9

 

Michael sprach nicht mit ihr, und das war schlecht. Nicht dass er missmutig gewesen wäre, so wie Shane ab und zu, er war einfach nur in Gedanken versunken. Dadurch verlief die Fahrt unangenehm schweigsam. Draußen war es inzwischen vollkommen finster, auch wenn Claire durch die getönten Scheiben sowieso nichts erkennen konnte.

Die Welt erschien ihr nicht mehr real und sie hatte Kopfschmerzen.

»Das ist also der Deal, den du mit Amelie gemacht hast«, sagte Michael. »Für ihn zu arbeiten.«

»Nein. Ich machte den Deal mit Amelie und dann hat sie mir befohlen, für ihn zu arbeiten. Beziehungsweise von ihm zu lernen.«

»Besteht da ein Unterschied?«

Claire lächelte. »Ja. Ich werde nicht dafür bezahlt.«

»Brillant eingefädelt, du Genie. Bezahlt dich wenigstens irgendjemand dafür?«

Tatsächlich hatte sie keine Ahnung. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, Amelie um Geld zu bitten. War es üblich, dass man für so etwas bezahlt wurde? Sie glaubte schon, immerhin wurde von ihr erwartet, dass sie regelmäßig ihr Leben riskierte, wenn sie bei Myrnin war. »Ich werde mal nachfragen«, bot sie an.

»Nein«, sagte Michael grimmig. »Ich werde nachfragen. Sowieso wollte ich mit Amelie über diese ganze Angelegenheit mal sprechen.«

»Mach jetzt nicht einen auf großen Bruder, Michael. Das ist riskant. Du magst jetzt einer von ihnen sein, aber du bist nicht...«

»Einer von ihnen? Ja, ich weiß. Aber du bist viel zu jung für das alles, Claire, und du weißt nicht, was du tust. Du bist nicht in dieser Stadt aufgewachsen. Du begreifst die Risiken nicht.«

»Was, den Tod? Dieses Risiko verstehe ich nur allzu gut.« Sie fühlte sich erschöpft und alles tat ihr weh und außerdem war sie auf eine merkwürdige Art verärgert über Michaels Beschützerinstinkt. »Hör mal, mir geht es gut, okay? Außerdem habe ich heute eine Menge gelernt. Das wird sie glücklich machen, glaub mir.«

»Es ist nicht Amelies Stimmung, die mir Kopfzerbrechen bereitet«, sagte Michael. »Sondern du. Du veränderst dich, Claire.«

Sie schaute ihn direkt an. »Und du wohl nicht?«

»Das war jetzt unterste Schublade. Hör mal, ich habe die Nase voll davon, Shane mit Samthandschuhen anfassen zu müssen. Zwing mich nicht, mit dir genauso umzugehen.«

Ah, Michael war jetzt also auch angepisst. Na großartig.

»Weißt du, was? Ich werde aufhören, an deinem Leben herumzunörgeln, wenn du dich aus meinem heraushältst. Du bist weder mein Bruder noch mein Vater...«

»Nein«, unterbrach er sie. »Ich bin nur der Typ, der bestimmt, ob du weiterhin in seinem Haus wohnst.«

Das würde er nicht tun. Das durfte er einfach nicht. »Michael...«

»Du hast einen Deal mit Amelie gemacht, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, und dann hast du auch noch ein Geheimnis draus gemacht. Sieh mal, dass ich das Armband gesehen habe, war der einzige Grund, dass du uns überhaupt davon erzählt hast. Sonst würdest du uns immer noch belügen. Das macht aus dir nicht unbedingt die ideale Mitbewohnerin.«

Michael legte eine kleine Pause ein. »Und dann ist da auch noch Shane.«

»Was kann ich für Shane?«

»Nichts. Aber ich kann nicht mit euch beiden gleichzeitig zurechtkommen, zumindest nicht im Moment. Deshalb solltest du das wieder geradebiegen, Claire. Keine Lügen und keine Risiken mehr, in Ordnung? Ich werde Amelie davon überzeugen, dass sie dich von diesen Sitzungen mit Myrnin befreit. Du bist zu jung dafür, das sollte sie eigentlich wissen.«

Keine Lügen mehr. Keine Risiken. Claire bewegte sich, fühlte das Fläschchen in ihrer Tasche und diese perfekte Klarheit durchzuckte sie noch einmal. Sie fragte sich, was Michael wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass sie die Kristalle von Myrnin eingenommen hatte. Wahrscheinlich nichts. Er sprach davon, sie aus dem Haus zu werfen, oder? Deshalb wäre ihm das vermutlich total egal.

Das Auto wurde langsamer und bog ab, dann holperte es über eine zerfurchte Einfahrt. Zu Hause.

Claire rannte los, bevor Michael noch etwas zu ihr sagen konnte.

Shane war in der Küche und schenkte sich gerade ein Bier ein. Er prostete ihr schweigend zu, nahm einen Schluck und machte eine Kopfbewegung zu einem Topf auf dem Herd hin. »Chili«, sagte er. »Extra viel Knoblauch.«

Michael, der gerade die Küchentür zumachte, seufzte. »Wann wird das endlich aufhören?«

»Wann wirst du aufhören, Blut zu saugen?«

»Shane...«

»Jetzt werd nicht sauer. Deines habe ich ohne Knoblauch gemacht.« Shane schaute Claire an und runzelte ein wenig die Stirn. »Alles okay?«

»Klar. Warum auch nicht?«

»Es ist nur – ich weiß auch nicht. Egal.« Er legte ihr den Arm um die Schulter und küsste sie auf die Stirn. »Das ist wohl einfach ein schlechter Tag.«

Mal sehen – sie war von Eves Bruder bedroht und am Handgelenk verletzt worden und hatte dann stundenlang mit Myrnin Katz und Maus gespielt. Ging das in Morganville als schlechter Tag durch? Wohl kaum. Schließlich gab es keine Todesopfer.

Jedenfalls bisher.

Michael drängte sich an ihnen vorbei und durch die Tür ins Wohnzimmer. Claire befreite sich aus Shanes Arm und ging zum Herd, um sich eine Schale Chili zu nehmen. Es roch scharf und köstlich. Aber vor allem scharf. Sie kostete einen Tropfen und hätte sich fast verschluckt. Hatte es schon immer so heimtückisch gebrannt wie flüssige Lava? Ihr ganzer Gaumen fühlte sich wund an. Sie nahm an, dass das eine Nebenwirkung der Kristalle war.

»Ich dachte, ich hätte dich gehört«, sagte Shane. »Total verrückt, ich dachte heute, ich hätte deine Stimme gehört. Einfach so aus heiterem Himmel. Ich dachte, du...ich musste dauernd an Michael denken, wie er früher während des Tages...«

Als er ein Geist war. »Du dachtest, ich sei...?«

»Ich dachte, vielleicht ist etwas passiert«, sagte er. »Ich hab dich auf deinem Handy angerufen, auf dem neuen.«

Sie hatte es in ihrem Rucksack gelassen. Claire griff danach, machte den Reißverschluss auf und überprüfte das Handy. Drei Anrufe von Shane. Mit Nachricht auf der Mailbox. »Sorry«, sagte sie. »Ich habe es nicht gehört. Ich muss wohl den Klingelton lauter stellen.«

Er schaute sie ununterbrochen an und sie fühlte, wie der kalte Fleck in ihrem Inneren, die Stelle, die eiskalt geworden war, als sie bei Myrnin war, sich allmählich aufwärmte. »Du machst mir Sorgen«, sagte er und legte seine Hand auf ihre Wange. »Das weißt du, oder?«

Sie nickte und umarmte ihn. Anders als Myrnin war er warm und fest, und sein Körper schmiegte sich perfekt und herrlich um ihren. Als er sie küsste, schmeckte sie Bier und Chili, aber nur ganz kurz. Danach schmeckte er nur noch nach Shane und sie vergaß Myrnin und alles, was mit Physik zu tun hatte, außer der Reibungskraft. Shane drängte sie gegen den Herd. Sie fühlte die schwache Hitze der Flamme in ihrem Rücken, aber sie war zu beschäftigt, um sich Gedanken darum zu machen, sie könnte durch eine externe Hitzequelle Feuer fangen. Shane hatte einfach diese Wirkung auf sie.

