13

 

Joe Hess war in dem heruntergekommenen Haus in der Spring Street in einen Schrank eingesperrt gewesen – schmutzig und mit einem gebrochenen Arm und zwei gebrochenen Rippen. Lowe hatte zwei Stunden später angerufen und ihnen die Neuigkeiten von seiner Befreiung überbracht. Claire versuchte, sich zu freuen, aber der Zusammenbruch, der begonnen hatte, als sie Myrnin verließ, machte sie noch immer fertig. Sie fühlte sich so schwach, krank und ausgelaugt, dass sie nicht einmal die Energie aufbrachte, Shane im Krankenhaus zu besuchen. Michael erzählte Eve, dass sie krank sei, was nicht direkt gelogen war. Claire blieb im Bett; sie zitterte, obwohl sie in mehrere Decken gehüllt und das Zimmer warm war. Alles in ihrem Kopf verschob sich von tristem grauem Nebel bis hin zu glitzernder, eisiger Klarheit und sie wusste nicht, wie lange das anhalten würde. Im Lauf der Nacht bekam sie ab und zu messerscharfe Kopfschmerzen, und als sie endlich einschlafen konnte, war es schon fast Morgen.

Am Sonntag klingelte um zwei Uhr nachmittags ihr Handy. Sie war aufgestanden, um ins Bad zu gehen und sich dann eine Flasche Wasser zu holen. Zu essen wollte sie nichts. Ihr ganzer Körper fühlte sich schwach und misshandelt an. »Wo bist du?«, fragte eine Stimme am anderen Ende. Claire schielte auf die Uhr und strich sich mit der Hand durch ihr filziges, fettiges Haar.

»Wer spricht da?«

Im Hörer ertönte ein Seufzer. »Hier ist Jennifer, du Idiotin. Ich warte im Common Grounds auf dich. Tauchst du noch auf oder was?«

»Nein«, sagte sie, »ich bin krank.«

»Hör mal, selbst wenn du gerade im Sterben liegst, das ist mir total egal. Ich habe morgen eine Zwischenprüfung, die meine halbe Note ausmacht! Schwing deinen Hintern hier runter, aber ein bisschen plötzlich!«

Jennifer legte auf. Claire warf das Handy auf den Nachttisch, dass es schepperte, und setzte sich – beziehungsweise fiel – aufs Bett. Ich kann nicht. Ich möchte einfach nur schlafen, sonst nichts.

Jemand klopfte leise an die Tür, dann ging sie knarrend auf. Eve kam mit einem gesprungenen, abgenutzten Plastiktablett herein. Darauf befanden sich eine eiskalte, noch zischende Cola, ein belegtes Brötchen und ein Keks.

Und eine rote Rose.

»Iss«, sagte sie und ließ das Tablett auf Claires Schoß gleiten. »Oh, Mann, das muss ja ein höllischer Kater sein.«

»Kater?« Claire schaute sie seltsam an und nippte an der Cola. Sie rann süß und kalt ihre Kehle hinunter, und das tat gut. »Ich habe keinen Kater.«

Eve schüttelte den Kopf. »Ich kenn das, CB. Vertrau mir. Iss was und geh duschen, dann wird es dir besser gehen.«

Claire nickte. Ganz entfernt spürte sie tatsächlich einen Anflug von Hunger und es gelang ihr, zwei Bissen von dem belegten Brötchen hinunterzukriegen, bevor sie sich wieder hinlegen musste. Zwischendrin versuchte sie es mit dem Keks.

Die Dusche fühlte sich himmlisch an, Eve hatte auch damit recht behalten; als sie schließlich angezogen war und das halbe Brötchen aufgegessen hatte, fühlte sie sich fast wieder lebendig.

Das Handy klingelte wieder. Jennifer. Claire gab ihr keine Chance, zu schreien und zu drohen. »Zehn Minuten«, sagte sie und legte auf. Sie wollte nicht gehen, aber im Bett zu bleiben, schien auch nichts zu bringen. Sie nahm das Tablett mit nach unten, spülte ab und griff sich beim Hinausgehen ihren Rucksack.

»Wo willst du hin, verdammt?«

Michael. Er stand im Flur, versperrte die Tür und sah aus, als wäre er der Wächter des Himmelstors persönlich. Seine Hand war wund und rosa – die Verbrennungen waren noch immer nicht verheilt. Sie dachte darüber nach, wie wichtig seine Hände für ihn waren wegen der Musik, und sie bekam Gewissensbisse.

»Ich treffe mich mit Jennifer im Common Grounds«, sagte sie. »Nachhilfe. Gegen Bezahlung.«

»Gut, aber du gehst nicht zu Fuß und ich kann dich vor Einbruch der Dunkelheit nicht hinbringen.«

»Ich kann dich fahren«, bot Eve an. Sie kam zu Claire in den Flur. »Ich muss sowieso zur Arbeit. Kim ist wieder nicht aufgetaucht, sie haben mich vorhin angerufen. Hey, bezahlte Überstunden. Ist doch prima. Vielleicht können wir uns Tacos leisten.«

Michael sah gereizt aus, aber schließlich gab er nach. Er nickte und machte den Weg frei. Eve stellte sich auf Zehenspitzen, um ihn zu küssen, und das dauerte eine Weile, bis Claire sich räusperte, auf die Uhr schaute und sie dazu brachte, zum Auto zu gehen.

Es war eine kurze Fahrt bis zum Common Grounds, aber nicht direkt angenehm, denn das Erste, was Eve sagte, war: »Stimmt es, dass Oliver die Fentons und Captain Durchblick getötet hat?«

Claire wollte nicht darüber sprechen, aber sie nickte.

»Und Michael? Michael war auch dort?«

Claire nickte wieder und schaute aus dem Fenster.

»Er wurde verletzt, ich habe die Verbrennungen gesehen.«

Dieses Mal versuchte Claire gleich gar nicht zu antworten. Eve ließ die Stille einige Sekunden wirken, dann sagte sie: »Schließt mich nicht aus, Claire. Wir vier haben nur uns selbst.«

Nur dass Claire ihr Wissen mit niemandem teilen konnte. Nicht mit Michael, nicht mit Eve und schon gar nicht mit Shane.

Sie war allein und schleppte ein hässliches, belastendes Wissen mit sich herum, das sie nicht wollte und das sie nicht nutzen konnte. Und jedes Mal, wenn sie an Olivers eisiges Lächeln dachte, daran, wie er Christine Fentons Kehle aufgerissen hatte, wurde ihr übel. Ich helfe ihm, wenn ich weiterhin für Myrnin und Amelie arbeite. Aber sie half auch Michael. Sam. Myrnin.

Eve schien zu spüren, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, sie zu drängen. Sie hielt vor dem Café an und sagte: »Bleib drin, bis es dunkel wird. Michael kommt dich dann abholen.«

»Ich möchte Shane besuchen«, sagte Claire. »Aber für den Heimweg werde ich schon eine Mitfahrgelegenheit finden.«

»Verdammt, Claire...«Eve seufzte. »Ich kann dich nicht daran hindern. Aber wenn du wartest, könnt ihr zusammen hingehen, Michael und du. Ich sehe euch dann heute Abend. Zum Abendessen gibt es Tacos, okay?«

Im Moment klang das für Claire nicht besonders verlockend, aber sie nickte. Sie stieg aus und betrat das Common Grounds, das aus einem Meer von Geräuschen und Unterhaltungen bestand – wie immer war es überfüllt mit College-Studenten und ein paar Einheimischen. Sie hatte sich angewöhnt, nach dem Glitzern von ID-Armbändern Ausschau zu halten.

