29

Ich verbrachte insgesamt acht Monate in der Correctional Institution Reeves, und wahrscheinlich war es gut, dass ich nicht von vornherein wusste, wie lange ich hier noch warten musste. Denn das war es, was ich in dieser Zeit vor allem tat: warten. Ich wartete auf meine Überstellung nach Deutschland, das heißt auf die Erledigung vieler verschiedener bürokratischer Schritte und Entscheidungen, die das Treatytransfer-Verfahren verlangt. Ich wartete auf die Zustimmung der deutschen Regierung, ich wartete auf die Stellungnahme des Anklägers Christopher Clark, ich wartete auf das Votum der amerikanischen Justizbehörden – und am Ende musste ich noch darauf warten, dass ich selbst vor einem amerikanischen Richter meiner Rückkehr nach Deutschland zustimmen durfte.

Mir war klar, dass jeder einzelne dieser Schritte Wochen in Anspruch nehmen würde, und so rechnete ich damit, nicht vor August nach Hamburg zu kommen. Dann aber würde ich achtzehneinhalb Monate, die Hälfte der im sentencing festgelegten Strafe, abgesessen haben. Nach deutschem Recht könnte ich zum Zeitpunkt der «Halbstrafe» sofort auf Bewährung freigelassen werden.

Ich beschäftigte mich damit, vorsichtig Bilanz zu ziehen, was in anderthalb Jahren im Gefängnis mit mir passiert war, ich freute mich unbändig auf zu Hause und war voller Pläne. Aber noch vertraute ich nicht darauf, dass mein treaty transfer bewilligt und zügig abgewickelt würde. Ich hatte inzwischen von Ausländern gehört, die über Jahre in amerikanischen Abschiebeknästen einfach «vergessen» wurden. Ich musste noch immer kämpfen und mit allem rechnen.

Der körperliche Zusammenbruch, den ich kurz nach meiner Verurteilung Ende April 2006 im FDC Miami erlebt hatte, lag nun gut ein Jahr zurück. Diesmal war es nicht mein Körper, sondern mein Geist, der mir signalisierte, dass ich die Anspannung nicht mehr unter Kontrolle hatte. Plötzlich beobachtete ich an mir selbst eine eigentümliche Zerstreutheit. Ich vergaß meine Lesebrille in der Zelle, wenn ich mit einem Buch nach draußen auf den Rec Yard ging. Ich verlor kurz nacheinander zwei Kugelschreiber. Ich ließ eine Rolle Klopapier auf der Toilette liegen. Mir entfiel der Termin für meinen Computerkurs. Ich versäumte es, eine Gitarre, die ich mir ausgeliehen hatte, abends rechtzeitig zurückzugeben. Kleine Nachlässigkeiten, denen man in einer anderen Art von Alltag vielleicht keine große Bedeutung beimessen würde. Doch hier, im Gefängnis, wo nichts wichtiger war, als die paar Dinge, die man besaß, im Griff zu behalten, waren solche Details existenziell. Jedes kleine Versäumnis konnte äußerst unangenehme Konsequenzen haben: Es dauerte bis zu zehn Tage, bis man aus der commissary neue Kugelschreiber bekam. Ein verschwitzter Kurstermin konnte den Rausschmiss aus der Fortbildung nach sich ziehen, eine zu spät zurückgegebene Gitarre eine Ausleihsperre für 14 Tage. Und wenn ich meine Brille in der Zelle liegenließ, konnte ich nicht mal eben zurücklaufen, um sie zu holen. Dass ich nicht mehr in der Lage war, solchen Problemen aus dem Weg zu gehen, beunruhigte mich.

Was ich dann aber wirklich schlimm fand: Ich vergaß sogar den Geburtstag meines Sohnes, obwohl ich genau an diesem Tag mit ihm telefonierte. Als er mich vorsichtig darauf ansprach, war ich schockiert und erleichtert zugleich. Denn plötzlich war mir klar: Irgendwas war nicht okay mit mir. Sofort nach dem Telefongespräch setzte ich mich hin und schrieb ihm einen Brief.