»Ich habe dich vermisst«, sagte er und strich mit seinen Lippen über ihre. »Sollen wir nach oben gehen?«

»Was ist mit meinem Chili?«

»Nimm es mit.«

Sie beschloss, dass es auch sein Gutes hatte, wie sie sich heute fühlte. Ihre Nerven lagen zwar blank, aber seine Berührungen fühlten sich dafür umso zärtlicher an. Normalerweise hätte sie sich unbeholfen, ängstlich und unsicher gefühlt, aber so wie es aussah, hatte der Nachmittag, der mit Jason begonnen und mit Myrnins Zähnefletschen geendet hatte, das alles aus ihr herausgebrannt.

»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie atemlos. »Komm.«

Sie fühlte sich wild und frei wie ein kleines Kind, als sie mit Shane in einer heißen Verfolgungsjagd die Treppe hinaufrannte, und als er sie an der Taille packte, sie in sein Zimmer hineinzog und der Tür einen Tritt gab, kreischte sie vor Entzücken. Sie schmiegte sich an seinen warmen, kräftigen Körper und küsste ihn erneut atemlos und überglücklich.

Er küsste sie, als ginge es um ihr Leben. Als wäre es eine olympische Disziplin und er wollte die Medaille gewinnen. Irgendwo in ihrem Hinterkopf sprach sie mit sich selbst, warnte sie sich, dass dies zu weit führen könnte, dass sie alles nur noch schlimmer machen würde für sie beide, aber sie konnte nicht anders. Es dauerte nicht lange und sie lagen ausgestreckt auf Shanes Bett und seine großen, warmen Hände spielten unter dem Saum ihres T-Shirts, streichelten die bebende Haut ihres Bauches und raubten ihr den Atem. Als er seine Finger ausstreckte und seine Handfläche gegen sie drückte, war es um sie geschehen und sie fühlte den beinahe unwiderstehlichen Impuls, diese Hände überall spüren zu wollen. Auf ihrem ganzen Körper. Ihr Herz klopfte so heftig, dass ihr schwindlig wurde, und alles war so...

Perfekt.

Sie fasste nach unten und zog ihr Shirt hoch. Ganz langsam. Dabei fühlte sie, wie die kühle Luft über ihre zarte Haut strich.

Nach oben, bis zum unteren Abschluss ihres BHs. Dann weiter.

Shane hielt inne.

»Ich möchte es«, flüsterte sie in seinen Mund. »Bitte, Shane. Ich möchte es.« Sie setzte sich auf, griff nach dem Verschluss ihres BHs und öffnete die Häkchen. »Bitte.«

Er zog sich von ihr zurück und setzte sich mit gesenktem Kopf auf. Als er aufsah, leckte er sich die Lippen und seine Augen waren groß und dunkel. Sie hätte sich am liebsten in sie hineinfallen lassen, für immer.

»Ich weiß«, sagte er. »Ich auch. Aber ich habe ein paar Versprechen abgegeben und die werde ich halten. Vor allem das, das ich deinen Eltern gab, weil dein Dad gedroht hat, er würde mich zur Strecke bringen wie einen Hund.« Shane schenkte ihr ein wildes, bitteres Lächeln.

»Ich wünschte, es wäre anders.«

»Aber...«Sie fühlte, wie ihr BH rutschte, und griff rasch danach, um ihn oben zu halten. Plötzlich kam sie sich lächerlich und verletzt vor.

Er seufzte. »Nicht, Claire. Es ist ja nicht so, dass ich ein Heiliger bin oder so was. Das bin ich nicht und glaub mir, für dich würde selbst ein Heiliger ein Kondom kaufen und hinterher zur Beichte gehen. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich mein Wort halte, und hier in der Gegend ist mein Wort alles, was ich habe.«

Sie wollte ihn so sehr, dass es sie rasend machte, das war eigentlich gar nicht ihre Art. Aber wie er sie so ansah, ihr direkt in die Augen schaute, fiel die Raserei irgendwie von ihr ab und sie verstand ihn.

»Außerdem«, sagte Shane, »sind mir die Kondome ausgegangen und ich hasse es, beichten zu gehen.«

Er legte den Arm um sie und hakte ihren BH mit einer Leichtigkeit wieder ein, die zeigte, dass er einiges an Übung hatte.

Sie warf ein Kissen nach ihm.

***

Jemand wühlte draußen herum.

Claire schreckte aus dem Schlaf auf und hörte, in der Ferne das Klappern von Metall. Sie rollte sich aus dem Bett und linste durch die Jalousien. Ihr Schlafzimmerfenster lag hinten, ein herrlicher Aussichtspunkt an der Ecke, und sie hatte freie Sicht auf den Zaun und die Mülltonnen auf der anderen Seite.

Da draußen war definitiv jemand, ein schwarzer Schatten im Mondlicht. Claire konnte sehen, wie er sich bewegte, konnte aber nicht sagen, was er tat. Sie griff nach ihrem Handy, wählte 911 und bat die Vermittlung, sie mit Joe Hess oder Travis Lowe zu verbinden. Detective Lowe nahm den Anruf an, selbst um drei Uhr morgens klang er hellwach. Claire beschrieb ihm flüsternd, was sie beobachtete, als würde, wer immer auf der anderen Seite des Hofes war, sie hören können.

»Wahrscheinlich ist es Jason«, sagte sie. Sie hörte, wie am anderen Ende der Leitung ein Stift über Papier kratzte.

»Warum Jason. Kannst du sein Gesicht sehen?«

»Nein«, gab sie zu, »aber Jason hat zu mir gesagt – er hat es praktisch zugegeben. Wegen des toten Mädchens. Ich glaube, es ist Jason, ehrlich.«

»Hat er dich bedroht, Claire?«

Der Schnitt an ihrem Handgelenk pochte noch immer. »Ich glaube, so könnte man das sagen«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen davon erzählen, aber ich... ich hatte zu tun.«

»Wichtigeres, als uns auf dem Laufenden zu halten? Schon gut. Was ist passiert?«

»Soll ich Ihnen das nicht lieber erzählen, wenn Sie hier sind?«

»Streifenwagen ist schon unterwegs. Wo hast du ihn heute gesehen?«

»An der Universität«, sagte sie und erzählte ihm die Geschichte. Er unterbrach sie nicht und ließ sie einfach reden. Sie konnte hören, wie er sich weiterhin Notizen machte.

Als sie Pause machte, um Luft zu holen, sagte Lowe: »Du weißt, dass das dumm war, oder? Hör mal, wenn du ihn das nächste Mal siehst, fängst du an zu schreien, so laut du kannst. Und stell Hess und mich auf Kurzwahl ein. Mit Jason ist nicht zu spaßen.«

»Aber – wir waren in der Öffentlichkeit. Er würde nicht...«

»Dann frag mal Eve, warum er überhaupt erst im Gefängnis gelandet ist, Claire. Zögere beim nächsten Mal keine Sekunde. Es geht nicht darum, stark zu sein, sondern darum, den Tag zu überleben, verstanden? Vertrau mir.«

Sie schluckte hart. »Das tue ich.«

»Ist er immer noch da?«

»Ich weiß nicht, ich kann ihn nicht sehen. Vielleicht ist er weg.«

»Der Streifenwagen müsste jeden Augenblick da sein, sie schleichen sich leise an. Siehst du sie schon?«

»Nein, aber mein Zimmer geht nach hinten raus, auf die kleine Gasse.« Im Hof bewegte sich etwas und pures Adrenalin schoss ihr in die Adern. »Ich glaube...ich glaube er ist jetzt im Hof. Er kommt zum Haus. Von hinten.«

»Geh Michael und Shane aufwecken. Schau nach, ob bei Eve alles okay ist. Geh schon, Claire.«

Sie war nicht angezogen, aber sie fand, dass das jetzt keine Rolle spielte. Das übergroße T-Shirt, das sie anhatte, reichte ihr sowieso bis zum Knie. Sie schloss ihre Tür auf, öffnete sie und fing vor Schreck an zu schreien.