Jennifer saß am selben Tisch, den auch Monica bevorzugte, sie nippte an einem Getränk, von dem Claire wetten würde, dass es das gleiche war, das Monica immer nahm, und sie trug ein Outfit, das sie wahrscheinlich von Monica weitergereicht bekommen oder zumindest von denselben Designern abgekupfert hatte. Sie sah wütend aus und blickte Claire finster an, als sie ihren Rucksack auf den Fußboden stellte und auf einen Stuhl glitt. »Du siehst beschissen aus«, sagte Jennifer. »Wirklich krank oder verkatert?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Also verkatert«, sagte Jennifer und grinste. »Und ich dachte immer, du seist so ein richtiges minderjähriges Unschuldslamm.«

Beim Geruch von Kaffee wurde ihr ganz flau, trotzdem ging Claire zur Theke hinüber und bestellte sich einen Mochaccino. Oliver war heute nicht im Dienst, sie kannte die beiden Baristas hinter der Theke nicht.

Als sie sich umdrehte, saß jemand anderes an Jennifers Tisch auf dem Stuhl, der zuvor frei gewesen war.

Monica.

Mist. Das packe ich nicht. Nicht heute. Sie fühlte sich schrecklich und das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, war ein Schlagabtausch mit der Zickenkönigin.

Monica musterte sie wie mit einem Röntgenblick, schaute Jennifer an und schlug sich mit einer übertriebenen Geste an die Stirn. »Ich dachte, der Grunge-Look ist schon seit den Neunzigern ausgestorben.«

»Halt die Klappe.« Claire setzte sich auf ihren Platz, in einer Hand hielt sie den Mochaccino. »Ich gebe Jennifer Nachhilfe, nicht dir.«

»Ich würde nicht zulassen, dass du mir Nachhilfe gibst, du Miststück. Wahrscheinlich würdest du mir nur die falschen Antworten geben.«

Das war eine total gute Idee und Claire sah Angst in Jennifers Gesicht aufflackern. Sie seufzte. »Das würde ich nicht tun«, sagte sie.

»Warum nicht?«

»Weil – weil das wichtig ist. Schule.« Die beiden schauten Claire an, als sei sie plemplem.

»Egal. Ich würde es einfach nicht tun. Möchtest du jetzt Nachhilfe oder nicht?«

Jennifer nickte. Claire griff nach ihren Heften, blätterte zu den Notizen, die sie in Wirtschaft gemacht hatte, und begann zu erklären. Wenigstens strengte sich Jennifer an. Monica seufzte dauernd und zappelte herum, aber Jennifer schien irgendwie aufzupassen. Sie sagte sogar einige Formeln richtig, als Claire sie abfragte. Es dauerte etwa eine Stunde, um sie auf den Wissensstand einer soliden Zwei zu bringen, aber das war gut genug. Jennifer hatte kein Interesse an Einsen und Monica war es sowieso völlig egal.

Claire bereitete ihr Mochaccino Übelkeit. Sie knallte ihre halb volle Tasse hin und ging auf die Toilette. Sie nahm ihren Rucksack mit – teilweise aus der durchaus vernünftigen Befürchtung heraus, dass Monica und /oder Jennifer irgendetwas Fieses damit anstellen würden, wenn sie ihn bei ihnen stehen ließ.

Sie stand vor dem Spiegel und starrte auf ihr fahles Gesicht – sie hatte Augenringe wie ein Waschbär und bleiche Lippen. Plötzlich befiel sie wieder ein Augenblick der Klarheit, ein Aufflackern gnadenloser Schönheit in einer Welt, die in Grau zu versinken schien.

Nur ein kleines bisschen. Nur um den Tag durchzustehen. Es war sowieso nicht mehr viel davon übrig.

Sie zwang sich, nicht darüber nachzudenken. In ihrem Kopf hämmerte es, ihr Mund war trocken, ihre Muskeln taten weh und sie brauchte etwas, um sich besser zu fühlen. Denn im Moment wusste sie nicht, wie sie den Tag durchstehen sollte.

Sie streute sich etwa zehn mickrige Kristalle in die Handfläche. Der Erdbeergeruch kitzelte ihr in der Nase, sie schob die Kristalle herum und beobachtete, wie das Licht auf den scharfen Rändern glitzerte. Sie sahen aus wie Süßigkeiten.

Es ist eine Droge. Endlich gestand sie es sich ein. Es ist nicht einmal für dich, sondern für Myrnin. Was tust du da eigentlich? Es macht dich krank.

Aber sie würde sich dadurch auch gut fühlen.

Sie war gerade dabei, sich die Kristalle in den Mund zu schieben, als Monica die Tür zu den Toiletten aufstieß.

Claire schluckte, würgte und wischte sich rasch die Hände an ihrer Hose ab. Sie wusste, dass sie schuldbewusst aussah. Monica, die eigentlich auf dem Weg zu einer der Toilettenkabinen gewesen war, hielt inne und schaute sie an.

»Was war das?«, fragte Monica.

»Was war was?« Falsche Antwort, Claire wusste es schon, als sie es sagte. Warum nicht Aspirin für meinen Kater? Oder Pfefferminzdrops? Sie war eine miserable Lügnerin.

Sie konnte nicht anders – schockiert schnappte sie nach Luft, als die Kristalle ihre chemische Botschaft durch ihre Nervenenden jagten – Eis in allen Venen – und die Welt wurde scharf und hell und – vorübergehend – schmerzfrei.

Und Monica war viel zu clever. Sie schaute die Hand an, die Claire krampfhaft an ihrer Jeans rieb, musterte sie wieder mit diesem Röntgenblick und lächelte langsam. »Mann, das muss ja guter Stoff sein. Deine Pupillen haben sich wie verrückt geweitet.« Monica trat neben sie und überprüfte ihr Make-up. »Woher hast du das?«

Claire sagte nichts. Sie griff nach dem Streuer, der auf dem Rand des Waschbeckens stand, aber Monica kam ihr zuvor. Sie schaute ihn sich an und streute einen Kristall in ihre Hand. »Cool. Was ist es?«

»Nichts. Es ist nicht für dich.«

Monica zog den Streuer weg, als Claire danach greifen wollte.

»Oh, ich glaube schon. Vor allem, wenn du es so dringend haben willst.«

Claire dachte nicht nach, sie handelte einfach. Ihr Gehirn arbeitete so schnell, dass ihre Bewegungen nur verschwommen wahrnehmbar waren, als sie Monica mit dem Rücken gegen die Wand krachen ließ und ihr dann den silbernen Streuer entwand. Monica hatte noch nicht einmal Zeit zu schreien.

Monica zupfte ihre Kleider zurecht und warf die Haare zurück. Ein irrsinniges Licht flackerte in ihren Augen auf, ihre Wangen glühten. Sie genoss das.

»Oh, du dummes Miststück«, keuchte Monica. »Das war echt eine schlechte Idee. Es macht dich also schneller. Und ich wette, du hast es von den Vamps. Damit gehört es mir.«

»Nein«, sagte Claire. Dass sie es vermasselt hatte, wusste sie, aber durch Reden würde es jetzt nur noch schlimmer werden. Sie steckte den Streuer in ihren Rucksack, machte den Reißverschluss zu und schulterte ihn. Dann wandte sie sich zum Gehen.

