6

 

Claire schwieg auf der ersten Hälfte des Nachhausewegs und auch Sam sagte nichts. Schließlich hielt sie es jedoch nicht mehr aus, weil ihr so viele Fragen im Kopf herumspukten. »Er hat die Wahrheit gesagt, nicht wahr?«, fragte sie. »Es gibt eine Art Krankheit. Amelie versuchte, mir weiszumachen, dass es ihre eigene Entscheidung war, keine neuen Vampire zu schaffen, aber das stimmt nicht, oder? Ihr könnt es nicht. Sie ist die Einzige, die nicht krank ist.«

Sams Gesicht spannte sich an und wirkte im Widerschein der Lichter auf dem Armaturenbrett unbewegt. In diesem Auto zu sitzen, war, wie durch den Weltraum zu reisen; die dunkel getönten Fenster ließen noch nicht einmal das Sternenlicht durch, deshalb waren sie zu zweit allein in diesem Hosentaschen-Universum. Im Radio lief klassische Musik, etwas Leichtes und Liebliches.

»Es nützt wohl nichts, wenn ich dir sage, dass du die Klappe halten sollst?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie bedauernd. »Und ich würde sowieso weiter versuchen, es herauszufinden.«

Sam schüttelte den Kopf. »Hast du eigentlich so etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb?«

»Das fragt Shane mich auch immer.«

Das brachte Sam trotz seines offensichtlichen Unbehagens zum Lächeln. »Also gut«, sagte er. »Amelie ist auch krank. Es wird immer schwieriger für sie, neue Vampire zu schaffen – sie war kaum in der Lage, Michael herüberzubringen; ich hatte Angst, es könnte sie dieses Mal umbringen. Die Wahrheit ist, dass wir alle krank sind. Myrnin sucht schon seit siebzig Jahren nach dem Grund – und nach einer Heilmethode –, aber jetzt ist es zu spät. Bei ihm ist es schon zu weit fortgeschritten und die Chance, dass jemand anderes ihm dabei helfen kann, ist zu gering. Ich kann nicht zulassen, dass sie dich auf diese Weise opfert, Claire. Ich sagte dir schon, dass er fünf Assistenten hatte. Ich möchte nicht, dass du zu dieser Statistik zählst.«

Oh Gott. Die Vampire sterben alle. Claire fühlte einen puren Adrenalinrausch, der ihre Hände zum Zittern brachte. Eine Woge grimmiger Zufriedenheit überkam sie. Und danach eine Welle von Schuldgefühlen. Was ist mit Sam? Was ist mit Michael? Ja, und was ist mit Oliver und all den anderen schaurigen Vampiren? Wäre es nicht großartig, sie verschwinden zu sehen?

»Was ist, wenn er keine Heilmethode findet?«, fragte Claire. Sie versuchte, nichts von ihren Gefühlen preiszugeben, aber sie war sich sicher, dass Sam ihren erhöhten Herzschlag hören konnte. »Wie lange...?«

»Claire, du musst vergessen, dass du je etwas davon gehört hast. Das meine ich ernst. Es gibt viele Geheimnisse in Morganville, aber dieses könnte dich umbringen. Sag keinem etwas davon, verstehst du? Nicht zu deinen Freunden und nicht zu Amelie. Hast du mich verstanden?«

Seine Eindringlichkeit war fast noch furchterregender als Myrnins, weil sie so kontrolliert war. Sie nickte.

Die Fragen schossen ihr aber weiterhin durch den Kopf, ebenso die Möglichkeiten.

Sam ließ sie am Straßenrand aussteigen und passte auf, bis sie im Haus war – es war vollkommen dunkel und in einer klaren, kühlen Nacht wie dieser waren massenhaft Vampire auf der Jagd. Wahrscheinlich würde ihr niemand etwas tun, aber Sam war nicht in der Stimmung, es darauf ankommen zu lassen.

Claire machte die Tür zu und schloss sie ab, lehnte sich für ein paar lange Sekunden an die Wand und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie wusste, dass ihre Freunde sie mit Fragen bombardieren würden – wo sie gewesen war, ob sie wahnsinnig sei, im Dunkeln allein draußen zu sein –, aber sie konnte sie nicht beantworten, ohne eine Anordnung von Amelie oder Sam zu missachten.