Zumindest versuchte sie das. Sie brachte den Ton nicht so richtig heraus, weil sich Olivers Hand über ihren Mund legte. Er wirbelte sie herum und schleppte sie zurück über die Schwelle. Sie schrie, aber es war kaum ein Summen in ihrer Kehle. Ihre nackten Fersen schrammten über das Holz, als sie versuchte, die Füße zu sich heranzuziehen, aber er sorgte dafür, dass sie weiterhin hilflos und aus dem Gleichgewicht war. Sie ließ das Handy fallen.

In der Ferne konnte sie Lowes Stimme hören, die ihren Namen flüsterte, aber sie wurde von Olivers leiser Stimme an ihrem Ohr überdeckt, als er sich zu ihr beugte und sagte: »Ich möchte nur mit dir reden. Bring mich nicht dazu, dir wehzutun, Mädchen. Du weißt, dass ich das tun werde, wenn du mich dazu zwingst.«

Sie hielt den Mund und atmete schwer. War er draußen im Hof gewesen? Wie war er so schnell hier heraufgekommen? Hielten ihn die Schutzvorkehrungen des Hauses nicht ab?

Nein, sie funktionieren jetzt nur für uneingeladene Menschen, weil Michael... weil Michael jetzt ein Vampir ist. Oliver konnte jetzt ganz einfach aus und ein gehen. Oh Gott.

»Braves Mädchen. Bleib ruhig«, flüsterte Oliver. Er schaute den Flur hinauf und hinunter, verschob das Gemälde neben der Tür und drückte auf den versteckten Knopf. Der geheime Durchgang gegenüber Eves Zimmer öffnete sich mit einem leisen Ächzen, er zerrte sie hinein und machte die Tür hinter ihnen zu. Kein Knopf an der Innenseite. Der Schalter zum Öffnen war eine Treppe höher und er würde verhindern, dass sie dort hinkam, wenn sie versuchen würde zu rennen. Als er sie losließ, blieb Claire, wo sie war.

Seine Stimme kehrte zu ihrer normalen Lautstärke zurück. Er befürchtete nicht, dass man ihn hören könnte, nicht hier. »Ich dachte, es sei an der Zeit, dass wir uns mal unterhalten. Du hast ein Abkommen mit Amelie unterzeichnet. Das verletzt mich, Claire. Ich dachte, unsere Freundschaft wäre etwas ganz Besonderes, und außerdem hatte ich dir dieses Angebot zuerst gemacht.« Oliver lächelte sie an, es war dieses kalte und doch seltsam gütige Lächeln, auf das sie die ersten Male, als sie sich begegneten, hereingefallen war. »Du hast mich abgewiesen. Deshalb frage ich mich, warum du beschlossen hast, dass Amelie die bessere Wahl ist.«

Möglicherweise wusste er über Myrnin Bescheid, aber sicher nicht darüber, was Myrnin tat. Amelie war da ziemlich bestimmt gewesen: Er konnte das auf keinen Fall wissen.

»Sie riecht besser«, sagte Claire. »Und sie hat Kekse für mich gebacken.« Irgendwie erschien ihr Oliver nach dem Tag, den sie erlebt hatte, einfach nicht mehr besonders furchterregend.

Bis er seine Vampirzähne entblößte und sich seine Augenfarbe in ein seltsames, tiefes Schwarz verwandelte. »Lass die Spielchen«, sagte er. »Das Zimmer ist schalldicht. Amelie pflegte hier mit ihren Opfern zu spielen, weißt du? Es ist eine Todesfalle und du sitzt mittendrin. Deshalb solltest du vielleicht ein wenig höflicher sein, wenn du den Morgen noch erleben willst.«

Claire hielt ihm ihr linkes Handgelenk hin. Das goldene Armband schimmerte im Licht. »Beißen Sie sich die Zähne daran aus, Oliver. Sie können mich nicht anrühren. Niemanden in diesem Haus können Sie anrühren. Ich habe keine Ahnung, wie Sie hereingekommen sind, aber...«

Er griff nach ihrem rechten Handgelenk und riss den Verband von dem Schnitt ab, den Jason ihr zugefügt hatte. Die Wunde brach auf und ein rotes Rinnsal floss von dort über die Innenseite ihres Armes.

Oliver leckte es ab.

»Okay, das ist jetzt einfach widerlich«, sagte Claire schwach. »Lassen Sie los. Lassen Sie mich los!«

»Du gehörst Amelie«, sagte er und ließ sie los. »Ich kann es schmecken. Du riechst danach. Du hast recht, ich kann dich nicht anrühren, nicht mehr. Aber was die anderen angeht, täuschst du dich. Solange sie im Haus sind, sind sie sicher, aber dort draußen sind sie das nicht, nicht in meiner Stadt. Nicht für lange.«

»Ich habe einen Deal!«

»So, hast du? Hast du schwarz auf weiß gesehen, dass deine Freunde vor allen Angriffen geschützt sind? Denn das bezweifle ich sehr, kleine Claire. Wir verfassen schon seit Tausenden von Jahren Abkommen und du bist erst sechzehn. Du hast keine Ahnung, was für eine Art von Abkommen du getroffen hast.« Oliver hörte sich an, als täte sie ihm tatsächlich ein wenig leid, und das war beängstigend. Mit verschränkten Armen lehnte er an der Tür. Er hatte heute wieder seine übliche Netter-Typ-Verkleidung an: Er trug ein gebatiktes T-Shirt und eine ausgebeulte Cargohose. Sein ergrauendes, lockiges Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Wahrscheinlich hatte er gerade das Common Grounds zugemacht, schätzte sie. Er roch nach Kaffee. Sie fragte sich, was Oliver an seinen freien Tagen anhatte, wenn er nicht gerade wieder jemanden einschüchterte. Pyjama? Plüschpantoffeln? Eines hatte sie über die Vampire von Morganville herausgefunden: Sie waren nie genau das, was sie zu sein schienen – nicht einmal die ganz schlimmen.