Ihre Hand lag bereits auf der Klinke, als Monica sagte: »Shane ist immer noch auf der Intensivstation.« Es lag an der Art, wie sie das sagte... Claire drehte sich langsam zu ihr um. »Das heißt, er ist noch nicht über den Berg. Komisch, man kann alle möglichen Rückschläge erleiden. Vielleicht bekommt er mal die falschen Medikamente oder so. Das kann einen umbringen. So eine Geschichte kam mal in den Nachrichten.« Monicas Lächeln war heimtückisch. »Ich fände es schlimm, miterleben zu müssen, dass so etwas passiert.«

Claire fühlte den wildesten, kältesten Impuls, der je über sie gekommen war – sie wollte sich auf Monica stürzen, ihren Kopf gegen die Wand schlagen, sie in Stücke reißen. Sie konnte es vor ihrem geistigen Auge sehen. Das war erschreckend und sie brachte sich selbst mit einem Ruck wieder zur Vernunft.

»Was willst du?«, fragte sie. Ihre Stimme klang nicht besonders fest.

Monica streckte einfach nur ihre perfekt manikürte Hand aus, zog die Augenbrauen hoch und wartete.

Claire nahm ihren Rucksack ab, zog den Streuer heraus und händigte ihn ihr aus. »Wenn das alle ist, habe ich nichts mehr«, sagte sie. »Hoffentlich erstickst du daran.«

Monica schüttete einige der roten Kristalle in ihre Hand. »Wie viel? Und mach jetzt keinen Fehler. Wenn du mir eine Überdosis verpasst, dann geht es dir an die Gurgel, nicht mir.«

»Nimm nicht mehr als die Hälfte davon«, sagte Claire. Monica schabte die Hälfte der Kristalle von ihrer Hand zurück in den Behälter. Es sah einigermaßen okay aus. Claire nickte.

Monica warf es sich ein, leckte sich die Reste von der Hand und Claire konnte den exakten Zeitpunkt feststellen, an dem die Wirkung der Chemikalien einschlug – ihre Augen weiteten sich und ihre Pupillen wuchsen. Und wuchsen. Es war schaurig und Claire fühlte, wie sie eine Gänsehaut bekam, als Monica zu zittern anfing. So sieht das also aus. Es sah schrecklich aus.

»Du bist schön.« Monica klang überrascht. »Alles ist so klar jetzt...«

Und dann rollten sich ihre Augen nach hinten, sie fiel zu Boden und bekam Zuckungen.

Claire schrie um Hilfe, stopfte ihren Rucksack unter Monicas Kopf, damit sie ihn nicht gegen den Fliesenboden schlug, und versuchte, sie unten zu halten. Jennifer kam hereingerannt und schrie auch, dann kam sie auf Claire zu und holte aus. Claire wich dem Schlag aus – er kam ihr sehr langsam vor – und schubste Jennifer aus dem Weg. »Ich war es nicht!«, schrie sie. »Sie hat etwas genommen!«

Jennifer wählte den Notruf.

So hatte Claire nicht ins Krankenhaus kommen wollen. Noch schlimmer war, dass Monica aufgehört hatte zu atmen, als sie dort ankamen, und ihr die Sanitäter einen Schlauch in den Hals stecken mussten. Sie hängten sie gerade an Maschinen, der Bürgermeister kam und die Hälfte der Polizisten der Stadt versammelte sich.

»Ich muss wissen, was sie genommen hat«, sagte der Arzt gerade. Claire versuchte, ihm über die Schulter zu schauen. Sie sah Richard Morrell vom Parkplatz her durch die Tür kommen. Der Arzt schnippte ihr mit den Fingern vor den Augen herum, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Deine Pupillen sind geweitet. Du hast auch etwas genommen. Was ist es?«

Claire reichte ihm schweigend den Streuer. Der Arzt schaute sich die roten Kristalle an, runzelte die Stirn und sagte: »Woher hast du das?« Er trug ein silbernes Armband mit einem Symbol, das sie nicht kannte. »Hör mal, das ist kein Witz. Das Mädchen da stirbt und ich muss wissen...«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, sagte sie. »Fragen Sie Amelie.« Sie hielt ihr Armband hoch. Sie fühlte sich wie betäubt. Auch wenn sie Monica am liebsten umgebracht hätte, hatte sie das nicht wirklich vorgehabt. Warum war das passiert? Es war dieselbe Dosis gewesen, die Claire genommen hatte, und sie wusste, dass die Kristalle nicht verschmutzt waren...

Der Arzt bedachte sie mit einem Blick voller Geringschätzung und händigte die Kristalle einem Krankenpfleger aus. »Labor«, sagte er. »Ich muss sofort wissen, was das für ein Zeug ist. Sag ihnen, dass es oberste Priorität hat.«

Der Krankenpfleger rannte davon.

»Dich möchte ich auch im Labor haben«, sagte der Arzt und schnappte sich eine Krankenschwester, die gerade vorbeikam. Er ratterte eine Reihe von Tests herunter, so schnell, dass selbst Claires beschleunigtes Gehirn nicht alles verarbeiten konnte, aber die Krankenschwester nickte nur. Blutuntersuchungen, dachte sie. Claire ging, ohne zu protestieren. Das war besser, als auf Richard Morrell zu warten und sich anhören zu müssen, dass sie seine Schwester vergiftet hatte.

Sobald die Schwester mit Blutabnehmen fertig war, ging Claire auf die Intensivstation. Shane war wach und las in einem Buch. Er sah besser aus und sein Lächeln strahlte Wärme und Erleichterung aus. »Eve sagte, du seist krank«, sagte er. »Ich dachte, dir sei einfach schlecht geworden, als du mich hier gesehen hast.«

Claire war nach Weinen zumute. Sie wollte zu ihm ins Bett kriechen, in den Arm genommen werden und nur eine Minute lang die Schuld und den Schrecken, die auf ihren Schultern lasteten, vergessen.

»Was ist los?«, fragte er. »Deine Augen...«

»Ich habe einen Fehler gemacht«, brach es aus ihr heraus. »Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht und ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen kann. Sie stirbt und ich weiß nicht, wie...«

»Stirbt?« Shane bemühte sich, sich aufzurichten. »Wer? Oh Gott, nicht Eve...«

»Monica. Ich habe ihr etwas gegeben und sie hat es genommen und jetzt stirbt sie.« Kalte Tränen rannen ihr die Wange herunter und sie fühlten sich an wie eisige Nadelstiche. »Ich muss etwas unternehmen. Aber ich weiß nicht, was ich tun kann.«

Shanes Augen wurden schmal. »Claire, sprichst du von Drogen? Du hast ihr Drogen gegeben? Himmel, was hast du dir bloß dabei gedacht?« Er ergriff ihre Hand. »Hast du auch etwas genommen?«

Sie nickte kläglich. »Mir macht es nichts aus, aber sie bringt es um.«

»Du musst es ihnen sagen. Sag ihnen, was ihr genommen habt. Tu es gleich.«

»Ich kann nicht – es ist...«Sie wusste, was es bedeuten würde, das jetzt zu sagen. Sie wusste jetzt schon, wie es die Sache zwischen ihnen verändern würde. »Ich kann es nicht sagen, weil es etwas mit Amelie zu tun hat. Ich kann nicht, Shane.«

Er drückte ihre Hand fester, dann ließ er locker. Schließlich ließ er sie los und schaute weg. »Du würdest also einen Menschen sterben lassen, weil Amelie dir aufgetragen hat, nichts zu sagen. Nicht einmal Monica rangiert so niedrig. Wenn du nicht irgendetwas unternimmst...«Er hielt inne und nahm einen tiefen und langsamen Atemzug. Seine Stimme klang nicht besonders fest, als er fortfuhr. »Wenn du nichts unternimmst, bedeutet das, dass die Vampire bei dir an erster Stelle stehen, und damit kann ich nicht umgehen, Claire. Es tut mir leid, aber das kann ich nicht.«

Das wusste sie. Noch immer brannten ihr Tränen in den Augen, aber sie versuchte nicht, ihm das auszureden. Er hatte recht, sie war im Unrecht und sie musste einen Ausweg finden. Sie musste einfach. In Morganville starben genug Menschen und einige davon waren ihretwegen gestorben.

