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Am 9. November 2006 feierte ich zum ersten Mal meinen Geburtstag im Gefängnis. Ich bekam bergeweise Post, und meine Freunde hatten sich etwas besonders Nettes ausgedacht: Sie versammelten sich zu einer verabredeten Stunde in meinem Büro in Hamburg, sodass sie mir, als ich dort anrief, alle ganz kurz ihre persönlichen Glückwünsche zurufen konnten.

Mit Mitgliedern meiner beiden Bands stand ich inzwischen in ständigem Briefkontakt. Wir tauschten uns über einzelne Musikstücke aus, korrespondierten über die technischen Details von Gitarren und Verstärkern und über Konzerte, die gerade in Hamburg stattfanden. Es war mir wichtig, dass auch dieser Teil meines Lebens weiterging, und ich freute mich darauf, irgendwann wieder mit den Jungs zusammen zu spielen. Ich schickte erste Entwürfe für mein geplantes Gitarrenbuch nach Hause und bat darum, mir Literatur zuzuschicken, allerdings erst dann, wenn ich meinen endgültigen Bestimmungsort erreicht hätte. Im FDC Miami kam ich jetzt zum ersten Mal wieder an ein Instrument heran. Und ich fand einen Gleichgesinnten.

«José und ich haben die Unit-Gitarre jetzt bei uns so gut wie ständig auf der Zelle, nett! Es ist eine 30-Dollar-Nylonstring aus China, die bisher fest in Händen von zwei schwarzen inmates war, die damit ihre religiösen Versammlungen begleiten. Gestern komme ich in unsere Zelle, sitzt da José und spielt Gitarre. Seit gestern ist die Gitarre bei uns, wir werden uns mit den schwarzen buddies arrangieren. José muss mir erst einmal zeigen, wie das Stück ‹Light my Fire› (kennst Du von José Feliciano und von den Doors) auf einer Nylonstring mit den Fingern gespielt wird, und ich bin schon ziemlich gut dabei. Das nächste Stück (eine Liga höher!), das José mir zeigen muss, ist ‹Besame mucho›. Zwischendurch feile ich an meinem Blues in C herum, den ich in seiner Einfachheit immer noch mag und der ‹Back Home› heißen wird, sobald ich zurück bin. Dann werde ich auch an dem bereits im Broward County Jail (ohne Instrument!) begonnenen Stück ‹High Pressure› weitermachen», schrieb ich an meinen Freund Dieter Lux. So verging die Zeit, manchmal sogar erstaunlich schnell.


Und dann passierte es wieder von der einen auf die andere Minute: PACK OUT! Es war der Befehl, den ich herbeigesehnt hatte, den ich aber auch immer ein wenig fürchtete. Die Verlegung kam ohne Vorwarnung, man erfuhr erst im letzten Augenblick, wohin die Reise ging. Ich hatte kaum Zeit, zu packen und mich von den Männern zu verabschieden, mit denen ich monatelang zusammengelebt hatte. Die letzten Briefe, die mir im FDC Miami ausgehändigt wurden, durfte ich nicht einmal mehr richtig lesen. Ich musste sie nach einer flüchtigen Durchsicht vernichten, denn ich durfte selbstverständlich keinerlei persönliches Gepäck mitnehmen. Immerhin stand auf den beiden Kartons, in die ich am 13. November 2006 meine persönliche Habe packte, wohin diese geschickt werden würden: Oakdale, Louisiana.

Also doch ins Land des Blues, ins Mississippi-Delta, die einzige Gegend, die ich nach meinen zahlreichen USA-Reisen noch hatte sehen wollen. Ich hatte eigentlich woanders hingewollt und dies auch ins sentencing eingebracht. Ein Gefängnis im Norden Nordamerikas wäre für meine Angehörigen wesentlich besser erreichbar gewesen. Außerdem traute ich dem relativ liberalen Norden mehr Humanität zu als den reaktionären Südstaaten.