»Schön«, sagte sie und wich vor ihm zurück, bis sie an ihren Fersen die erste Treppenstufe spürte. Sie setzte sich hin. »Sagen Sie mir, was ich verbrochen habe.«

»Du hast das Machtgefüge dieser Stadt aus dem Gleichgewicht gebracht, und das ist eine schlimme Sache, kleine Claire. Verstehst du, Amelie hatte vor, Königin in diesem kleinen Königreich zu werden. Sie dachte damals, ich sei ganz sicher tot. Als ich vor einem Jahr hierherkam, beschlossen viele Leute, dass sie besser mir gehorchten als ihr. Nicht alle natürlich, nicht einmal eine Mehrheit. Aber sie hat sich in ihrem langen Dasein keine wirklichen Freunde gemacht und es sind nicht nur die Menschen, die hier festsitzen, weißt du? Es sind auch die Vampire.«

Das war ihr neu. »Wovon sprechen Sie eigentlich?«

»Wir können nicht weggehen«, sagte er. »Nicht ohne ihre Erlaubnis. Wie ich schon sagte, hält sie sich selbst für die kalte Weiße Königin und die meisten begnügen sich damit, sie gewähren zu lassen. Nicht alle. Ich habe daran gearbeitet, irgendwelche... Arrangements mit ihr zu treffen, damit eine Gruppe von uns Morganville verlassen kann und eine Gemeinde außerhalb ihres Einflussbereichs gründen kann. In den letzten fünfzig Jahren, seit sie den letzten Vampir erschaffen hat, hat sich hier überhaupt nichts verändert. Jetzt spürt Amelie die Notwendigkeit, ihre Stellung zu behaupten. Sie blockiert mich. Sie wird mir nicht erlauben, auch nur einen Schritt ohne ihre Zustimmung zu machen.« Er senkte sein Kinn und starrte sie an. Tief in ihrem Inneren begann sie zu frieren. »Ich werde nicht gern kontrolliert. Ich neige dann dazu... unglücklich zu werden.«

»Warum sprechen Sie mit mir darüber? Was kann ich dafür?« »Du bist ihr Liebling, du törichtes kleines Mädchen. Wenn du etwas willst, verhätschelt sie dich. Und ich will wissen, warum.«

Amelie hatte sie nicht gerade verhätschelt, als sie sich das letzte Mal gesprochen hatten, aber das Handy, das sie in ihrem Zimmer zurückgelassen hatte, sprach vielleicht eine andere Sprache. »Ich weiß es nicht!«

»Sie glaubt, du hast etwas, was sie braucht, sonst würde sie sich wohl kaum um dich scheren. Sie hat zugesehen, wie ganze Städte starben, ohne auch nur eine Träne zu vergießen oder einen Finger zu rühren. Nächstenliebe ist es also wohl kaum.«

Myrnin. Es geht um Myrnin. Wenn ich nicht bei ihm lernen würde … Das konnte sie nicht zu ihm sagen, sie wagte nicht einmal, daran zu denken. Oliver war nervtötend und manchmal schien er geradezu geistesgestört. »Vielleicht ist sie einsam.«

Sein Lachen klang wie ein harsches, freudloses Bellen. »Das hat sie sicherlich verdient.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Sag mir, warum sie dich braucht, Claire. Sag mir, was sie verbirgt, und ich mache einen Deal, einen absolut aufrichtigen: Ich werde deinen Freunden meinen direkten Schutz gewähren. Niemand wird ihnen etwas tun.«

Dieses Mal sagte sie nichts; sie schaute ihn nur ebenfalls an. Sie traute sich nicht, ihn nicht anzuschauen. Selbst wenn sie ihn beobachtete, hatte sie das unheimliche Gefühl, dass er sich irgendwie von hinten anschlich, bereit, ihr etwas Schreckliches anzutun, wenn sie es am wenigsten erwartete.

Oliver gab einen tief enttäuschten Laut von sich. »Du dummes, dummes Mädchen.« Er drängelte sich an ihr vorbei und ging so leichtfüßig die Treppe hinunter, dass sie kaum knarrte. Einen Augenblick später öffnete sich die versteckte, knauflose Tür mit einem Seufzer. Claire stand auf, brauchte einen Moment, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte, und ging dann in den Flur hinaus. Niemand hatte irgendetwas gehört. Es herrschte Grabesstille.

Olivers Hand schloss sich um ihre Schulter und er bewegte sie aus dem Weg, indem er sie einfach hochhob und wegstellte, als wöge sie überhaupt nichts. Als er damit fertig war, ließ er sie noch nicht sofort los. Stattdessen trat er hinter sie, beugte sich vor und flüsterte: »Kein Laut, Claire. Wenn du deine Freunde weckst und sie sich gegen mich wenden, werde ich euch alle zerstören. Verstanden?«

Sie nickte.

Sie fühlte, wie der Druck seiner kalten Hände verschwand. Olivers Präsenz blieb jedoch und sie war überrascht, als sie sich umwandte und sah, dass er weg war.

Als wäre er gar nicht da gewesen.

Sie drückte auf den Knopf hinter dem Gemälde und die verborgene Tür versiegelte sich. Dann hob sie das Handy vom Fußboden ihres Schlafzimmers auf. Der Anruf war beendet. Travis Lowe war vermutlich mit heulenden Sirenen auf dem Weg hierher.

Sie setzte sich und wartete darauf, dass der Zirkus losging.

***

Angesichts der Reaktion musste einfach etwas da draußen hinterm Haus passiert sein. Es waren nicht nur eine paar Cops, ein paar gelbe Absperrbänder und ein Bericht in Captain Durchblicks Untergrundzeitung. Von Claires Fenster aus sah es eher wie ein ausgewachsener, CSI-mäßiger Einsatz aus, bei dem Leute in weißen Overalls Beweisstücke einsammelten und alles, was dazugehört. Ein großer, klobiger Lieferwagen mit stark getönten Scheiben stand auch dort, vermutlich für Vamp-Detectives oder Forensikexperten. An seiner Seite war das Emblem der Polizei von Morganville abgebildet und sie schätzte, dass die meisten Leute, die an diesem Morgen in Michaels Hinterhof herumspazierten, Untote waren.

Untote, die einen Kriminalfall lösten. Etwas ganz Neues.

Sie konnte nicht einmal mehr sagen, wie sie sich fühlte. Benommen, fern jeder Realität und wie betrunken. Der vergangene Abend hatte sich wie ein Traum angefühlt und die Zeit war wie im Flug vergangen von dem Moment, in dem sie mit Shane nach oben gegangen war bis zu dem Klappern der Mülltonnen hinter dem Haus.

Jemand klingelte unten an der Tür. Sie bewegte sich nicht vom Fenster weg – irgendwie brachte sie es scheinbar nicht fertig, sich überhaupt zu bewegen. Wahrscheinlich waren es die Cops. Travis Lowe war, wie sie schon vermutet hatte, zu ihrer Rettung geeilt, aber als er sie ohne Vampirzahnabdrücke und noch am Leben vorgefunden hatte, hatte er das komplette Einsatzkommando hierherbestellt. Deshalb waren das vermutlich die Detectives Gretchen und Hans oder eventuell Richard Morrell, die kamen, um ihre Aussage aufzunehmen.

Claire schaute an sich hinunter. Sie sollte sich wohl besser anziehen. Ihr Handgelenk sah grässlich aus, es blutete immer noch ein bisschen und bevor sie darüber nachdachte, was sie da tat, presste sie ihr T-Shirt darauf. Großartig, jetzt war sie nicht nur nicht angezogen, sondern nicht angezogen mit einem blutverschmierten Nachthemd.

Sie brauchte zehn Minuten, um zu duschen, sich anzuziehen und den Arm zu verbinden, dann tappte sie barfuß die Treppe hinunter, um sich in das Spektakel zu stürzen.

Ihre Mitbewohner standen im Wohnzimmer und alle schauten sie mit der gleichen Miene an, die so ausdruckslos war, dass sie auf der Treppe stehen blieb. »Was?«, fragte Claire. »Was habe ich jetzt schon wieder angestellt?«

Michael trat beiseite, sodass sie sehen konnte, wer im Schneidersitz im Sessel saß und in einer kaugummirosa Ausgabe von Teen People blätterte.

Monica Morrell.

Sie trug ein eng sitzendes Oberteil, auf dem »Bitch/Princess« in Glitzersteinchen stand, und weiße Shorts, die selbst Lindsey Lohan als zu trashig verworfen hätte. Sie war tiefbraun und von ihren perfekt manikürten Zehen baumelte träge ein pinkfarbener Flipflop, auf dem eine gelbe Blume prangte.