Die Notizen. Die Notizen, die ich bei Myrnin gelassen habe. Mit ihrer Hilfe würden die Ärzte genau sagen können, was das für Kristalle waren und wie man ihnen entgegenwirken konnte. Sie könnte jetzt versuchen, sie zu rekonstruieren, da ihr Gehirn noch immer auf Hochtouren arbeitete, aber sie konnte bereits fühlen, wie alles an den Rändern verschwamm.

»Shane«, sagte sie. Er schaute sie nicht an. »Ich liebe dich.« Sie hatte nicht vorgehabt, das zu sagen, aber sie wusste, dass sie vielleicht nicht zurückkam. Nie mehr. Und als wüsste er das auch, griff er nach ihrer Hand und drückte sie. Als er sie dann schließlich anschaute, sagte sie: »Ich kann ihnen nichts sagen, aber ich glaube, ich kann ihr helfen. Und das werde ich auch tun.«

Seine braunen Augen sahen müde und ängstlich aus und er begriff viel zu viel. »Du hast irgendwas Verrücktes vor.«

»Na ja«, sagte sie, »nicht so verrückt, wie das, was du tun würdest, aber... ja.« Sie küsste ihn und es fühlte sich so beängstigend gut an, wie perfekt seine Lippen auf ihre passten, wie die Zeit anzuhalten schien, wenn sich ihre Lippen trafen. »Wir sehen uns«, flüsterte sie und strich ihm über die Wange.

Und dann floh sie, bevor er versuchen konnte, es ihr auszureden.

»Warte!«, rief er ihr nach. Aber sie hielt nicht an.

Claire rannte aus dem Krankenhaus und machte sich auf den Weg dorthin, wo sie am allerwenigsten auf der ganzen Welt sein wollte.

***

In Myrnins Labor herrschte Totenstille. Claire kam sehr langsam und vorsichtig die Stufen herunter, wobei sie auf Hinweise auf seine Anwesenheit lauschte. Alle Lichter brannten, Öllampen flackerten und ein paar Bunsenbrenner zischten unter blubbernden Flaschen. Das ganze Labor roch nach Erdbeeren und Fäulnis und es war seltsam kalt hier.

Wenn ich mich beeile... Myrnin hatte irgendwo hier unten ein Schlafzimmer, oder? Vielleicht schlief er. Oder er las. Oder er tat sonst etwas Normales.

Vielleicht aber auch nicht.

Claire bahnte sich ihren Weg durch den Raum, sie bewegte sich sehr vorsichtig und achtete darauf, keinen der schiefen Bücherstapel umzuwerfen oder auf knirschende Glasscherben zu treten. Hinten im Labor sah sie, dass das Tablett, auf das sie die Kristalle zum Trocknen gelegt hatte, leer war. Von den Kristallen selbst war zwar keine Spur zu sehen, aber die Notizbücher waren ordentlich in einer Ecke gestapelt.

Als sie sie nahm, hörte sie Myrnins Stimme direkt an ihrer Schulter. Sie fühlte seinen kühlen Atem im Nacken. »Die gehören nicht dir.«

Sie wirbelte herum, fuhr zurück und warf dabei einen Stapel Bücher um, der gegen einen anderen fiel und einen Dominoeffekt auslöste.

»Jetzt sieh dir mal an, was du angerichtet hast«, sagte Myrnin. Er schien ganz ruhig zu sein, aber irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht.

Ganz und gar nicht.

Claire wich zurück und warf dabei einen Blick nach hinten, um sicher zu sein, dass der Weg frei war; in diesem Moment stürzte sich Myrnin auf sie. Sie hielt die Notizbücher zwischen sich und ihn und er fuhr mit seinen Klauen hinein und zerfetzte sie. »Nein! Myrnin, nein!«

Sie warf ihn von sich, was ihr hauptsächlich deshalb gelang, weil seine Knie auf den heruntergefallenen Büchern ausrutschten, und krabbelte keuchend weg. Irgendwie schaffte sie es, daran zu denken, die beschädigten Notizbücher festzuhalten. Myrnin fauchte und versuchte, ihr zu folgen, aber durch das herumliegende Zeug war es schwierig, sicher aufzutreten, und sein Sprung ging schief. Er knallte gegen ein Regal, das in einem Hagel aus Büchern über ihm zusammenbrach.

Claire versuchte, es zur Treppe zu schaffen, aber sie hatte keine Chance. Er war bereits neben ihr und drauf und dran, jegliche Hoffnung auf Rettung oder Flucht zunichtezumachen.

Sie würde sterben und Monica würde ebenfalls umkommen. Und Myrnin auch, weil die Krankheit bei ihm schon zu weit fortgeschritten war. Sie hatte nicht das geringste Anzeichen dafür entdecken können, dass er sie erkannte; nicht einmal einen einzigen Augenblick lang.

Sie fuhr zurück und ihre Schultern prallten auf die harte Steinwand. Sie glitt ab und versuchte, sich in eine Ecke zurückzuziehen, aber ein schiefes Bücherregal stand ihr im Weg. Als sie dagegenfiel, rutschte es zur Seite und gab die Tür preis, die Myrnin ihr damals gezeigt hatte.

Das herzförmige Schloss stand offen.

Die Tür war nicht abgeschlossen.

Claire schnappte nach Luft, griff nach dem Schloss und riss es ab. Dann machte sie die Tür auf.

Sie fühlte, wie sich Myrnins Kralle in ihrem Haar verfing, aber sie riss sich los und fiel nach vorne... in die Dunkelheit.

Nein, nein, die Tür hat mir mein Zuhause gezeigt. Sie führte ins Wohnzimmer...

Aber jetzt nicht mehr. Myrnin hatte das Ziel verändert und nun war sie an einem Ort, den sie überhaupt nicht kannte. Es war dunkel und feucht und es roch wie eine Kombination aus Abwasserkanal und Müllkippe. Sie blinzelte und ihre Augen passten sich schneller an die Dunkelheit an, als sie eigentlich sollten – die Kristalle wirkten gut. Inzwischen spürte sie einen Schmerz in ihren Gliedern, der sich nach innen ausbreitete. Bald würde sie wieder auf Entzug sein.

Sie hatte keine Ahnung, wie schlimm es dieses Mal sein würde, aber sie konnte es sich nicht leisten zu warten.

Claire wirbelte herum; die Tür war noch immer da.