Aber ich hatte schon gewusst, dass auch die Federal Correctional Institution (FCI) Oakdale für mich in Frage kam, und das, was ich von Mitgefangenen darüber hörte, klang nicht schlecht. Vor allem würde ich dort meinen endgültigen Bestimmungsort erreichen – dachte ich jedenfalls. Erst wenn ich in der Anstalt angekommen war, in der meine Strafe vollstreckt wurde, konnte ich von dort aus meine Überstellung nach Deutschland beantragen.

Zunächst aber sollte es in die nächste Zwischenstation gehen: ein Holdover-Gefängnis in Atlanta.


Ich musste dann doch noch eine Nacht warten. Gegen 13 Uhr des nächsten Tages ging es los. Meine Sachen waren bereits verpackt, und das Wenige, was ich mitnehmen durfte, lag bereit. Trotz Ankündigung vom Vortage durfte ich meine Medikamente nicht mitnehmen. Auch mein schöner Che-Guevara-Jumpsuit blieb im FDC. Stattdessen bekam ich für die Reise einen blauen Einweg-Overall mit Reißverschluss und statt der Plastiksandalen grüne knöchelhohe Socken, die eine Art dünne Schuhsohle aufwiesen.

Mir war klar, dass wir fliegen würden, andernfalls wäre ich nachts abgeholt worden. Das ging auch relativ reibungslos: Wir stiegen in eine Boeing, angeblich ca. 150 Gefangene. Für den gesamten Transport – auch während des Fluges – waren wir mit Hand- und Fußfesseln gefesselt. Eine Zwischenlandung in Tampa, um ca. 16 Uhr ging es weiter. Nach Tampa ging in Flugrichtung links langsam die Sonne unter. Es war wie ein Hauch von Ferienstimmung.

In Atlanta folgte abermals eine fast komplette Aufnahmeprozedur. Der gesamte Inhalt der Boeing an Gefangenen war hierhergebracht worden. Trotz des Chaos, das auf den Fluren herrschte, ging alles erstaunlich schnell, ich war gegen 22 Uhr auf meiner Zelle. Geringfügig kleiner als im FDC, zumindest etwas ungünstiger geschnitten, war sie bereits mit zwei Leuten belegt, von denen einer mit mir im Flugzeug gesessen hatte. Es wurde eine zusätzliche Matratze für mich geholt, und ich schlief diese Nacht auf dem Fußboden.


Der Holdover-Trakt in Atlanta war ein schlimmer Knast. Alles hier wirkte ‹dreckig›. Das lag im Wesentlichen an fehlenden PVC-Fußbodenfliesen und dem uralten Anstrich von Wänden, Decken, Betten, des Minischreibtisches in meiner Zelle und der beiden locker. Von den lackierten Metallteilen blätterte die Farbe ab. Das konnte beim Miniwaschtisch und beim Toilettenbecken allerdings nicht passieren, beides bestand aus Edelstahl. 23 Stunden am Tag waren wir hier eingeschlossen. Gemeinschaftsräume im eigentlichen Sinne gab es nicht, obwohl in der Nähe ständig und laut zwei Fernseher liefen, vermutlich für die guards. Duschen und telefonieren konnte man nur in der verbleibenden einen Stunde recreation time.

Es war wieder wie in den ersten Tagen nach meiner Verhaftung. Ich kannte hier niemanden, verstieß dauernd gegen irgendwelche mir unbekannten Vorschriften und besaß buchstäblich nichts. Da in diesem Gefängnis ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, konnte man sich jedenfalls an der Hinterlassenschaft der Zellengenossen bedienen. Denn diese mussten bei einer Verlegung alles zurücklassen, was sie vielleicht gerade erst teuer erworben hatten. In meinem Fall wurde ein Mann namens Eugene überraschend nach Kentucky abtransportiert, und von ihm erbte ich Shampoo, Seife, ein gebrauchtes Handtuch und ein blaues T-Shirt, außerdem Zahnpasta und vier Einweg-Nassrasierer. Auch mein Zellengenosse Nestor, der bereits nach der ersten Nacht in eine andere Zelle gebracht worden war, hatte einen begehrlichen Blick auf diese Reichtümer geworfen. Er holte sich den größten Teil der Sachen aus meiner Zelle, als ich zwischen Dusche und Telefonschlange hin- und herhetzte. Ich versuchte, mich nicht zu ärgern, und bestellte mir ein paar Sachen in der commissary, in der Hoffnung, dass ich nicht lange genug hier bleiben würde, um die Auslieferung dieser Waren noch mitzuerleben.