»Hi, Claire!«, sagte sie und stand auf. »Ich dachte mir, wir könnten zusammen frühstücken.«

»Ich... was?«

»Früh...stück«, sagte Monica und schrieb das Wort in die Luft. »Wichtigste Mahlzeit am Tag? Hast du eigentlich überhaupt so etwas wie Eltern?«

Claire fühlte sich auf lächerliche Weise aus dem Gleichgewicht gebracht. »Ich verstehe nicht. Was machst du hier?«

Shane lehnte an der Wand und glotzte Monica an. Seinem Haar war anzusehen, dass er gerade aufgestanden war, und Claire wollte ihm mit der Hand durch seine dicke, weiche Mähne streichen und sie in den üblichen strubbligen Wirrwarr zurückverwandeln. »Was für eine gute Frage. Die zweitbeste Frage lautet: Wer hat sie hereingelassen? Und wir werden wohl den Sessel wegwerfen müssen. Den Geruch kriegen wir da nie wieder raus.«

»Ich habe sie hereingelassen«, sagte Michael ruhig, woraufhin Shane ihn anstarrte. »Lass stecken. Besser, als wenn sie draußen auf der Veranda eine Szene gemacht hätte mit all den Cops darum herum. Wir haben ohnehin schon genug Probleme.«

»Was heißt da wir, Bleichgesicht? Ich meine das im Sinne von Vampir, nicht...«

»Halt die Klappe, Mann.«

Claire rieb sich die Stirn, weil sie spürte, dass ihre Kopfschmerzen heiß und hämmernd zurückkehrten. Mühsam ignorierte sie Michael und Shane und konzentrierte sich auf Monica, deren Lippen ein boshaftes Lächeln umspielte. »Du genießt das wohl«, sagte Claire. Monica zuckte die Schultern.

»Klar. Sie sind normalerweise total fies zu mir, deshalb ist es schön, wenn sie es sich zur Abwechslung mal gegenseitig reindrücken. Nicht dass mir das etwas ausmachen würde.« Monica zog eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen hoch. »Also? Ich weiß, dass du Kaffee magst. Ich habe dich schon welchen trinken sehen.«

Eve trat zwischen sie und einen Augenblick lang fand Claire, dass ihre Freundin richtig... gefährlich aussah. »Du nimmst Claire nirgendwohin mit. Und ganz sicher gehst du mit ihr nicht auch nur in die Nähe dieses Hurensohnes«, sagte sie.

»Welchen Hurensohn meinst du jetzt konkret? Denn, hey, sie wohnt hier. Es ist ja nicht so, dass sie besonders wählerisch ist, mit wem sie abhängt.«

Eve ballte die Hand zur Faust und einen kurzen Moment lang dachte Claire, sie würde ausholen und Monica direkt auf ihren perfekten Schmollmund schlagen. Aber Eve beherrschte sich. Gerade noch so.

»Du musst jetzt dringend unser Haus verlassen«, sagte Eve. »Sofort. Bevor etwas passiert, was ich nicht wirklich bedauern würde.«

Monica warf ihr einen finsteren Blick zu. »Entschuldige, hast du was gesagt? Ich muss wohl kurz abgedriftet sein. Claire? Ich bin nicht hier, um mit Debilen zu scherzen. Ich versuche nur, freundlich zu sein. Sag einfach Bescheid, wenn du nicht mitkommen möchtest.«

Claire war lächerlicherweise nach Lachen zumute, es war so verrückt. Warum passierte ihr das alles?

»Was willst du wirklich hier?«, fragte sie und Monicas hübsche, verrückte Augen weiteten sich. Nur ein winziges bisschen.

»Ich möchte mit dir reden, ohne dass mir dabei dieser ganze Loser-Verein im Nacken sitzt. Ich dachte mir, wir könnten frühstücken, aber wenn du eine Koffein- und Gebäckallergie hast...«

»Was immer du mir erzählen möchtest, kannst du mir auch vor meinen Freunden sagen«, sagte Claire. Woraufhin beide Augenbrauen nach oben schnellten.

»Oooooookay. Das ist deine Beerdigung«, sagte sie und schaute Shane an. »Wo war dein Freund gestern nach Mitternacht?«

»Wer? Shane?« Wann hatte sie überhaupt sein Zimmer verlassen? Spät. Aber... nicht nach Mitternacht.

»Es geht dich einen verdammten Dreck an, wo ich war«, sagte Shane zu Monica. »Eve sagt, du sollst verschwinden. Der nächste Schritt ist, dass ich deinen schmuddligen Hintern rauswerfe und schaue, ob er aufhüpft, wenn du auf die Veranda aufschlägst. Es ist mir egal, wessen Liebling du bist. Du kannst nicht hierherkommen und...«

»Shane«, unterbrach ihn Monica seelenruhig, »halt verdammt noch mal die Klappe. Ich habe dich gesehen, du Idiot.«

Claire wartete darauf, dass Shane ihr einen beißenden Kommentar zurückgab, aber er saß einfach nur da. Abwartend. Seine Augen waren sehr dunkel geworden.

»Sie wissen nichts davon, oder?«, fuhr Monica fort und klopfte mit der aufgerollten Ausgabe von Teen People gegen ihre Hüfte. »Wow. Ein Schocker. Bad Boy hat Geheimnisse. Das passiert ja sonst nie.«

»Halt die Klappe, Monica.«

»Sonst tust du was? Mich umbringen?« Sie lächelte. »Dann wäre noch nicht mal mehr DNA von dir übrig, wenn sie mit dir fertig wären, Shane. Und von euch anderen auch. Und von euren Familien.«

»Wovon redet sie eigentlich?«, fragte Eve. »Shane?«

»Nichts.«

»Nichts«, äffte Monica ihn nach. »Alles abstreiten. Ein brillanter Plan. Aber eigentlich habe ich das von jemandem wie dir nicht anders erwartet.«

Michael schaute Shane jetzt finster an und Claire konnte auch nicht widerstehen. Shanes dunkle Augen wanderten von einem zum anderen, zuletzt zu Claire.

»Die Cops werden da draußen hinter dem Haus keine Leichen finden. Und auch nirgendwo sonst in eurem Haus«, sagte Monica, »weil Shane letzte Nacht eine Leiche durch die Hintertür hinausgeschleppt hat.«

Shane sagte noch immer nichts. Claire schlug die Hand vor den Mund. »Nein«, sagte sie. »Du lügst.«

Monica verschränkte die Arme. »Warum genau sollte ich das tun? Warum sollte ich zugeben, dass ich euer Haus beobachte, wenn es nicht unbedingt nötig wäre? Peinlich! Hör mal, wenn ich lüge, braucht er es doch nur abzustreiten. Frag ihn. Nun mach schon.« Sie starrte Shane unverhohlen an. Shanes Augen wurden schmal, aber er sagte nichts. Eine lähmende Sekunde lang rührte sich keiner, dann sagte Michael: »Um Himmels willen, Shane, was ist los, verdammt noch mal?«

»Halt die Klappe!«, blaffte Shane. »Ich musste es tun! Ich dachte, ich hätte etwas im Keller gehört letzte Nacht, als ich mir in der Küche etwas Wasser holte. Also ging ich runter, um nachzusehen. Und...«Er hielt inne und Claire sah, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, als er schwer schluckte. »Sie lag tot da unten. Am Fuß der Treppe, so als hätte sie jemand einfach...hinuntergeworfen. Einen Moment lang dachte ich, es wäre...« – er blickte Eve an und schaute dann wieder weg – »ich dachte, das wärst du. Ich dachte, du wärst vielleicht gestolpert und die Treppe hinuntergefallen oder so. Aber als ich nach unten ging, sah ich, dass es nicht du warst. Und dass sie tot war, nicht nur bewusstlos.«

Eve ließ sich auf die Sofalehne sinken und sah so betäubt aus, wie Claire sich fühlte. »Wer? Wer war es?«

»Ich habe sie nicht erkannt. Irgendein Mädchen vom College, nehme ich an. Sie sah nicht aus, als wäre sie von hier, und sie trug kein Armband.« Shane sog hörbar die Luft ein. »Schau mal, ich habe auch so schon genug Probleme. Ich musste sie loswerden. Deshalb wickelte ich sie in eine der Decken aus den Schachteln dort unten und trug sie hinaus. Ich habe sie in den Kofferraum deines Wagens gelegt...«

»Du hast was?«, fauchte Michael.