Myrnin stand im Türrahmen und starrte sie an.

In diese Richtung konnte sie also nicht gehen. Sie musste einen anderen Weg finden.

Claire rannte in die Dunkelheit hinein. Es drang gerade genug Licht aus sehr schmalen, sehr hohen Fenstern herein, dass sie, als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, erkennen konnte, wo sie sich befand: in einem Gefängnis – in einem fürchterlichen, schmutzigen Gefängnis, in dem es nur wenig Licht gab.

Und einige der Zellen waren belegt.

Sie hatte eine Weile gebraucht, um das zu bemerken, weil alle so still waren – blasse, stille Gestalten, in jeder Zelle eine, die wie Gespenster zu den Gitterstäben huschten, als sie vorbeirannte. Das änderte sich, je weiter sie kam. Ein Geräusch kam auf – zuerst ein Flüstern, das dann zu einem Heulen anschwoll. Sie hörte ein metallisches Rasseln.

Sie versuchen auszubrechen.

Claire schnappte nach Luft, sie wurde müde und Myrnin war hinter ihr her.

Hier hält sie sie also. Die, die nicht mehr zu heilen sind.

Hier würden alle Vampire enden, einer nach dem anderen. Zurückgelassen im Dunkeln, allein, gefangen und hungrig.

Amelie ließ das zu.

Plötzlich wurde es still, und das war noch schlimmer als das Heulen und Rasseln. Claire blickte über ihre Schulter und sah, dass Myrnin langsamer wurde und stehen blieb. Es war nur noch das Geräusch ihrer Schritte auf dem Steinfußboden zu hören, bis sie ausrutschte und auch stehen blieb.

»Claire«, flüsterte Myrnin. »Was machst du hier?« Er klang verwirrt, aber wenigstens erinnerte er sich an ihren Namen. Er tastete nach seinen Taschen, fand eine Art kleines Silberkästchen und öffnete es. Rote Kristalle rieselten auf seine Handfläche, häuften sich dort auf und würgend zwang er sich, sie einzunehmen.

Die Wirkung brachte ihn ins Straucheln. Er stützte sich mit der Schulter an der Wand des Korridors ab und stöhnte. Es klang, als hätte er Schmerzen. Große Schmerzen.

»Nicht viel Zeit«, sagte er. Seine Stimme war kaum zu hören, aber in der kalten Stille konnte sie jedes Wort verstehen. »Die Notizen. Brauchst du sie?«

»Ich – ich habe einen Fehler gemacht. Jemand anderes hat die Kristalle genommen. Ich muss sie den Ärzten geben.«

»Jemand anderes hat die Kristalle genommen?«

»Ja.«

»Die meisten sterben«, sagte er, als sei es nicht von Belang. »Vielleicht findest du in dem, was du aufgeschrieben hast, eine Lösung. Ich weiß nicht, ich habe es nie probiert.«

Das bedeutete, dass er nicht einmal gewusst hatte, ob die Kristalle sie töten würden, als er sie ihr zum ersten Mal gab.

Gott. Und sie hatte gedacht, ihm würde tatsächlich etwas an ihr liegen.

Er klang sehr müde. »Verstehst du jetzt, wie man die Türen verwendet?«

»Nein.«

»Du brauchst nur eine Tür zu finden und dich auf dein Ziel zu konzentrieren. Allerdings gibt es kaum Menschen, die über die Geisteskraft verfügen, es auch nur ein einziges Mal zu schaffen, geschweige denn regelmäßig – und die Türen haben eine raffinierte Art zu verschwinden, wenn jemand nicht eingeladen ist, sie zu benutzen. Du kannst zu jedem Haus der Gründerin gehen oder zu sieben weiteren Türen in der Stadt, aber zuerst musst du klar vor Augen haben, wohin du gehst. Wenn dir das missglückt, endest du hier.« Mühsam hob er die Hand und machte eine schwache Geste. »Hier verwahrt sie die Monster.« Myrnin lächelte schwach, aber sein Lächeln wirkte gebrochen. »Schließlich bin auch ich hier gelandet, nicht wahr?«

Claire bemühte sich, ihr Herzklopfen zu beruhigen. »Wie komme ich wieder zurück? Zurück in Ihr Labor?«

»Da lang.« Myrnin schaute auf seine Hand hinunter, als würde sie ihm merkwürdig vorkommen. Er drehte sie in die eine Richtung und dann in die andere, untersuchte sie und zeigte ihr dann den Weg. »Halt dich rechts, dann wirst du es finden. Halt dich von den Gitterstäben fern. Wenn sie nach dir greifen, dann lass nicht zu, dass sie dich nah genug heranziehen, um dich beißen zu können. Und Claire...«

Sie presste die Notizbücher fest an ihre Brust, als sich ihre Blicke trafen. Er erschien ihr immer noch ganz vernünftig, aber selbst diese massive Dosis an Kristallen hatte die Bestie nicht komplett verjagt.

»Du musst mir zwei Gefallen erweisen«, sagte er. »Erstens: Versprich mir, dass du weiterhin daran arbeitest, ein Heilmittel zu finden. Ich bin nicht mehr in der Lage, diese Arbeit fortzusetzen.«

Sie schluckte schwer und nickte. Das hätte sie ohnehin versucht. »Ich kann das nicht allein«, sagte sie. »Ich werde Hilfe brauchen. Ärzte. Ich werde ihnen die Notizen geben und sehen, ob wir etwas finden können.«

Myrnin nickte. »Erklär ihnen nur nicht, was es bewirkt.« Er schaute sich um. An der anderen Seite der Wand war eine leere Zelle, deren Tür offen stand. Eine vermodernde Pritsche befand sich darin, sonst nichts.

Er holte Luft, atmete wieder aus und ging in die Zelle. Dann drehte er sich um und machte die Tür fest hinter sich zu. Claire hörte das Schloss mit einem dumpfen, metallischen Klicken einrasten.

»Zweitens«, sagte Myrnin, »bring mir Bücher mit, wenn du mich besuchst. Und vielleicht mehr Kristalle, wenn es dir gelingt, mehr herzustellen. Es ist so schön, wieder klar zu denken, auch wenn es nur für ein paar Augenblicke ist.«

Sie fühlte sich, als hätte er ihr einen Schlag in die Brust versetzt und ihr das Herz herausgerissen. Sie fühlte sich ausgehöhlt und leer.

Und sehr, sehr traurig.

»Das werde ich«, sagte sie. »Ich komme wieder.«

Als sie zurückschaute, hatte sich Myrnin auf dem Rand der Pritsche niedergelassen und starrte auf den Boden.

Er schaute nicht auf, als sie sagte: »Ich werde Sie nicht einfach hier zurücklassen. Das verspreche ich. Ich werde Sie besuchen kommen.«

Sie zögerte und glaubte, ein Flüstern zu hören. Eine Stimme.

Die Stimme ihrer Mutter.

»Du solltest gehen«, sagte Myrnin tonlos. »Bevor wir beide Grund zur Reue haben.«

Sie rannte davon.

***

Auf dem Weg zurück zur Tür wurde sie nicht aufgehalten, auch wenn viele der kranken Vampire stumm nach ihr griffen oder schrien; sie hielt sich die Ohren zu und rannte mit klopfendem Herzen, wobei sie sich immer elender und verängstigter fühlte. Die Erleichterung, die offene Tür vor sich zu sehen, war wie eine warme Decke in der Kälte. Der Durchgang war schwarz. Einfach nur schwarz. Sie konnte Myrnins Labor nicht auf der anderen Seite sehen. Sie konnte überhaupt nichts sehen.