«Tja, Jonathan, so wirklich gut geht es mir gerade nicht», stellte ich darin fest. Zum ersten Mal seit fast anderthalb Jahren erlaubte ich mir selbst einen solchen Satz. Und fügte schnell hinzu: «Nun weiß ich aber, dass sich dieser Zustand ändern wird. Sollte die Überstellung abgelehnt werden, wäre das sehr ärgerlich, und ich werde mich damit auch ärgerlich fühlen. Aber meine Anspannung wird weg sein, und ich werde die Ärmel aufkrempeln. So müssen dann eben ohne Rücksicht auf Verluste alle Register sortiert werden, die evtl. noch gezogen werden können. Das wird einige Arbeit bedeuten – und letztlich nur eine geringe Aussicht auf Erfolg haben. Dennoch, ich werde nichts unversucht lassen!»


Es war eine eigentümliche Mischung von Wachsamkeit und Ruhe, die mir hier, in der Abgeschiedenheit der texanischen Wüste, abverlangt wurde. Zum Glück war ich nicht allein: Zu meinem engsten Weggefährten in dieser Warteschleife wurde Harry de Loos aus den Niederlanden, ein Autohändler, dem man noch übler mitgespielt hatte als mir. Auch ihn hatte ein Konflikt mit Geschäftspartnern im November 2005 in den Knast gebracht: Ein Kunde wollte von einem Kaufvertrag zurücktreten, obwohl die von ihm bestellten Autos schon in den USA angekommen waren. Und er wollte seine Anzahlung zurückhaben. Das lehnte Harry ab. Noch bevor die Auseinandersetzung abgeschlossen war, wurde er völlig überraschend verhaftet. Die Anklage: money laundering und fraud (Betrug). Es drohte eine Höchststrafe von 30 Jahren. Wenn er einen plea bargain und einer Strafe von 37 Monaten zustimme, so versprach ihm sein Richter, sei er «as prompt as possible» wieder zu Hause, in Holland. Sein Vermögen, zehn Autos und eine Wohnung im Wert von rund 720 000 US-Dollar wurden beschlagnahmt – aber nicht etwa, um den Kunden auszuzahlen. Es wanderte in die Bestände des amerikanischen Staates. Aber Harry kam nicht nach Hause. Er hatte eine ähnliche Odyssee hinter sich wie ich. Nur mit dem Unterschied, dass er bei jeder Verlegung dachte, nun könne seine Heimreise beginnen. Einen Antrag auf treaty transfer konnte er nämlich nur aus einer Strafvollstreckungsanstalt, einer correctional institution, heraus stellen. Doch seitdem er seinen plea bargain abgeschlossen hatte, hatte man ihn von einem holdover zum nächsten detention center herumgereicht, bis er endlich in der CI Reeves in Pecos ankam. Mit Harry drehte ich jeden Tag meine Runden um den recreation yard, oft erst gegen Abend, wenn die Temperaturen halbwegs erträglich wurden.

Alle Ansinnen von Freunden und Familienangehörigen, mich hier in Pecos zu besuchen, wehrte ich ab. Ich ging ja davon aus, dass ich bald in Hamburg zurück wäre. Die Mühen und Kosten einer Reise nach Texas schienen mir übertrieben. Außerdem war mir nie ganz wohl bei der Sache, wenn einer meiner Angehörigen in den USA unterwegs war. Ich wusste schließlich, was einem in diesem Land passieren konnte.


Mein Freund Harry, ein neu aufgelegtes Diätvorhaben, lange Briefe und Telefongespräche und viele Stunden, die ich jeden Tag mit einer Gitarre verbrachte – das war für ein paar Monate mein Leben in Pecos. Und seltsamerweise wurde mir bewusst, dass diese Zeit trotz allem ihre eigene Qualität hatte. Fast wütend wehrte ich die guten Wünsche von Freunden ab, ich möge die «Wartezeit» gut überstehen. Diese Zeit, so schrieb ich zurück, habe für mich ihren besonderen Wert: «Es ist eine Zeit, in der ich etwas anderes machen muss, als ich es bisher getan habe. Das wiederum eröffnet Chancen und Möglichkeiten, man muss sie allerdings auch nutzen.»

