nach Hause fahren. Seither haben wir uns viele Male wiedergesehen.

Manchmal werde ich gefragt, wie ich diese Zeit selbst verarbeitet habe. Aus heutiger Sicht sage ich: Ich habe diese unglaubliche Reise gut überstanden. Gemessen an dem, was ich in den Gefängnissen der USA gesehen und erlebt habe, ist mir eigentlich gar nichts passiert. Man erleidet kein Trauma, weil das Essen schlecht, die Räume dreckig, die Betten unbequem und die Nächte laut sind. Solche Verhältnisse sind einfach nur unangenehm und zermürbend, und man vergisst sie am besten so schnell wie möglich. Viel schlimmer ist es zu erleben, dass alle Werte und Normen, an denen man sich ein Leben lang orientiert hat, plötzlich nicht mehr gelten und wegzubrechen drohen. Viel schwerer ist es zu ertragen, wenn die Konsequenzen des eigenen Verhaltens nicht mehr absehbar sind.

Ich war in einem System (buchstäblich) gefangen, dessen Gesetze ich weder kannte noch richtig verstand. Warum gibt es in den USA den Satz «Im Zweifel für den Angeklagten (in dubio pro reo)» nicht, der bei uns Verfassungsrang genießt? Warum wird im Revisionsverfahren (appeal) nach dem Grundsatz «Im Zweifel gegen den Angeklagten» (in the most favorable light for the government oder in dubio contra reum) verfahren? Warum wird ein Festgenommener in Handschellen und Ketten gelegt, ganz gleich, ob es sich um einen Rotlichtsünder oder einen auf frischer Tat ertappten Schwerverbrecher handelt? Warum halten Regierung und weite Teile der Justiz – entgegen verbalen Beteuerungen – es für legitim, Menschen zu foltern? Weil es unter bestimmten Voraussetzungen auch als legitim gilt, Menschen mit der Todesspritze umzubringen?

Für meine Selbstwahrnehmung und Selbstachtung, für die Unterscheidung von richtig und falsch, war es in dieser Lage am allerwichtigsten, im ständigen Kontakt und Austausch mit den Menschen zu bleiben, mit denen ich bis dahin meine Lebenswelt und Weltanschauung geteilt hatte. Dass es diese Welt da draußen noch gab, in der andere, rechtsstaatliche und die Würde des Menschen achtende Regeln gelten, machte mir Hoffnung, irgendwann dorthin zurückkehren zu können. Und es gab mir die Kraft, in meiner eigenen Haltung zu dem, was mit mir passierte, klar zu bleiben. Wo eine solche Klarheit und dieser Kontakt verlorengehen, drohen Selbstverlust und der Absturz in die Depression. Manche nehmen sich in der Haft das Leben, andere tun es nur deshalb nicht, weil man sie gewaltsam daran hindert.

Und so begann ich allmählich auch die Logik zu verstehen, die hinter dem US-amerikanischen Strafvollzugssystem steht. Ich war einer von mehr als zwei Millionen Gefangenen, an denen viele verschiedene Unternehmen jeden Tag verdienen: als Objekt, das bewacht werden muss, als Empfänger von Dienstleistungen, als Nutzer überteuerter Telefontarife, als Passagier von Con Air, als Patient auf der infirmary, als Kunde in der commissary und als potenzielle billige Arbeitskraft für die Rüstungsindustrie. Der gefängnisindustrielle Komplex konnte kein Interesse daran haben, uns in die Freiheit zu entlassen, denn Gefangene sind der einzige Rohstoff, mit dem er seinen Profit steigern kann.

Dies alles, jedenfalls in groben Umrissen, zu begreifen war wichtig, um zu verstehen und zu verarbeiten, was mir persönlich passiert ist. Ein Jahr nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis habe ich mit der Arbeit an diesem Buch begonnen.

Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz
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