Denk nach! Myrnin hatte gesagt, dass sie sich konzentrieren und sich vor Augen führen müsste, wohin sie wollte. Natürlich hatte er auch gesagt, dass ihr das vermutlich nicht gelingen würde. Nein, denk nicht daran. Wenn du hier rauswillst, dann musst du dich konzentrieren. Ganz fest!

Nichts. Gar nichts.

Sie schloss die Augen, obwohl es grauenerregend war, das hier zu tun, an diesem Ort. Dann verlangsamte sie ihre Atmung. Sie dachte an das Labor, an das verwirrende Durcheinander, die Bücher, die Flaschen, das Neue und das Alte. Sie roch es, wie einen Hauch von Zuhause, und als sie die Augen öffnete, konnte sie es auf der anderen Seite der Tür sehen.

Claire holte tief Luft, trat durch einen leichten, ziehenden Widerstand über die Schwelle und wandte sich um, um die Tür zu schließen, sobald sie durch war.

Als sie sich wieder umdrehte, wartete Amelie dort auf sie.

Sie stand mit gefalteten Händen mitten im Zimmer. Ihr ehrwürdiges, ruhiges Gesicht war vollkommen ausdruckslos, abgesehen von einem Anflug von Bitterkeit in ihren Augen.

»Er ist weg«, sagte Amelie. »Wo ist er?«

»Ich – das Gefängnis.«

»Du hast ihn hinuntergebracht?« Amelie runzelte leicht die Stirn. »Du hast ihn da hinuntergebracht?«

»Ich glaube, er wollte dorthin gehen. Er – er hat sich selbst in einen Käfig begeben.« Claire bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen. »Wie – wie können Sie sie so dort zurücklassen?«

»Ich habe keine andere Wahl.« Natürlich würde es Amelie nie in den Sinn kommen, Erklärungen abzugeben, und Claire würde es wahrscheinlich nichts bringen, wenn sie welche verlangte. »Wenn er wirklich verloren ist, dann ist es vorbei. Das Experiment ist zu Ende und es gibt kein Heilmittel. Keine Möglichkeit, mein Volk zu retten.« Sie setzte sich in einen der hinfälligen Lehnstühle, wobei sie einige Bücher beiseiteschob, die ihr im Weg waren. Es war das erste Mal, dass Claire sah, wie sie etwas nicht auf ihre übliche elegante Art tat. »Ich dachte – ich hätte niemals gedacht, dass wir scheitern.«

Claire trat ein oder zwei Schritte näher. »Ich habe die Notizbücher«, sagte sie. »Und Myrnin muss noch mehr Sachen hiergelassen haben, die ich lesen kann. Sie sind noch nicht gescheitert.«

Amelie schüttelte den Kopf und eine Haarsträhne löste sich aus ihrem Diadem. Dadurch sah sie jung und sehr verletzlich aus. »Ich brauche jemanden, den ich mit der Betreuung der Maschinen betrauen kann, ansonsten wird sowieso alles scheitern. Und nur Myrnin konnte das. Ich hatte gehofft, dass du – aber er sagte mir, dass das nur ein Vampir könnte. Und es gibt sonst niemanden.«

»Sam?«

»Nicht alt genug und nicht auch nur annähernd mächtig genug. Es müsste jemand sein, der eher in meinem Alter ist, und das würde bedeuten...« Amelie blickte sie scharf an. »Eine solche Macht kann ich nicht meinem Feind übertragen.«

Claire gefiel dieser Gedanke auch nicht. »Was könnten Sie sonst tun?«

»Es beenden.« Amelies Stimme war so leise, dass Claire kaum die Worte verstand. »Es dabei bewenden lassen. Es zerstören.«

»Sie meinen – alle gehen lassen?«

Amelie sah sie fest an und hielt ihrem Blick stand. »Nein«, sagte sie. »Das meinte ich damit keineswegs.«

Claire schauderte. »Dann – warum ziehen Sie nicht Oliver hinzu? Sie haben so darum gekämpft, ihn herauszuhalten. Warum versuchen Sie das nicht zuerst? Was haben Sie zu verlieren?«

Amelie zog langsam ihre blassen Augenbrauen nach oben. »Nichts. Und alles, natürlich. Aber du solltest dich davor fürchten, dass wir erfolgreich sein könnten, Claire. Denn wenn wir das sind, wenn die Vampirrasse nicht dem Untergang geweiht ist, wo bleibt dann ihr? Eine interessante Frage, die wir vielleicht an einem anderen Tag erörtern.« Sie machte eine Kopfbewegung zu den Notizbüchern in Claires Hand hin. »Wenn du vorhast, das Morrell-Mädchen zu retten, solltest du dich beeilen«, sagte sie. »Benutze das Portal. Ich schicke dich direkt ins Krankenhaus.«

Es gab ein Portal zum Krankenhaus? Claire blinzelte und schaute zurück zu der geschlossenen und verriegelten Tür. »Ähm... sind Sie sicher, dass es nicht...?«

»Nach unten führt?« Amelie schüttelte den Kopf. »Ich hab nicht die Absicht, es nach unten führen zu lassen. Wenn du das auch nicht vorhast, wird es tun, was wir sagen. Myrnin konnte nur veranlassen, dass die Tür nach unten führt, nicht umgekehrt. Also haben jetzt nur du und ich diese Fähigkeit.«

Claire dachte an etwas und ihr wurde beinahe übel. »Sind Sie sicher?«

»Was meinst du damit?« Amelie blickte langsam auf, ihre Augen waren hell und grimmig.

Ein Sturm von Bildern tobte durch Claires Gehirn: Oliver, wie er sie bei ihr zu Hause packte. Das tote Mädchen im Keller. Jason, der auf Monicas Party kam und wieder verschwand und dann neben dem Common Grounds wieder auftauchte.

Oh nein.

»Können Sie sagen«, fragte Claire, »ob sonst noch jemand das Portal verwendet?«

»Myrnin könnte das sagen, nehme ich an, aber ich kann es nicht. Warum?« Amelie stand auf, nun machte sie eindeutig ein finsteres Gesicht. »Was weißt du?«

»Ich glaube, sie haben einen Verräter in ihren Reihen«, sagte Claire. »Jemand hat es Oliver gezeigt und Oliver hat es Jason gezeigt. Und Captain Durchblick und seine Freunde wussten es wahrscheinlich auch. Jason muss es ihnen gesagt haben...«

»Unmöglich«, unterbrach Amelie sie ungeduldig. »Meine Leute sind über jeden Verdacht erhaben.«

»Wie kommt es dann, dass Jason ohne Einladung ein totes Mädchen in Michaels Haus bringen konnte? Sie sagten doch selbst, dass man erst eingeladen werden muss, um das Haus betreten zu können. Und er war nicht eingeladen.«

Amelie erstarrte und ihre Augen wurden kalt und ausdruckslos. »Verstehe«, sagte sie und wirbelte dann zu der kleinen Tür herum, die zu der engen, vollgestopften Bibliothek führte – die Tür, die Claire damals benutzt hatte, um von der Uni hier hereinzukommen. »Du scheinst recht zu haben. Jemand kommt gerade. Geh, benutz den Durchgang. Beeil dich!«

Claire öffnete die Tür. Dahinter kräuselte und bewegte sich die Luft...ihr Wohnzimmer. Ein fremdes Haus. Ein stilles weißes Zimmer mit Buntglasfenster.