Sie sterben. Das schien unmöglich; die Vampire wirkten so stark, so furchterregend. Aber sie hatte es gesehen. Sie hatte gesehen, wie Myrnin verfiel und wie sehr Sam sich fürchtete. Selbst Amelie, die perfekte eisige Amelie, war todgeweiht. War das nicht etwas Gutes? Und wenn das so war, warum fühlte sie sich dann so schlecht, wenn sie daran dachte, dass Amelie langsam wahnsinnig werden würde wie Myrnin?

Claire holte noch ein paarmal tief Luft, zwang ihre Gedanken, für eine Weile aufzuhören zu rasen und stieß sich von der Wand ab, um über den Flur zu gehen.

Weit kam sie nicht. Überall waren Sachen gestapelt. Sie brauchte einen Moment, aber dann wurde es ihr mit einem furchtbaren Schock klar. »Oh nein«, flüsterte sie. »Shanes Sachen.« Sie blockierten den Flur. Claire bahnte sich einen Weg durch die Schachteln und Koffer, die dort gestapelt waren. Oh Shit. Dort stand die Playstation; die Kabel waren ausgesteckt und sie sah erbärmlich aus auf dem Haufen mit den Gamecontrollern.

»Hey? Hey, Jungs? Was ist hier los?«, rief Claire, als sie sich durch die Barrikaden schlängelte. »Jemand zu Hause?«

»Claire?« Michaels Schatten tauchte am Ende des Flurs auf. »Wo zum Teufel warst du?«

»Ich – ich wurde im Labor aufgehalten«, sagte sie. Was nicht gelogen war. »Was ist hier los?«

»Shane sagt, er zieht aus«, sagte Michael. Er sah zutiefst verärgert aus, aber damit kaschierte er auch, dass er verletzt war.

»Ich bin froh, dass du da bist. Ich war schon drauf und dran, dich suchen zu gehen.«

Claire hörte das undeutliche Geräusch von Stimmen, die von oben kamen. Eves Stimme, die hoch und schrill war. Shanes tiefe Brummstimme. Etwa sechzig Sekunden verstrichen, dann kam Shane mit einer Kiste die Treppe herunter. Sein Gesicht war blass, aber entschlossen, und obwohl er einen Moment innehielt, als er sah, dass Claire zurück war, kam er herunter.

»Im Ernst, du Blödmann, was machst du da, verdammt noch mal?«, fragte Eve von oben. Sie flitzte um ihn herum und baute sich vor ihm auf, wodurch er gezwungen war, einen Schritt zurückzugehen, um an ihr vorbeizukommen. »He, du Trottel! Ich rede mit dir!«

»Du willst hier mit ihm leben? Schön«, sagte Shane gepresst. »Ich gehe. Ich habe die Schnauze voll.«

»Du ziehst bei Nacht um? Hast du einen Kopfschuss?«

Er tat so, als wollte er rechts an Eve vorbei, und entwischte dann links herum.

Und prallte mit Claire zusammen, die sich nicht rührte. Sie sagte nichts und nach ein paar Sekunden Stille sagte er: »Es tut mir leid. Ich muss es tun. Das habe ich dir ja gesagt.«

»Geht es um deinen Dad?«, fragte sie. »Um dieses Vorurteil, das du jetzt Michael gegenüber hast?«

»Vorurteil? Mensch, Claire, du tust gerade so, als wäre er noch immer wirklich Michael. Er ist es nicht mehr. Er ist einer von ihnen. Ich bin fertig mit dem Scheiß. Wenn es sein muss, breche ich ein paar Gesetze und werde eingelocht. Besser im Gefängnis, als hier zu leben und mit ansehen zu müssen, wie er...« Shane unterbrach sich abrupt und schloss einen Moment die Augen. »Du verstehst das nicht. Du kapierst es einfach nicht, Claire. Du bist nicht hier aufgewachsen.«

»Aber ich bin hier aufgewachsen«, sagte Eve und trat näher.