Nestor hat in der kurzen Zeit, in der wir eine Zelle teilten, eine ganze Menge über sich erzählt. Er war ein dicklicher Kolumbianer in meinem Alter, von Beruf Makler. Seine Straftat: Er hatte einem Kunden vier Grundstücke für insgesamt 410 000 Dollar verkauft. Dabei hatte er wohl gewusst, dass sein Käufer in Drogengeschäfte verwickelt war, den Kaufpreis also möglicherweise nicht durch ehrliche Arbeit aufgebracht hatte. Die Anklage warf ihm vor, er sei mindestens willfully blind (vorsätzlich blind) gewesen. Was Nestor aber nicht wusste: Sein Kunde hatte mit Drogengeschäften insgesamt sieben Millionen Dollar Gewinn gemacht. Und daran war der Makler nun im strafrechtlichen Sinne beteiligt. Das Zauberwort: conspiracy. Er wurde wegen Geldwäsche in dieser Höhe zu 210 Monaten Haft verurteilt. Sein Richter: William Dimitrouleas.

Nestor hatte inzwischen sieben Jahre abgesessen und hoffte darauf, dass er auf Antrag der Staatsanwaltschaft bald in die Freiheit entlassen würde. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft? Das war meines Wissens nur möglich, wenn der Betreffende dem Ankläger jede Menge Leute ans Messer lieferte, indem er sie als snitch verpfiff oder zu Straftaten anstiftete. Nachdem ich das wusste, war ich ganz froh darüber, dass ich nicht mit Nestor, sondern vorübergehend sogar allein auf meiner Zelle saß. Um die 23 Stunden pro Tag, die ich hier ohne irgendeine sinnvolle Beschäftigung alleine eingeschlossen war, trotzdem irgendwie herumzubringen, war ich inzwischen darauf verfallen, mir meine Sudokus selbst zu basteln.

Zu den Mahlzeiten wurden wir jeweils für etwa drei Minuten herausgelassen, mussten unser Tablett fassen und damit in die Zellen zurückkehren. Gleich an einem der ersten Tage begrüßte mich beim Frühstückholen ein Mithäftling auf Deutsch mit einem freundlichen «Guten Morgen!» Wie ich dann erfuhr, war der Mann, der in der Zelle 204 saß, ein Kollege von mir: Sam Burstyn, ein Rechtsanwalt aus Miami. Sein Name war mir aus verschiedenen glamourösen Scheidungsverfahren bekannt: Er hatte zum Beispiel Barbara Becker gegen Boris Becker vertreten und war in diesem Zusammenhang auch einmal in Hamburg gewesen.

Ich habe mich zwei- oder dreimal während unserer Freistunde mit dem Kollegen unterhalten. Es erzählte mir, dass er fließend Jiddisch sprach und deshalb auch ein wenig Deutsch verstand. Ich fragte ihn nicht, was ihm genau vorgeworfen wurde – das tat man in dieser Situation einfach nicht. Später erfuhr ich, dass man ihn im Zusammenhang der Verteidigung von Drogenhändlern unter anderem wegen money laundering angeklagt hatte und dass er sich in einem plea bargain der obstruction of justice – der Strafvereitelung also – schuldig bekannt hatte. Er wurde zu 42 Monaten verurteilt.


In diesem Gefängnis sprach sich alles schnell herum, und so wusste ich auch schon vor meiner ersten persönlichen Begegnung, dass es hier Ratten gab. Sie kamen durch die hohen Schlitze zwischen Tür und Fußboden, durch die man Essentabletts herein- und herausschieben konnte, auch in unsere Zellen. Man schützte sich davor, indem man eine zusammengerollte Zeitung vor diese Öffnung legte. Dank Sam Burstyn besaß ich ein Exemplar des «Wall Street Journal», aber eines Abends vergaß ich, meine Tür damit zu verbarrikadieren.