»Jetzt!«, sagte Amelie scharf. »Das ist das Krankenhaus.«

Claire ging hindurch. Als sie sich umschaute, sah sie, wie Oliver Myrnins Labor betrat, sich umschaute und Amelie ins Auge fasste. Direkt hinter ihm kam Jason, er grinste und war eindeutig Olivers neuer Liebling. Oder vielleicht schon immer Olivers Liebling.

»Interessant«, sagte Oliver und wandte den Kopf, um den offenen Durchgang und Claire anzuschauen. »Und unerwartet.«

Mit klopfendem Herzen knallte sie die Tür zwischen ihnen zu und der Durchgang neben ihr verschwand. Das bedeutete nicht, dass er nicht wieder erscheinen konnte, aber für den Moment war sie jedenfalls sicher. Amelie würde nicht zulassen, dass Oliver ihr folgte.

Das hoffte sie jedenfalls.

Sie blätterte in den Notizbüchern. Myrnin hatte zwar seine Finger hineingekrallt, hatte aber nur das letzte und davon nur die hintersten Seiten erwischt. Der Rest war intakt.

Sie verließ das weiße Zimmer und stellte fest, dass sie sich in der konfessionsübergreifenden Kapelle des Krankenhauses befand, die man eher als Meditationsraum begreifen konnte. Sie war leer bis auf eine Person, die im vorderen Teil des Raumes kniete.

Jennifer. Als sie Claire sah, rappelte sie sich auf und platzte heraus: »Was machst du hier?« Ihre Augen waren gerötet, sie schniefte und wischte sich ungehalten über die Augen, wobei sie ihre Mascara verschmierte und die Reste ihres Make-ups ruinierte. Sie hatte Sommersprossen. Claire hatte das noch nie bemerkt.

»Deine Freundin retten«, sagte Claire. »Das hoffe ich zumindest.«

Es dauerte drei Tage, bis das Labor ein Gegenmittel entwickelt hatte, aber als das geschafft war, konnte man Monica nach wenigen Stunden vom Beatmungsgerät nehmen. Das zumindest erfuhr Claire von Richard Morrell, der am Mittwochabend vorbeikam, als die vier – Shane war inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden – beim Abendessen saßen.

»Ich bin froh, dass sie wieder in Ordnung kommt«, sagte Claire. »Richard – es tut mir leid. Wenn ich gewusst hätte...«

»Du kannst von Glück sagen, dass dich das Zeug nicht auch fertiggemacht hat«, sagte er, aber ohne wirklichen Zorn. »Okay, meine Schwester ist nicht der beste Mensch, den ich je getroffen habe, aber ich liebe sie. Danke für deine Hilfe.«

Claire nickte. Michael war auch da, es sah so aus, als würde er nur faulenzen, aber sie wusste, dass er jederzeit bereit war einzuschreiten, falls Richard ausrastete. Nicht dass Richard das tun würde. Bisher war er von den Morrells, die sie kennengelernt hatte, der umgänglichste.

»Geh nicht ins Krankenhaus«, fuhr Richard fort. »Ich versuche gerade, sie davon zu überzeugen, dass du nicht vorhattest, sie umzubringen. Wenn du dort auftauchst, kann ich die Dinge vielleicht nicht mehr im Griff behalten. Unter den gegebenen Umständen...« Er rutschte unbehaglich herum und schaute weg. »Pass einfach auf dich auf, Claire.«

»Das braucht sie nicht«, sagte Eve und legte den Arm um Claires Schulter. »Sag deiner Schwester, wenn sie sich mit Claire anlegt, dann legt sie sich mit uns allen an.«

Richards Gesichtsausdruck wurde leicht ironisch. »Ich bin sicher, das wird ihr Angst einjagen«, sagte er. »Gute Nacht, Claire. Eve.« Er nickte Michael zu. Shane war nicht aufgestanden, immerhin hatte er eine Bauchverletzung, aber er würde auch so für keinen der Morrells aufstehen, nicht einmal für Richard.

Claire hatte den Eindruck, dass Richard auch froh darüber war, keine Freundlichkeit heucheln zu müssen.

Claire brachte Richard zur Tür, schloss ab und kam zurück, um sich mit den anderen darüber zu streiten, wer den letzten Taco bekam. Letztendlich war es Shane. Sein neuestes Argument lautete »Verletzt!« und dagegen konnten die anderen nicht wirklich ankommen, zumindest nicht in den kommenden Wochen. Glücklich füllte er sich den Teller und Claire lehnte sich zurück und fühlte zum ersten Mal seit Tagen, dass ihre Anspannung ein wenig nachließ. Shane war Michael gegenüber sogar wieder freundlich, vor allem, nachdem sie ihm erzählt hatte, wie Michael zu ihrer Rettung geeilt war. Das zählte für Shane – mehr als alles andere.

Als es an der Haustür klopfte, erstarrten sie alle vier und Michael seufzte. »Okay, ich nehme an, jetzt bin ich an der Reihe, den Türöffner zu spielen.«

Claire schnappte sich ein wenig Fleisch von Shanes Teller. Er tat so, als würde er auf ihre Hand einstechen, was damit endete, dass er Claires Finger für sie ableckte, einen nach dem anderen.

»Okay, das ist jetzt entweder unappetitlich oder sexy, aber ich finde es unappetitlich, also lasst das«, sagte Eve. »Wenn ihr euch gegenseitig lecken wollt, dann geht auf eines von euren Zimmern.

»Gute Idee«, flüsterte Shane.

»Verletzt!«, schoss Claire spöttisch zurück. »Und außerdem dachte ich, du wolltest auf Nummer sicher gehen.«

»Mann, ich lebe in Morganville. Wie genau geht Auf-Nummersicher-Gehen?«

Michael kam mit einem sehr seltsamen Gesichtsausdruck über den Flur zurück. »Claire«, sagte er. »Ich glaube, du solltest mal kommen.«

Sie schob ihren Stuhl vom Tisch weg und folgte ihm. Er öffnete die Tür und trat beiseite.

Ihre Eltern standen auf der Schwelle.

»Mom! Dad!« Claire warf sich in ihre Arme. Es war bescheuert, bei ihrem Anblick so begeistert zu sein, aber einen Augenblick lang genoss sie es durch und durch, bescheuert zu sein.

Und dann packte sie plötzlich Furcht und sie wich zurück und sagte: »Was macht ihr hier?« Bitte sagt, dass ihr nur etwas vorbeibringt. Bitte.

Ihre Mutter trug eine gebügelte Jeans, ein gestärktes blaues Arbeitshemd und trotz der Sommerhitze eine Coldwater-Creek-Jacke. Sie sah bestürzt aus. »Wir wollten dich überraschen«, sagte sie. »Ist das nicht in Ordnung? Claire, du bist nun mal erst sechzehn...«

»Fast siebzehn«, seufzte Claire leise.