In einem anderen Brief beschrieb ich meine musikalischen Fortschritte: «Stell Dir vor, Du fährst mit Deinem Auto (Gitarre) auf einem System von Landstraßen und erkundest die Gegend mal hier und mal da. Das ist nett, es gibt einiges zu sehen und Du lernst auch neue Gegenden kennen … Jetzt stell Dir vor, Du verlässt das System der Landstraßen und fährst auf die Autobahn, die große Städte und Länder miteinander verbindet und die man – wie bei den Landstraßen auch – in viele verschiedene Richtungen befahren kann. Jetzt lernst Du viel mehr kennen, ja es gibt sogar Städte und Länder, von deren Existenz Du gar nichts gewusst hast!»

Hier gab es keine Band, in der ich mitspielen konnte. Mit der Musik, die ein paar Mexikaner von morgens bis abends auf Gitarren und Akkordeons schrammelten, wurde ich einfach nicht warm. Aber ich hatte jede Menge Musik im Kopf, und die begann ich jetzt auszufeilen und aufzuschreiben.

«Bei mir hat sich viel verändert, Dieter, und bei mir wird sich noch mehr verändern. Ich bin schon jetzt nicht mehr der, der ich vorher war», schrieb ich Ende Juni an einen Freund.

Orange Trees
Going up the highway with your
Brandnew firered sportscar out of bound
Do you see the meadows speeding
Do you see the trees and woods around?
The car ist going fast and faster
You hear Janis’ music in the air
Do you know where you are going
Do you know your destination fair?

CHORUS
Ah – Ah – Ah
Lets take a break
See these green orange trees
Taste the smell of their leaves
Basking away,
Zipping an ice-cold drink
Watching the honeybees.

Day by day the time goes by fast
You think you are sitting on a cloud.
Do you see the men walk by, and
Do you hear the people talking loud?
The rising sun ’cross the mountain
Shining her bright light on everyone.
Do you feel the sweet tenderness?
Did you do what still had to be done?
(Übersetzung im Anhang)

Am 20. Juli 2007 kam die erlösende Nachricht. Die US-Regierung hatte meiner Überstellung zugestimmt. Wenn jetzt alles zügig abgewickelt wurde, könnte ich Ende August in Hamburg sein. Ich rechnete vorsichtshalber mit September. «Ich bin natürlich sehr erleichtert, wie Du Dir gut vorstellen kannst! Im Prinzip habe ich seit Freitag meine Sachen gepackt. Ich werde in New York abgeholt werden, was bedeutet, dass ich wieder ca. 3 Wochen ‹unterwegs› sein werde – vermutlich geht es über Atlanta. Diese Zeit kenne ich nun schon – und Ihr auch! Ich werde vermutlich nicht schreiben können, mein property nicht haben, und wenn es schlimm kommt, werde ich nicht einmal telefonieren können», schrieb ich meinem Freund Uli. Und da war es auch wieder, dieses paradoxe mulmige Gefühl, das sich vor jeder Verlegung einstellte: «Wieder einmal mache ich die – sehr interessante! – Erfahrung, meine eigenen Irrationalitäten und Ängste beobachten zu können. Das mit der Veränderung hat es in sich. Selbst in der schlimmsten Situation richtet man sich nämlich ein und befürchtet dann, dass es noch schlimmer kommen könnte – auch wenn man weiß, dass das Gegenteil erwiesenermaßen richtig ist.»