»Und ich hab sie zur Kirche gefahren. Dort habe ich sie dann gelassen, innen in der Kirche. Ich wollte sie nicht einfach...irgendwohin werfen. Ich dachte...« – Shane schüttelte den Kopf – »ich hielt es für das Richtige.«

Monica seufzte. Übertrieben gelangweilt betrachtete sie ihre Fingernägel. »Jaja, total rührend. Der Punkt ist, ich habe gesehen wie du ein totes Mädchen in den Kofferraum seines Wagens gehievt hast. Und ich kann es kaum erwarten, das meinem Bruder zu erzählen. Ihr kennt meinen Bruder, oder? Den Cop?«

Unglaublich. »Was willst du?«, schrie Claire sie praktisch an.

»Habe ich doch schon gesagt. Frühstück.« Monica schenkte ihr ein strahlendes Filmstar-Lächeln. »Bitte. Wenn du Ja sagst, könnte ich glatt vergessen, was ich gesehen habe. Vor allem weil ich, ihr wisst schon, nach der Ausgangssperre noch draußen war und ich nicht will, dass mich jemand fragt, warum. Sozusagen gegenseitig zugesicherte Zerstörung.«

Es klang wie ein Deal, nur dass es eigentlich keiner war. Monica hatte alle Trümpfe in der Hand und sie hatten keinen. Keinen einzigen.

»Es ist also keine Leiche in der Gasse hinterm Haus«, sagte Claire. »Und die Polizei wird nichts finden. Bist du dir da sicher?«

»Ich denke nicht, dass sie etwas finden werden, aber wäre es nicht ärgerlich für euch, wenn doch?« Monica zuckte die Achseln, verzog die Lippen und warf Shane spöttisch ein Küsschen zu. »Du traust dich was, Shane. Kein Hirn, aber eine ganze Menge Mut. Du hast darüber nachgedacht, nicht war? Jetzt, wo Michael einer der auserwählten Untoten ist, können keine Menschen ohne Einladung in dieses Haus kommen. Deshalb musst du es entweder auf einen Vampir schieben oder der Tatsache ins Auge blicken, dass jemand von euch sie umgebracht hat. Wie auch immer, es wird nicht gut ausgehen und einer wird hopsgehen.« Sie hob die Hand. »Ich bin dafür, dass es Shane ist. Jemand anderer Meinung?«

»Lass ihn in Frieden«, sagte Claire scharf. »Du möchtest frühstücken gehen, schön. Wir gehen. Und du fang gar nicht erst an!« Eve hatte nur die Chance gehabt, den Mund zu öffnen, aber jetzt schloss sie ihn schnell wieder. »Ihr drei macht das unter euch ab. Ich werde nicht lange wegbleiben. Glaubt mir, ich werde sowieso nichts bei mir behalten können, egal, was ich runterkriege.«

Monica nickte, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass es so kommen würde. Dann ging sie über den Flur zur Haustür wie ein Model auf dem Laufsteg. Von hinten sahen ihre Shorts fast schon verboten aus.

Shane und Michael sahen ihr nach, egal, wie sehr sie sie hassten.

»Jungs«, murmelte Claire und schnappte ihren Rucksack.

***

Claire war eine ganze Weile nicht im Common Grounds gewesen, aber nichts hatte sich dort verändert. Es war unkonventionell, warm und voll bis unters Dach mit irgendwelchen College-Typen, die sich ihren morgendlichen XXL-Becher von was auch immer reinzogen, und wenn Claire es nicht besser – wenn sie es nicht ganz genau – gewusst hätte, dann hätte sie niemals geglaubt, dass der nette, lächelnde Hippie-Typ hinter der Theke ein Vampir war.

Oliver fing ihren Blick auf und nickte leicht. Sein Gesicht blieb freundlich. »Schön, dich wieder hier zu sehen«, sagte er. »Was darf es sein?«

Auch wenn sie es nur ungern zugab, er machte die besten Getränke der Stadt. Sogar noch besser als Eve. »Einen weißen Mochaccino«, sagte sie. »Mit Schlagsahne.« Sie beherrschte sich, noch etwas hinzuzufügen, weil sie nicht nett zu ihm sein wollte. Gott, er hatte vor zwei Stunden Blut von ihrem Handgelenk geleckt! Das Mindeste, was sie tun konnte, war, jetzt nicht auch noch Bitte und Danke zu sagen.

»Geht aufs Haus«, sagte er und winkte ab, als sie einen Fünf-Dollar-Schein aus der Tasche ihrer Jeans kramte. »Ein Herzlich-Willkommen-zurück-Geschenk, Claire. Ah, Monica. Dasselbe wie immer?«

»Halb entkoffeiniert, kein Schaum, doppelter Schuss Latte, mit pinkfarbenem Zucker«, sagte sie. »In einer echten Tasse, nicht in diesem Schaumstoffzeug.«

»Ein einfaches Ja hätte genügt«, sagte er. Als Monica sich umdrehen wollte, schnellte er nach vorne und packte ihr Handgelenk. Er machte es so, dass außer Claire es niemand mitkriegen würde, und es war unmissverständlich drohend. »Sie zahlt nicht. Du schon, Monica. Du magst dich für eine Prinzessin halten, aber glaub mir, ich hab schon echte getroffen, und du bist dafür nicht qualifiziert.« Er grinste ein bisschen, aber in seinen Augen spiegelte sich kein Humor wider. »Na ja, getroffen ist vielleicht nicht das richtige Wort.«

»Gefressen?«, half Claire säuerlich aus. Sein Lächeln wurde dunkler.

»Oh, der Charme und die Beredtheit der jüngeren Generation. Es ist herzerwärmend.« Oliver ließ Monicas Arm los und ging weg, um die Getränke zuzubereiten. Monica trat zurück, sie war rot im Gesicht. Sie warf Claire einen finsteren Blick zu – ja klar, als wäre es meine Schuld, dachte Claire – und stolzierte zu dem Tisch in der Ecke. Zu demjenigen, den der verblichene Vampir Brandon früher für sich beansprucht hatte. Zwei junge College-Studentinnen saßen dort, vor ihnen stapelten sich Bücher und Papier. Monica verschränkte die Arme und nahm eine herausfordernde Haltung ein.

»Du sitzt auf meinem Stuhl«, sagte sie. »Beweg deinen Hintern.«

Die beiden Mädchen, die kleiner und pummeliger waren als Monica, starrten sie mit Augen groß wie Untertassen an. Eine von ihnen stammelte: »Wer von uns?«

»Beide«, fauchte Monica. »Ich habe gern Platz. Verschwindet!«

Sie sammelten Bücher und Blätter ein und hasteten davon, wobei sie in ihrer Eile fast den Kaffee über Claire verschüttet hätten. »Musste das sein?«, fragte Claire.

»Nein. Aber es hat Spaß gemacht.« Monica nahm Platz, schlug ihre glatten, gebräunten Beine übereinander und klopfte leicht auf den Tisch. »Komm schon, Claire. Setz dich. Wir haben so viel zu besprechen.«

Sie wollte nicht, aber es war bescheuert, einfach so, für alle sichtbar, stehen zu bleiben. Deshalb setzte sie sich, stellte ihren Rucksack neben sich auf den Boden und konzentrierte sich auf das zerkratzte Holz der Tischplatte. Sie konnte sehen, wie Monicas Flipflop seinem Namen alle Ehre machte, als sie lässig mit dem Fuß auf und ab wippte. Lächerlicherweise erinnerte sie das an Myrnin.