»Und ich kapiere deinen paranoiden Scheiß auch nicht. Michael hat niemandem was getan. Und dir schon gar nicht, du Idiot. Also lass ihn in Ruhe.«

»Mach ich«, sagte Shane. »Ich haue ab.«

Claire machte ihm den Weg nicht frei. »Was ist mit uns?«

»Willst du mitkommen?«

Sie schüttelte langsam den Kopf und sah für den Bruchteil einer Sekunde lang den Schmerz in seinem Gesicht, bevor es wieder hart wurde.

»Dann gibt es nichts mehr zu sagen. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber dann gibt es kein ›uns‹. Damit eins klar ist, Claire, war schön mit dir, aber du bist echt nicht mein Typ...«

Michael bewegte sich. Er schlug Shane die Schachtel aus der Hand, sodass sie halb durch den Raum flog, über den Holzboden schlitterte und gegen die Sockelleiste knallte, wo sie umkippte und alle Sachen herauskullerten.

»Lass das«, sagte Michael. Er packte Shane an der Schulter und presste ihn an die nächstbeste Wand. »Behandle sie nicht so geringschätzig. Du kannst mir gegenüber ein Arschloch sein, na gut. Wenn du willst, kannst du auch Eve gegenüber ein Arschloch sein; sie kann zurückschlagen. Aber trag es nicht auf Claires Rücken aus. Ich hab mir deinen Mist jetzt lange genug angehört, Shane.« Er hielt inne und holte Luft, aber die Wut hatte nicht nachgelassen. Noch nicht. »Du möchtest gehen. Dann mach, dass du rauskommst. Aber du tust gut daran, mal genau in den Spiegel zu schauen, mein Lieber. Okay, deine Schwester ist gestorben. Deine Mom ist gestorben. Dein Dad ist ein gewalttätiges, voreingenommenes Arschloch. Dein Leben ist beschissen. Aber die Opfermasche zieht nicht mehr. Immer drücken wir ein Auge zu und du versaust es. Das reicht jetzt. Du jammerst nicht mehr herum und tust so, als sei dein Leben beschissener als unseres.«

Shanes Gesicht wurde erst leichenblass und danach rot.

Dann schlug er Michael ins Gesicht. Es war ein fester, schmerzhafter Schlag; Claire zuckte zusammen und schlug sich vor Mitgefühl die Hände vor den Mund, während sie zurückwich.

Michael rührte sich nicht. Reagierte nicht einmal. Er starrte Shane nur in die Augen.

»Du bist genau wie dein Dad«, sagte er. »Möchtest du mich jetzt pfählen? Mir den Kopf abschlagen? Mich hinten vergraben? Wäre das was für dich, mein Freund?«

»Ja!«, schrie ihm Shane direkt ins Gesicht und in seinen Augen lag etwas so Beängstigendes, dass Claire sich nicht rühren konnte. Nicht atmen konnte.

Michael ließ ihn los, ging zu der Schachtel hinüber, die Shane heruntergetragen hatte, und las ein paar Dinge auf, die herausgefallen waren.

Ein spitzer Pfahl.

Ein übel scharfes Jagdmesser.

»Du bist gut vorbereitet«, sagte er und schleuderte Shane die Gegenstände zu, der sie auffing. »Dann mal nichts wie ran.«

Eve kreischte und warf sich vor Michael, der sie sanft, aber bestimmt aus dem Weg schob.

»Los«, sagte er. »Wir erledigen das jetzt, dann müssen wir es nicht später machen. Du möchtest ausziehen, dann kannst du mich guten Gewissens umbringen. Worauf wartest du? Komm schon, Mann, tu’s. Ich werde mich nicht wehren.«

Shane drehte das Messer in seiner Hand. Die Schneide zerschnitt mit jeder hastigen Bewegung das Licht. Claire fühlte sich wie zu Eis erstarrt, ihr fiel nichts ein, was sie sagen oder tun konnte. Was war geschehen? Wie hatte alles so schlimm kommen können? Was...?

Shane machte einen Schritt auf Michael zu, einen plötzlichen langen Satz. Michael rührte sich nicht. Seine Augen – sie waren überhaupt nicht kalt und auch nicht furchterregend wie Vampiraugen. Sie waren menschlich und Angst spiegelte sich in ihnen.