Dennoch, ich war in Aufbruchstimmung. Ich ergriff die Gelegenheit, mich bei Uli Stellfeld dafür zu bedanken, dass er mich über ein Jahr lang in bis dahin 130 Briefen mit Tausenden von Druckseiten mit Nachrichten und Informationen aus Deutschland und der ganzen Welt versorgt hatte. Zeitungen und Zeitschriften hatte ich im Gefängnis nur unregelmäßig beziehen können, aber Ulis Nachrichten waren immer dabei gewesen, wenn ich irgendwo Post bekam.

Nobody knows you when you’re down and out – nein, dieser Satz habe für mich weiß Gott nie gegolten, schrieb ich Uli. «Weil sich so viele Menschen um mich gekümmert haben und auch noch kümmern, war ich nie down and out und bin es jetzt auch nicht. Vielleicht muss der alte Satz einfach mal umgeschrieben werden: When nobody knows you, you are down and out. Wie dem auch sei, Du hast einen maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, dass ich so gut klargekommen bin. Ich bin voller Energie, habe so viel vor und freue mich auf Euch alle!»

Für die Kartons, die ich in diesen Tagen vollpackte, gab es nur noch eine Adresse: Hamburg! Aber das war Ende Juli wirklich noch ein bisschen früh.


Es wurde Ende August, ohne dass irgendetwas passiert wäre. «Was mich an eventuellen Verzögerungen bis November wirklich ärgern würde, ist die Tatsache, dass sie komplett unnötig wären und nichts anderes als ein Ausdruck von ‹ist mir doch egal› bis Schikane. Dass diese Seite von interessierter Seite gefördert wird, ist völlig klar», schrieb ich.

Meine Verärgerung über die Zeit, die hier noch nutzlos verstrich, wechselte sich ab mit einer großen inneren Ruhe. Ich wusste: Im Prinzip hatte ich es überstanden. I’m so glad that I did stay strong, so lautete eine Zeile in meinem Song «Leaving Pecos», nicht dem letzten Stück, das ich in Texas komponierte, aber dem letzten, das sich mit dem Gefängnis befasste. «Auch wenn ich derzeit sehr dahinter her bin, die weiteren Schritte meiner Überstellung in die Wege zu bringen, verbringe ich die letzten Tage in Pecos in einer eigenartig entspannten Weise. So ganz richtig weiß ich das noch nicht richtig zu deuten, ganz ehrlich», schrieb ich meinem Freund Dieter. Da war es bereits Ende September.

Wenige Tage später passierte endlich etwas: Harry erfuhr, dass er auf der Transportliste stand. Mein Freund Harry, mit dem ich seit Monaten hier ausharrte. Bedeutete das vielleicht, dass ich auch …? Natürlich hoffte ich das. Und registrierte zugleich ein ganz anderes Gefühl: Bestürzung. «Was, jetzt schon? Wolltest du nicht noch schnell … Briefe beantworten, die letzten Musiktitel ins Reine schreiben (mein letzter – 14. Titel – heißt ‹Bye Bye USA›), den Wäschemann bezahlen, die Steuerunterlagen vernichten?» So schilderte ich diesen Moment in einem Brief an eine Freundin. Und räumte danach endgültig mit allem auf, was ich hier in der CI Reeves noch zu erledigen hatte.


Es war aber nur ein Fehlalarm gewesen, ein Gerücht, und auch Harry blieb mir erhalten. Ich konnte die Zahl der Musikstücke, die ich im Knast schrieb, noch mehr als verdoppeln. Am Ende waren es 29, genau so viele, wie der Blues-Musiker Robert Johnson in seinem kurzen Leben geschafft hatte.

Ende Oktober wurde es auch in Texas kalt. Ich konnte jetzt nicht mehr ab morgens um neun Uhr draußen sitzen, Gitarre spielen und Briefe schreiben, weil meine Finger dabei klamm wurden.

Am 9. November erlebte ich meinen zweiten Geburtstag in Haft. An diesem Tag wurde ich in das Criminal Justice Center in Pecos verlegt. Die Fahrt dorthin dauert nur zehn Minuten. Aber darauf kam es jetzt nicht an: Mein Weg back home hatte begonnen.

Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz
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