»Schon besser.« Monica klang viel zu selbstzufrieden. Nicht cool. »Also. Erzähl.«

»Was?«

»Was du für Amelie tun musst«, sagte Monica. »Deine tiefsten Geheimnisse. Ich meine, sie hat dich aus einem bestimmten Grund ausgewählt, und zwar bestimmt nicht wegen deines Charmes und deines guten Aussehens, oder? Klar. Sondern wegen deiner Intelligenz. Du hast hier keine Familie. Du hast nichts, was irgendjemand wollen könnte, außer deiner Intelligenz.«

Monica war nicht so dumm, wie sie aussah. »Amelie hat nichts von mir verlangt«, log Claire. »Vielleicht später, ich weiß nicht. Aber bis jetzt hat sie noch nichts von mir verlangt.« Sie drehte nervös an dem goldenen Armband an ihrem linken Handgelenk. Allmählich erinnerte es sie an diese Bänder, die Biologen an Tieren befestigten, die vom Aussterben bedroht sind.

Und an Labortieren.

Monicas Augen waren halb geschlossen, als Claire einen Blick nach oben riskierte. »Nicht?«, sagte sie. »Tatsächlich. Also, das ist enttäuschend. Ich dachte eigentlich, du hättest etwas Gutes auf Lager, das mir nützlich sein kann. Na schön. Dann lass uns über einen möglichen Deal reden.«

»Einen Deal?« Erst Jason, jetzt auch noch Monica. Wie kam es, dass Claire in die Rolle einer Verhandlungsführerin gerutscht war?

»Ich möchte mit Amelie über Schutz reden. Du kannst mich ihr vorstellen. Und eine Empfehlung aussprechen.«

Claire hätte beinahe gelacht. »Frag sie doch selbst!«

»Das würde ich, aber sie lässt mich nicht in ihre Nähe. Sie mag mich nicht.«

»Ich bin schockiert«, murmelte Claire halb laut vor sich hin.

Monica bedachte sie mit einem langen Blick, dem seltsamerweise die übliche hippe, ironische, herablassende Note fehlte. Er wirkte fast schon... ernst. »Als Brandon starb, hat Oliver seine Verträge übernommen. Es ist aber so, dass er die meisten nicht behält. Er tauscht sie bei anderen Vampiren gegen Gefallen ein. Wenn ich keinen besseren Deal mache, kann niemand sagen, was mit mir passieren wird.« Monica deutete auf Claires Armband. »Da kann ich auch gleich ganz oben anfangen.«

Claire trommelte mit ihren kurzen Fingernägeln auf den Tisch und starrte zur Theke hin, wo Oliver anscheinend ewig brauchte, um ihre Getränke zuzubereiten. Plötzlich fragte sie sich, ob es wirklich sicher war, etwas zu trinken, das ein Vampir zubereitet hat, der sie noch vor wenigen Stunden bedroht hatte, aber ehrlich gesagt, wenn Oliver sie kriegen wollte, dann würde ihm das wohl kaum schwerfallen.

Und sie wollte den weißen Mochaccino wirklich.

»Oliver ist jetzt dein Schutzpatron?«

»Bis jetzt. Jedenfalls bis er etwas findet, was ihm wichtiger ist als die Aufrechterhaltung meines Vertrags.«

»Steckt er hinter deiner Frage, warum mich Amelie vertraglich verpflichtet hat?«

»Sehe ich aus, als würde ich für jemand anderes Botengänge erledigen?«

Claire schaute wieder zur Bar. »Vielleicht.«

Monica wurde still. Es war nicht die angenehme Art von Stille und Claire war froh, als Oliver ihre Bestellungen aufrief. Sie sprang auf, um ihr Getränk abzuholen, zögerte und brachte dann das von Monica auch mit. Sie schaffte es, ohne Blickkontakt mit Oliver herzustellen. Sie sah ihn nur aus den Augenwinkeln als dunklen Umriss, und sobald sie konnte, kehrte sie ihm den Rücken zu.

Monica war aufgestanden und sah ehrlich überrascht aus, als ihr Claire ihr Getränk reichte. »Was?«, fragte Claire. »Man nennt es Höflichkeit. Vermutlich hat man dir das zu Hause nicht beigebracht. Das bedeutet jetzt nicht, dass ich dich mag oder so.«

Monica schien intensiv darüber nachdenken zu müssen, was sie darauf sagen sollte, bis sie es schließlich bei einem einfachen Danke bewenden ließ. Das war, wie Claire zugeben musste, vielleicht das Netteste, was Monica je geschafft hatte, zu ihr zu sagen. Claire nickte ihr zu und setzte sich wieder.

Friede auf Erden, dachte sie ironisch. Und prompt vermasselte sie es, indem sie noch einmal fragte: »Hat Oliver dich darauf angesetzt?«

Monica warf nicht einmal einen Blick in seine Richtung. »Nein.« Aber irgendwie glaubte ihr Claire nicht.

»Musst du alles tun, was er sagt?«, fragte sie, als hätte Monica sie nicht soeben angelogen. Und Monica hob eine Schulter zu einem halben Schulterzucken. Keine weitere Antwort. »Du möchtest also nicht wirklich mit mir reden, stimmt’s? Man hat es dir nur befohlen.«

»Nicht direkt. Ich dachte, es wäre auch eine gute Gelegenheit, Amelie meinen Namen unter die Nase zu schieben.« Monica schenkte ihr ein kleines, aber sehr bitteres Lächeln. »Außerdem – kapier das doch endlich: Du bist jetzt ein Star. Jeder möchte alles über dich wissen, sowohl Menschen als auch Vampire. Sie stöbern in deinem Leben herum, in deiner Familiengeschichte. Wenn du irgendwann mal in der Grundschule gefurzt hast, weiß es jetzt irgendjemand in Morganville.«

Claire hätte sich beinahe an ihrem ersten Schluck weißem Mochaccino verschluckt. »Was?«

»Die Gründerin kann man nicht gerade als zugänglich bezeichnen. Und die meisten Vampire verstehen sie auch nicht besser als wir. Sie suchen ständig nach Hinweisen dafür, wer sie eigentlich ist, was sie hier mit dieser Stadt macht. Das ist nämlich nicht normal, weißt du? Die Art und Weise, wie sie hier leben.« Monicas Blick huschte zu Oliver und wieder weg. »Er ist alt genug, um mehr zu wissen als die meisten, aber trotzdem brauchte er Insider-Informationen. Und es heißt, dass man durch dich an so etwas herankommen kann. Wenn ich schon nicht Amelies Schutz bekommen kann, dann kann ich mich zumindest mit ihm gut stellen, wenn ich ihm etwas Neues und Wertvolles zu erzählen habe.«

Claire rollte mit den Augen. »Ich bin niemand. Und wenn ihr etwas an mir liegen würde – was nicht zutrifft – dann würde sie das niemals jemanden wissen lassen. Ich meine, schau dir mal an, wie sie...«Sie unterbrach sich abrupt, ihr Herz hämmerte plötzlich wie wild. Fast hätte sie gesagt, wie sie Myrnin behandelt, und das wäre übel gewesen. »Wie sie Sam behandelt«, beendete sie den Satz lahm. Was auch stimmte, aber Monica musste einfach aufgefallen sein, dass sie ins Stocken geraten war.