Ich wachte nachts auf, weil ich ständig kleine Geräusche wahrnahm. Anfangs hoffte ich noch, dass sie aus der Nachbarzelle kamen. Aber dann war mir schnell klar, dass ich Besuch hatte. Ich fuhr hoch und legte schnell die Papierrolle vor die Tür. Das war natürlich eine Kurzschlusshandlung, denn eigentlich wollte ich, dass die Ratte aus meiner Zelle verschwand. Sie machte allerdings keinerlei Anstalten dazu, sondern nagte weiter an irgendetwas herum.

In meiner Zelle war es dunkel. Nur ein schummriger Lichtstreifen fiel vom Flur aus durch den Türschlitz auf den Fußboden, und selbstverständlich gab es keine Lampe, die ich selbst hätte anschalten können. So wusste ich nur, dass das Tier irgendwo in meiner Zelle hockte. Ich nahm die Zeitungsrolle und begann, damit auf die beiden Metallschränke und auf den Fußboden zu klopfen. Vielleicht konnte ich die Ratte damit in die Flucht schlagen. Aber die kannte solche hilflosen Manöver vermutlich schon und ließ sich nicht einschüchtern.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich lag in der Dunkelheit auf meinem schmalen Bett und dachte an dieses Tier, das irgendwo in meiner Nähe lauerte. Am Ende beschloss ich, einfach darauf zu warten, dass die Dämmerung anbrach. Wenn ein neuer Tag begann, würde die Ratte hoffentlich vor den guards fliehen, mit deren Erscheinen sie dann rechnen musste. Und so kam es auch. Von nun an vergaß ich nie mehr, den Schlitz unter meiner Tür sorgfältig mit Zeitungspapier abzudichten.

«Heute hatte ich am Telefon zum Schluss einen Kloß im Hals, das tut mir wirklich leid, Anne! Ich versichere Euch allen, dass bei mir alles in Ordnung ist», schrieb ich am selben Tag meiner Tochter, um die Kinder nicht zu beunruhigen. Aber nichts war hier in Ordnung, mal abgesehen davon, dass das Essen von passabler Qualität war. Es gab zwar eine law library und eine Art Sportplatz – aber es gab kaum eine Möglichkeit, diese Einrichtungen zu benutzen. Der sogenannte Rec Yard war nur sonntags zugänglich, und das auch nur manchmal. In der einen Stunde Aufschluss pro Tag hatte man ohnehin alle Hände voll damit zu tun, zum Telefon, zum Duschen, gegebenenfalls auch mal zu einem Krankenpfleger oder Arzt zu kommen oder seine Anwaltspost beim Counsel abzugeben. Das alles ging selbstverständlich nie ohne Warteschlange. Und dann musste man ja auch noch Wäsche fassen, denn wir durften keine zweite Garnitur in unserer Zelle aufbewahren. Alle zwei Tage konnten wir Unterhosen, Socken und T-Shirts in einem zentralen Raum wechseln, unter Aufsicht von zwei trustees. Einmal wurden die Handtücher in den Zellen ersatzlos eingesammelt – frisch gewaschene Exemplare gab es erst einen ganzen Tag später. Machte ja nichts, da an diesem Samstag sowieso für 24 Stunden Einschluss verfügt war. Man hatte ohnehin keine Chance, zum Duschen zu kommen.

Nachdem ich bereits drei Wochen in Atlanta saß, geschah doch noch ein kleines Wunder: Ich durfte während meiner sonntäglichen rec time auf den «Sportplatz», eine überdachte Halle, die nach einer Seite hin offene, vergitterte Fenster hatte. Das Wetter war schön an diesem Tag, und gierig sog ich, an die Gitterstäbe gelehnt, die frische Luft ein. «Ich habe fast eine Stunde in der Sonne gestanden! Könnt Ihr Euch das vorstellen? Es ist in gut zehn Monaten mein zweites Erlebnis dieser Art. Vielleicht geht es ja jetzt aufwärts», vermeldete ich, sobald ich in meine Zelle zurückgekehrt war, nach Hause.

Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz
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