Einen langen Atemzug lang bewegte sich niemand, dann sagte Michael: »Ich weiß, dass du dir vorkommst, als hätte ich dich verraten, aber das habe ich nicht. Es ging nicht um dich. Ich habe es meinetwegen getan, damit ich nicht länger hier eingesperrt sein musste. Ich bin hier eingegangen, ich war lebendig begraben.«

Shanes Gesicht zuckte, als hätte das Jagdmesser ihm den Bauch aufgeschlitzt. »Vielleicht wärst du besser tot geblieben.« Er hob den Pfahl in seiner rechten Hand.

»Shane, nein!«, schrie Eve und versuchte, zwischen sie zu gelangen, aber Michael hielt sie davon ab. Wütend wandte sie sich zu ihm um. »Lass das, verdammt! Du möchtest nicht wirklich sterben!«

»Nein«, sagte Michael. »Das möchte ich nicht und das weiß er.«

Shane hielt inne, er zitterte. Claire betrachtete sein Gesicht, seine Augen, aber sie konnte nicht sagen, was er dachte. Was er empfand. Es war einfach ein Gesicht und sie erkannte ihn überhaupt nicht wieder.

»Du warst mein Freund«, sagte Shane. Er klang verloren. »Du warst mein bester Freund. Wie verkorkst ist das alles?«

Michael sagte nichts. Er machte einen Schritt nach vorne, nahm Shane das Messer und den Pfahl aus der Hand und zog ihn in eine Umarmung.

Und dieses Mal widersetzte sich Shane nicht.

»Arschloch«, seufzte Michael und klopfte ihm auf den Rücken.

»Yeah«, murmelte Shane, trat zurück und rieb sich mit dem Handballen die Augen. »Wie auch immer. Du hast damit angefangen.« Er sah sich um und fasste Claire ins Auge. »Du! Du hättest schon längst zu Hause sein sollen.«

Mist. Sie hatte gehofft, sie hätten über Shanes Ausbruch vergessen, wie spät sie nach Hause gekommen war. Aber natürlich würde er jetzt nach einem Weg suchen, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, und da war sie ein leichtes Opfer.

»Stimmt«, sagte Eve. »Ich nehme an, du hast die Nummer vergessen, mit der du uns hättest anrufen und mitteilen können, dass du nicht tot in einem Graben liegst.«

»Mir geht es gut«, sagte Claire.

»Amy nicht. Sie wurde ermordet und in unsere Mülltonne gestopft, also entschuldige bitte, dass ich mir ein winziges bisschen Sorgen gemacht habe, du könntest tot sein.« Eve verschränkte die Arme, ihr finsterer Blick wurde noch grimmiger. »Ich war schon draußen und hab nach dir geschaut, bevor Shane diesen Mist hier abzog.«

Oh Mann. Irgendwie hatte sie bei dem ganzen Stress, den sie heute Nachmittag mit Myrnin hatte, Amys Tod vergessen. Natürlich war Eve böse; nicht direkt böse, aber total verstört.

Claire wagte nicht, Shanes Blick zu erwidern. Stattdessen schaute sie hilflos Michael an. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wurde...ich war im Labor und... schätze, ich hätte anrufen sollen.«

»Und du bist zu Fuß nach Hause gekommen? Im Dunkeln?« Eine weitere Frage, der sie ausweichen musste. Sie zuckte nur die Achseln. »Weißt du, wie wir in Morganville Fußgänger nennen? Mobile Blutbanken.« Auch Michael klang kalt. Kalt und zornig. »Du hast uns zu Tode geängstigt. Das sieht dir nicht ähnlich, Claire. Was ist passiert?«

Shane trat an ihre Seite und sie war einen Augenblick lang erleichtert, weil wenigstens er nicht böse auf sie war. Aber dann riss er ihr das T-Shirt vom Hals weg, zuerst links, dann rechts, eine effiziente, grobe Suche, die sie so sehr überraschte, dass sie sich nicht wehrte. Er schob ihren linken Ärmel hoch bis zum Ellbogen und drehte prüfend ihren Arm.

Als er nach dem rechten griff, schrillten die Alarmglocken bei ihr. Das Armband. Oh mein Gott!

