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Jan Jütting hatte bei mir Maß genommen und bei Syms in Fort Lauderdale, einem örtlichen Herrenbekleider, einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug für mich gekauft. Es sei nicht der erste feine Zwirn, der hier für einen Auftritt vor dem Strafgericht erworben würde, hatte ihm der Verkäufer, ein netter älterer Herr, verraten. Immerhin, das Jackett saß tadellos. Die Hose war mir viel zu weit. Aber das war ziemlich egal. Das sah die Jury sowieso nicht.

Für die zwölf Geschworenen durfte nicht erkennbar sein, ob der Angeklagte, der vor ihnen saß, aus dem Gefängnis kam oder ein freier Mann war. Um dies zu ermöglichen, folgte mein Transfer vom Knast ins Gericht jeden Tag einer komplizierten Dramaturgie: Im Broward County Jail – dorthin war ich kurz vor Prozessbeginn wieder verlegt worden – wurde ich von der infirmary geholt, gefesselt und in die holding cell gebracht, in der ich auf den Sammeltransport zu warten hatte. Dann ging es in dem inzwischen vertrauten Auto zum Gericht. Dort angekommen, wurde ich als Erstes wieder in eine Arrestzelle gesperrt, die Fußfesseln wurden mir abgenommen. Erst wenn die Tür hinter mir verschlossen war, steckte ich meine Hände durch die Gitter, sodass meine Bewacher auch diese Ketten lösen konnten.

Dann durfte ich meinen schicken Zweiteiler anziehen.

Nach dem Umkleiden wurde ich erneut gefesselt und in den Gerichtssaal geführt. Bevor die Jury in den Saal kam, nahm man mir nur die Handschellen ab. Da ich hinter einer hölzernen Balustrade saß, konnten die Jurymitglieder meine Füße nicht sehen – jedenfalls rein theoretisch. Am ersten Verhandlungstag wurde von unseren Anwälten längere Zeit darüber diskutiert, ob bei dem einen oder anderen von uns nicht doch eine Kette im sichtbaren Bereich aufgeblitzt war. Das Ganze war sowieso eine Farce. Die Anwesenheit mehrerer Bewacher machte klar, dass wir aus dem Gefängnis kamen.

Der Strafprozess begann mit der Auswahl der Jurymitglieder, und das war eine zeitraubende und mühsame Prozedur. Die Idee hinter der Jury-Gerichtsbarkeit ist eigentlich zutiefst demokratisch: Urteile in Strafverfahren und Zivilprozessen sollen im wahrsten Sinne des Wortes «im Namen des Volkes», nämlich durch das Volk selbst, gefunden werden. In der Realität aber führt das heute oft dazu, dass Angehörige eher bildungsferner Schichten über hochkomplexe juristische Tatbestände zu Gericht sitzen. Eine halbwegs repräsentative Auswahl von Menschen aus dem Volk kommt in einer zwölfköpfigen Jury in der Regel nicht zusammen. Zwar kann jeder wahlberechtigte Bürger der USA per Zufallsstichprobe als Laienrichter ins Gericht einbestellt werden. Der Mehrheit der Amerikaner und Amerikanerinnen passiert das auch irgendwann im Laufe ihres Lebens. Doch angesichts einer Ladung zum Gericht heißt es für die meisten: Rette sich, wer kann. Der Dienst an der Gerechtigkeit ist eine Bürgerpflicht, für die berufliche und finanzielle Nachteile in Kauf genommen werden müssen, und sie können beträchtlich sein. Arbeitgeber dürfen zwar niemandem kündigen, weil er wochenlang im Gericht festsitzt, aber sie sind nicht verpflichtet, den Lohn weiterzuzahlen. Die Aufwandsentschädigungen, die von den Gerichten gezahlt werden, sind dagegen bescheiden: Sie liegen, je nach Bundesstaat und Länge des Verfahrens, zwischen 15 und 30 Dollar pro Tag.

Jeder, der einen einigermaßen gut bezahlten Job oder sonst etwas Besseres zu tun hat, versucht also, dieser Verpflichtung zu entkommen. So sind unter den Geschworenen in der Regel wenig junge Menschen, wenig Akademiker oder erfolgreich Berufstätige, wenig Liberale, aber viele eingefleischte Patrioten.

Für unseren ersten Verhandlungstag hatte das Gericht 42 potenzielle Jurymitglieder vorgeladen. Richter William Dimitrouleas informierte sie zunächst über den Fall, über die Namen der Angeklagten und der Zeugen: Kannte jemand den Fall oder daran Beteiligte? Niemand hob die Hand. Mehr Wortmeldungen gab es, als andere Hinderungsgründe vorgebracht werden durften, am Prozess teilzunehmen: Eine Frau ließ über ihren Ehemann mitteilen, dass sie kaum Englisch verstand. Mehrere brachten anstehende Krankenbehandlungen vor, unter ihnen ein Mann, der 92 Jahre alt war. Einige sprachen von pflegebedürftigen Angehörigen, andere mussten ihre Kinder morgens zur Schule bringen und später wieder abholen. So mancher hatte wichtige berufliche Verpflichtungen, einer musste zur Schule gehen, ein anderer hatte einen Urlaub gebucht. In jedem einzelnen Fall entschied der Richter, ob dies ein triftiger Grund zur Befreiung von der Jury-Pflicht war. Am Ende dieser Runde war ein Drittel der Anwesenden entlassen.