Was Monica dadurch betonte, dass sie volle zehn Sekunden schwieg, bevor sie fortfuhr. »Wie auch immer. Der Punkt ist, dass du irgendwie berühmt bist, und wenn ich mit dir abhänge, sehen die richtigen Leute, dass ich das Richtige tue, deshalb mache ich, was Oliver will. Das ist alles, worüber ich mir Gedanken mache. Du hast recht. Mir liegt nicht daran, dass wir beste Freundinnen werden. Wir werden keine Klamotten tauschen und uns Tattoos im Partnerlook stechen lassen. Ich habe Freundinnen. Ich brauche Verbündete.« Sie nippte an ihrem komplizierten Getränk und sah Claire dabei unbewegt an. »Oliver will an dein Wissen herankommen, ja. Und das« – sie tippte auf ihr eigenes Armband – »das bedeutet, dass ich tue, was er sagt, sonst...«

»Sonst was?«

Monica senkte den Blick. »Du bist ihm schon begegnet. Bestenfalls wird er mir wehtun. Sehr weh. Schlimmstenfalls …verkauft er mich weiter.«

»Das wäre schlimmer?«

»Yeah. Das würde bedeuten, dass er mich an Vamps aus dem Bodensatz der Gesellschaft verschachern würde, an solche, die es nicht auf die Reihe kriegen, die Besserverdienenden und Gutaussehenden abzugreifen. Das bedeutete, ich wäre ein Loser.« Sie schaute nach unten und fummelte mit gerunzelter Stirn an ihrer Kaffeetasse aus Keramik herum. »Das klingt jetzt vielleicht oberflächlich, aber hier geht es ums Überleben. Wenn Oliver mich abschiebt, kriege ich nur noch Freaks und Schlampen ab, diejenigen, die sich auf die harte Tour nehmen, was sie wollen. Wenn ich Glück habe, bringen sie mich um. Wenn nicht, werde ich als überdrehter Junkie enden, der mit jedem Vamp in die Kiste springt.«

Sie sagte das mit einer so trockenen, sachlichen Eindringlichkeit, dass sie lange darüber nachgedacht haben musste. Es war ein Sturz aus großer Höhe, wenn man von der beliebten Bürgermeistertochter zu einer Drogenabhängigen wurde, die versuchte, es einem perversen Freak recht zu machen, um von ihm Schutz zu erhalten.

»Du könntest neutral sein«, platzte Claire heraus. Seltsamerweise empfand sie Mitgefühl, trotz allem, was Monica getan hatte. Immerhin war sie hier geboren. Schließlich hatte sie sich nie wirklich aussuchen können, was sie sein oder tun wollte. »Manche Leute sind das, oder? Sie werden in Ruhe gelassen?«

Monica grinste höhnisch und die ein, zwei Sekunden Menschlichkeit, die Claire sich auf dem hübschen Gesicht eingebildet hatte, verschwanden. »Sie werden in Ruhe gelassen, bis sie nicht mehr in Ruhe gelassen werden. Sieh mal, offiziell sind sie unantastbar, weil sie jemandem einen Gefallen getan haben, einen großen, weshalb ihr Schutzpatron sie aus dem Vertrag entlassen hat. Mit einem großen Gefallen meine ich die Art von Gefallen, von dem man Glück haben muss, wenn man ihn überlebt, verstanden? Ich habe kein Interesse an dieser Art von Heldennummer.«

Claire zuckte die Achseln. »Dann leb ohne Vertrag.«

»Ja, klar. Das ist eine gute Idee. Ich freue mich wirklich auf eine Zukunft als zweite Assistentin an der Fritteuse bei Burger King und darauf, noch bevor ich dreißig bin, in irgendeinem Graben zu verrotten.« Monica stützte die Ellbogen auf den Tisch und hielt ihre Kaffeetasse in beiden Händen. »Ich dachte schon daran wegzugehen. Ich bin sogar für ein Semester nach Austin gegangen, weißt du? Aber...es war nicht das Gleiche.«

»Das heißt, du bist von der Schule geflogen?«

Das brachte Claire einen fiesen Blick ein. »Halt die Klappe, du Miststück. Ich bin nur hier, weil ich hier sein muss, und du bist nur hier, weil du dazu gezwungen bist. Lass uns jetzt nicht gefühlsduselig werden.«

Claire schluckte einen Mundvoll süßen, köstlichen Mochaccino. Wenn er vergiftet wäre, würde sie wenigstens glücklich sterben. »Ganz in meinem Sinne. Hör mal, ich kann dir nicht helfen, zu Amelie zu kommen. Ich weiß selbst nicht, wie ich sie finden kann. Und selbst wenn ich es wüsste, glaube ich nicht, dass sie dich unter Vertrag nehmen würde.«

»Dann halt einfach die Klappe und lächle. Wenn ich schon nichts anderes schaffe an diesem vergeudeten Morgen, dann kann Oliver wenigstens sehen, dass ich es versucht habe.«

»Wie lange muss ich das tun?«

Monica schaute auf die Uhr. »Zehn Minuten. So lange musst du dich jetzt einschleimen, dann werde ich meinen Bruder nicht anrufen und ihm von der kleinen Unbesonnenheit erzählen, die sich dein Freund geleistet hat.«

»Wie kann ich da sicher sein?«

Monica klatschte sich mit beiden Händen auf die Wangen und tat übertrieben entsetzt. »Oh nein! Du hast kein Vertrauen zu mir! Ich bin am Boden zerstört.« Sie hörte auf mit dem Theater. »Selbst wenn Shane seinen eigenen Taxi-Service für Leichen aufgemacht hätte – das schert mich einen Dreck. Das Einzige, was mich schert, ist, was dabei für mich herausspringt.«

»Vielleicht möchtest du dich rächen«, sagte Claire.

Monica lächelte. »Wenn ich das wollte, hätte ich ihn schon längst ins Gefängnis gebracht. Außerdem serviert man Rache ja bekanntlich am besten kalt.«

Claire zog ein Buch heraus. »Also gut. Zehn Minuten. Ich muss sowieso noch lernen.« Monica lehnte sich zurück und begann, in einem fortlaufenden Monolog die Outfits der Mädels, die sich um Kaffee anstellten, peinlichst genau zu kommentieren. Claire strengte sich an, das nicht witzig zu finden. Was ihr auch gelang, bis Monica auf ein Mädchen deutete, das ein wahrhaft scheußliches Ensemble aus gepunkteten Leggins und Shorts trug. »Und irgendwo da oben im Himmel vergießt Versace eine einzige, perfekte Träne.«

Claire prustete vor Lachen und hasste sich dafür, dass sie sich nicht beherrschen konnte. Monica zog eine Augenbraue hoch.

»Siehst du?«, sagte sie. »Ich bin so gut, dass ich sogar eine harte Nuss wie dich mit meinem Charme verzaubern kann. Natürlich verschwende ich hier mein Talent, aber ich muss schließlich in Übung bleiben.« Sie trank ihren Kaffee aus und nahm ihre kleine pinkfarbene Handtasche, aus der ihr Teen-People-Magazin herausragte. »Ich muss mich beeilen, Loser. Sag deinem Freund, was mich betrifft, sind wir quitt. Na ja, okay, ich bin ein bisschen mehr als quitt, aber so gefällt mir das. Folgendes kannst du als einstweilige Verfügung betrachten: Wenn er sich mir auf weniger als zwanzig Meter nähert, werde ich nicht nur meinem Bruder von seinem Mitternachtsabenteuer erzählen, sondern ich werde auch ein paar Footballer anheuern, die seinen Kniescheiben einen Besuch abstatten.«

Mit einem gefährlichen Hüftschwung ging sie hinaus. Die Leute gingen ihr aus dem Weg und schauten ihr nach. Angst und Anziehung hielten sich ungefähr die Waage.

Claire seufzte. Wahrscheinlich hatte den Menschen dieser Mädchentyp schon immer gefallen und würde ihnen auch immer gefallen. Und insgeheim bewunderte sie Monica für ihr Selbstbewusstsein. Wenn auch nur ein winziges, verräterisches bisschen.