Sie riss sich los und schubste ihn weg. »Hey!«, sagte sie. »Mir geht es gut, okay? Alles in Ordnung! Keine Vampirzahn-Abdrücke!«

»Dann zeig es mir«, sagte Shane. Sein Blick war fest auf sie gerichtet und voller Angst, was ihr das Herz brach. »Komm schon, Claire. Beweise es mir.«

»Warum muss ich dir alles beweisen?« Sie wusste, dass sie im Unrecht war, und sie ärgerte sich darüber, dass er sich solche Sorgen machte. »Du kannst mich nicht besitzen wie irgendein Vampir! Ich sagte bereits, es geht mir gut! Warum kannst du mir nicht einfach mal vertrauen?«

Sie hätte alles dafür gegeben, es zurücknehmen zu können, aber es war zu spät, es traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er hat schon so viel einstecken müssen. Warum habe ich das getan? Warum...

Michael trat zwischen sie. Er warf einen Blick über die Schulter zurück zu Shane. »Ich mache das schon.« Er verstellte Eve und Shane den Blick. Bevor Claire ihn aufhalten konnte – als hätte sie überhaupt etwas ausrichten können – hatte er ihre linke Hand gepackt und den Ärmel bis zum Ellbogen hochgeschoben.

Er starrte einen lähmenden Augenblick lang auf das goldene Armband, bevor er ihren Arm erst in die eine und dann in die andere Richtung drehte. Dann zog er ihren Ärmel wieder zurück über das verräterische Beweisstück.

»Sie ist in Ordnung«, sagte er und ihre Blicke trafen sich. »Ich wüsste es, wenn ein Vampir sie gebissen hätte. Ich würde es fühlen.«

Shane machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Er trat noch einen Schritt zurück, starrte sie kurz an, dann ging er weg. »Hey, wie wär’s, wenn du etwas von deinem Krempel mit hinaufnehmen würdest, wenn du vorhast zu bleiben?«, rief Eve.

»Später«, blaffte Shane und ging, ohne sich umzuschauen, nach oben.

»Ich rede wohl besser mit ihm«, sagte Claire. Michael hielt sie am Arm fest.

»Nein«, sagte er. »Du redest jetzt besser mit mir.«

Er schob sie in Richtung Küche. Hinter ihnen sagte Eve: »Ein weiteres großartiges Abendessen im Kreise der Familie. Wie auch immer! Ich nehme mir den letzten Hotdog!«

Obwohl die Küchentür zu war, ging Michael kein Risiko ein. Er zog Claire hinter sich her zur Speisekammer, öffnete die Tür und machte das Licht an. »Da rein«, befahl er. Sie trat ein und er machte die Tür hinter ihnen zu. Mit zwei Personen war der Raum bereits überfüllt, es roch nach alten Gewürzen und Essig, weil Shane vor ein paar Wochen eine Flasche hatte fallen lassen. Michaels Stimme senkte sich zu einem grimmigen Fauchen. »Was glaubst du eigentlich, was du da tust, verdammt noch mal?«

»Ich habe getan, was ich tun musste«, sagte sie. Sie zitterte am ganzen Körper, aber sie würde sich von Michael nicht einschüchtern lassen. Sie war müde und außerdem schienen zurzeit alle zu versuchen, sie einzuschüchtern. Sie war klein, aber sie war nicht schwach. »Es war die einzige Möglichkeit. Amelie...«

»Du hättest mit mir reden sollen. Mit uns reden sollen.«

»So wie du mit uns geredet hast, als du ein Geist warst? Und hast du vielleicht eine WG-Versammlung einberufen, als du beschlossen hast, das volle Programm durchzuziehen und ein Vampir zu werden?«, schoss Claire zurück. »Na also. Du bist nicht der einzige hier, der Entscheidungen treffen kann, Michael. Dies war meine Entscheidung. Ich habe sie getroffen. Ich werde mit ihr leben. Und durch sie seid ihr alle in Sicherheit.«

»Wer sagt das?«, fragte Michael rundheraus. »Amelie? Vertraust du jetzt schon Vampiren?«