Die Verbliebenen wurden nach ihren persönlichen Lebensumständen befragt: Waren sie berufstätig, verheiratet, hatten sie Kinder? Waren sie selbst schon einmal Angeklagte oder Opfer in einem Strafverfahren gewesen? Gab es in ihrem Freundeskreis Polizei- oder FBI-Beamte? Welche Hobbys hatten sie?

Dann wurde sie über die Grundzüge ihrer Aufgabe belehrt: Sie hatten von der Unschuld der Angeklagten auszugehen. Wenn sie mit einzelnen Gesetzen nicht einverstanden waren, die hier angewandt wurden, sei der Gerichtssaal nicht der richtige Ort, dagegen zu protestieren. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft sollten sie bitte nicht als Beweis einer Straftat verstehen. Und Zeugen waren zwar verpflichtet, die Wahrheit zu sagen; aber die Jurymitglieder sollten sich stets bewusst sein, dass sie auch lügen könnten – selbst wenn Polizeibeamte als Zeugen gehört würden.

Die Kandidaten sollten sich auch Gedanken darüber machen, ob sie eventuell befangen waren: Wer schon beim Umgang mit der Justiz irgendwie einen bitteren Nachgeschmack aus einem anderen Verfahren spürte, sollte sich melden. Wer glaubte, dass er gegen deutsche Angeklagte nicht objektiv urteilen könne, ebenso. Auch nach Vorbehalten gegen Banker und Investmentgeschäfte wurde gefragt: Hatte einer der Anwesenden auf dem Finanzmarkt schon einmal Geld verloren?

Ein Mann trug vor, dass er seiner Meinung nach eindeutig zu viele Tickets wegen Schnellfahrens von der Polizei kassiert hatte. Eine Frau fand, ihr Neffe sei mit 15 Jahren Haft für einen Autodiebstahl viel zu hart bestraft worden. Ein anderer Mann hatte mehrere Söhne, die im Knast saßen. Eine Frau las gerade ein Buch über den Holocaust und war sich nicht sicher, ob das ihre Gefühle gegenüber Deutschen beeinflusste. Ein Mann hatte aus religiösen Motiven grundsätzliche Bedenken, über andere zu urteilen. Zwei oder drei Kandidaten wollten nichts mit einem Fall zu tun haben, in dem Off-Shore-Banken eine Rolle spielten. Aber alle bemühten sich, beim Vorbringen dieser Bedenken bloß nicht den Eindruck zu erwecken, als wollten sie sich vor ihrem Einsatz als Geschworene drücken.

Dann zogen sich Richter, Staatsanwalt und Verteidiger zur Beratung zurück. Jeder der Beteiligten hatte das Recht, eine bestimmte Zahl von Kandidaten abzulehnen. Und so geschah etwas, was William Dimitrouleas in seinen acht Jahren als Strafrichter noch nie passiert war: Am Ende des Tages waren keine 12 Geschworenen übrig. Weitere 17 Kandidaten mussten für den nächsten Tag einbestellt werden, die ganze Prozedur wiederholte sich.

Erst am Nachmittag des zweiten Tages stand die Auswahl fest: Sechs Männer und sechs Frauen, unter ihnen Weiße, Schwarze und Latinos. Die meisten von ihnen waren jenseits der 50 und hatten bereits erwachsene Kinder. Einige waren Rentner, einige noch berufstätig: etwa als Buchhalter, als Auslieferungsfahrer und in anderen Jobs im Dienstleistungsbereich. Es gab auch eine Lehrerin, einen Flugbegleiter und einen Computerdesigner. Mindestens zwei Mitglieder der Jury sprachen, soweit ich das mitbekam, nur gebrochen Englisch.

Die Geschworenen wurden vereidigt und von Richter Dimitrouleas ausführlich über ihre Pflichten, den Fall und die Straftatbestände belehrt, die in der Anklageschrift standen. Diese zwölf Männer und Frauen, von denen einige wohl noch nie zuvor einen Gerichtssaal betreten hatten, würden am Ende einstimmig darüber entscheiden müssen, ob wir im Sinne der Anklage «schuldig» oder «nicht schuldig» waren. Sie wurden zwar nicht wie in John Grishams «Die Jury» für die Dauer des Prozesses in einem Hotel interniert, sondern durften abends nach Hause gehen. Aber jeden Tag wurden sie wieder und oft mehrmals ermahnt, mit niemandem über das, was sie im Gericht gesehen und gehört hatten, zu sprechen.

Und wenn Staatsanwalt und Verteidiger am Tisch des Richters die Köpfe zusammensteckten, um Verfahrensfragen zu diskutieren, würde man sie hinausschicken oder mit einer Art Klangteppich beschallen. So sollte gewährleistet werden, dass zwölf einfache Männer und Frauen aus dem Volk ganz objektiv darüber urteilen konnten, wer hier im Recht war.

Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz
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