»Und es sollte wirklich möglich sein, dass wir vorbeikommen, um dich zu sehen und uns zu versichern, dass du gesund und glücklich bist, wenn wir das möchten.«

Claires Mom schenkte Michael ein zerstreutes, nervöses Lächeln. »Also gut. Um die Wahrheit zu sagen, haben wir uns Sorgen um dich gemacht, Liebes. Zuerst diese Probleme im Wohnheim, dann wurdest du angegriffen und bist im Krankenhaus gelandet – außerdem hat uns jemand von der Party erzählt.«

»Was?« Claire warf Michael einen finsteren Blick zu, aber er sah mindestens genauso überrascht aus wie sie selbst. »Wer hat euch das gesagt?«

»Ich weiß nicht. Eine E-Mail. Du weißt, dass ich mit diesen Dingern nicht klarkomme, jedenfalls kam sie von einer Freundin von dir.«

»Oh«, hauchte Claire, »das glaube ich kaum. Mom, hör mal, es war...«

»Sag nicht, dass da nichts war, Schatz«, unterbrach sie ihr Dad. »Ich habe darüber gelesen. Alkohol, Drogen, Schlägereien, Zerstörung von Eigentum. Kids, die Sex haben. Und auf dieser Party warst du, nicht wahr?«

»Ich … nein, Dad, nicht wie...«Sie konnte nicht lügen. »Ich war dort. Wir waren alle dort. Aber auf Shane wurde nicht bei der Party eingestochen, das passierte danach, auf dem Nachhauseweg.« Erst als sie das gesagt hatte, wurde ihr klar, dass keiner von ihnen Shane erwähnt hatte. Und jetzt war es zu spät, es zurückzunehmen.

»Auf ihn eingestochen?«, wiederholte ihre Mutter fassungslos und schlug die Hand vor den Mund. »Oh, das war es jetzt – das bringt das Fass endgültig zum Überlaufen!«

»Lass uns drinnen über alles reden«, sagte ihr Vater. Er sah jetzt finster aus. »Wir haben beschlossen, dass wir etwas ändern müssen.«

»Etwas ändern?«, wiederholte Claire.

»Wir ziehen um«, sagte er. »Wir haben ein schönes Haus auf der anderen Seite der Stadt gekauft. Sieht irgendwie ein bisschen wie das hier aus, vielleicht ein bisschen kleiner. Hat vielleicht sogar den gleichen Grundriss, glaube ich. Gut, dass wir das gemacht haben. Offenbar ist alles noch viel schlimmer, als wir angenommen hatten.«

»Ihr habt...«Sie hatte wohl nicht richtig gehört. »Hierherziehen? In diese Stadt? Das geht nicht! Ihr könnt nicht hierherziehen!«

»Oh Claire, ich hatte so gehofft, dass du dich freuen würdest«, sagte ihre Mom in diesem Tonfall, den Claire so fürchtete. Dieser Ich-bin-so-enttäuscht-von-dir-Tonfall. »Wir haben unser altes Haus bereits verkauft. Der Lastwagen mit den Möbeln sollte morgen hier ankommen. Oh« – sie wandte sich Claires Vater zu – »hast du daran gedacht...«

»Oh, um Himmels willen – ja«, murmelte er. »Was immer es war, ja, ich habe daran gedacht.«

»Also, du brauchst nicht gleich...«

»Mom!«, unterbrach Claire sie verzweifelt. »Ihr könnt nicht hierherziehen!«

Michael legte seine Hand auf ihre Schulter. »Nur einen Augenblick bitte«, sagte er zu ihren Eltern und zog Claire einige Schritte zurück. »Claire, nicht. Es ist ohnehin schon zu spät. Wenn der Rat sie nicht hätte hier haben wollen, wären sie nicht hier und sie hätten kein Haus der Gründerin. Wenn es aussieht wie dieses Haus und denselben Grundriss hat, ist es das nämlich, ein Haus der Gründerin. Das bedeutet, Amelie möchte, dass das passiert. Wahrscheinlich hat sie es sogar veranlasst.«

Dadurch fühlte sie sich auch nicht gerade besser. Sie zitterte inzwischen am ganzen Körper. »Aber es sind meine Eltern!«, flüsterte sie heftig. »Kannst du nicht etwas unternehmen?«

Er schaute sie düster an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich werde es versuchen. Aber jetzt machen wir besser gute Miene zum bösen Spiel, okay?«

Sie wollte nicht. Am liebsten hätte sie ihre Eltern hinaus zu ihrem Wagen geschleift und sie gezwungen, nach Hause zu fahren.

Wie konnte Amelie ihr das antun? Nein, das war klar. Es war so einfach: Ihre Eltern waren einfach nur ein weiteres Mittel, Claire dazu zu bringen, alles zu tun, was die Vampire von ihr verlangten. Und jetzt, wo sie so viel wusste, wo sie ihre einzige Hoffnung war, zusammen mit Myrnin an einem Heilmittel zu arbeiten, würden sie sie niemals gehen lassen.

»Hallo?«, rief Claires Mom. »Dürfen wir reinkommen?«

Michaels Gesichtsausdruck blieb weiterhin gelassen und freundlich. »Natürlich. Kommen Sie nur herein.« Weil es dunkel wurde.

Claires Mom und Dad traten über die Schwelle.

Als Michael gerade die Tür schließen wollte, verhinderte dies eine dritte Person, indem sie ihre Hand dazwischenschob und ebenfalls eintrat. Claire hatte keine Ahnung, wer das war. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen, sie war sich sicher, dass sie sich daran erinnert hätte. Er hatte dicke graue Haare, einen riesigen grauen Schnurrbart und riesige grüne Augen hinter einer dicken Brille im Stil der Fünfzigerjahre.

Michael erstarrte und Claire wusste sofort, dass etwas überhaupt nicht in Ordnung war.

»Oh«, sagte Claires Mutter, als hätte sie ihn ganz vergessen. »Das ist Mr Bishop. Wir haben ihn auf dem Weg hierher getroffen. Sein Auto war liegen geblieben.«

Mr Bishop lächelte und tippte sich an einen unsichtbaren Hut. »Danke für die freundliche Einladung, Ihr Haus zu betreten«, sagte er. Seine Stimme war unglaublich tief und sanft und hatte einen russischen Tonfall. »Auch wenn ich eigentlich keine gebraucht hätte.«

Weil er ein Vampir war.

Claire wich vorsichtig zurück. Michael sah aus, als könnte er sich überhaupt nicht mehr rühren, als Bishop sein Haus betrat.

»Ich möchte deine nette kleine Familie nicht aus dem Konzept bringen«, sagte Bishop mit leiserer Stimme und richtete seinen Blick auf Claire, »aber wenn Amelie nicht in einer halben Stunde hier ist, um mit mir zu sprechen, dann töte ich jeden, der in diesem Haus atmet.«

Claire schaute unwillkürlich nach ihren Eltern, aber sie gingen bereits den Flur entlang. Sie hatten es nicht gehört.

»Nein«, sagte Michael. »Sie werden niemanden anrühren. Das ist mein Haus. Sie verlassen es jetzt oder ich werde Ihnen wehtun.«

Bishop musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Gut gebrüllt, kleiner Löwe, aber deine Zähne lassen noch zu wünschen übrig. Hol Amelie.«

»Wer sind Sie?«, flüsterte Claire. Von dem alten Mann strömte Gefahr aus und verbreitete sich wie Nebel. Sie war beinahe greifbar.

»Sag ihr, dass ihr Vater zu Besuch gekommen ist«, sagte er und lächelte. »Sind Familienzusammenführungen nicht wunderbar?«

 

 

Ende - Haus der Vampire 03 - Rendezvouz mit einem Unbekannten