Sie hielt dem Blick aus seinen großen blauen Augen stand. »Dir vertraue ich.«

Er unterdrückte ein Lächeln. »Idiotin.«

»Depp.« Sie schubste ihn, nur ein kleines bisschen, und er ließ es zu. Er tat sogar so, als würde er taumeln, obwohl sie nicht glaubte, dass Vampire besonders leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnten, außer von anderen Vampiren. »Michael, sie hat mir keine Wahl gelassen. Shanes Dad – er ist zwar wieder weg, aber er hat Schaden angerichtet. Shane würden sie nicht mehr über den Weg trauen und du weißt, was passiert, wenn...«

»Wenn sie ihm nicht vertrauen«, sagte Michael düster. »Ja, ich weiß. Hör mal, mach dir um Shane keine Gedanken. Ich werde ihn beschützen. Ich sagte dir schon...«

»Vielleicht bist du dazu nicht in der Lage. Schau mal, nimm’s mir nicht übel, aber du bist erst seit ein paar Wochen ein Vampir. Ich habe Bücher aus der Bibliothek, die schon länger ausgeliehen sind. Du kannst nicht versprechen...«

Michael legte einen seiner kalten Finger auf ihre Lippen und brachte sie auf der Stelle zum Schweigen. Seine blauen Augen wurden schmal, intensiv und äußerst konzentriert.

»Psst«, flüsterte er und machte das Licht aus.

Claire hörte, wie die Küchentür dumpf zufiel und Eves harte Absätze über den Holzboden klapperten. »Hallo? Halloooho? Na wunderbar. Warum verschwinden alle meine Mitbewohner oder schmollen wie kleine Mädchen, wenn das Geschirr schmutzig ist? Kannst du mich hören, Michael Glass? Ich rede mit dir!«

Claire prustete und hätte beinahe gelacht. Michaels Hand schloss sich um ihren Mund, was sie davon abhielt. Er zupfte sie am Ärmel und sie folgte ihm. Sie bewegte sich vorsichtig, um nichts von den Regalen zu stoßen. Sie hörte, wie die Tür aufschrammte, die am anderen Ende der Speisekammer zu dem kleinen Schlupfwinkel führte, und bückte sich, um durchzugehen. Auf der anderen Seite war es stockfinster, nicht einmal das wenige Licht, das sie noch in der Speisekammer hatten, drang hier herein und in Claire stieg Panik auf. Michaels Hand schob sie weiter und zögernd trat sie in die drückende, undurchdringliche Finsternis. Sie hörte, wie er hinter ihr mit einem sehr sanften Klicken die Tür schloss, dann strahlte helles elektrisches Licht auf den Fußboden.

»Hier«, sagte Michael und reichte ihr die Taschenlampe. »Vielleicht kommt sie uns hier suchen, aber noch nicht so bald.«

Es war ein geheimes Versteck, in das Claire an ihrem allerersten Morgen im Glass House geschoben worden war; es hatte nur diesen einen Eingang. Von Anfang an hatte sie gedacht, dass es wie ein Raum aussah, an dem ein Vampir ein paar Särge griffbereit verstauen könnte, aber er war leer. Und soviel sie wusste, schlief Michael auf einer ganz normalen Matratze.

»Was ich dich schon immer mal fragen wollte. Was ist das für ein Raum?«

»Ein Rübenkeller«, sagte er. »Als dieses Haus gebaut wurde, gab es noch keine Kühlschränke und Eislieferungen waren so lala. Hier wurde das meiste Gemüse aufbewahrt.«

»Also... war es kein Vampirversteck?«

Michael streckte seufzend seine langen Beine aus und lehnte sich an die Wand. Meine Güte, er sah so gut aus! Kein Wunder, dass Eve bereitwillig darüber hinwegsah, dass er kein schlagendes Herz hatte. »Soweit ich weiß, nicht, aber die Vampire in Morganville mussten sich ja auch nie wirklich verstecken. Eher die Menschen.«

Sie nahm an, dass sie nicht hierhergekommen waren, um darüber zu reden. Sie verschränkte die Arme und fühlte, wie sich das Armband unter ihrem T-Shirt in die Haut an ihrem Handgelenk grub. »Was immer du mir in deiner Standpauke sagen wolltest, es ist zu spät. Ich habe unterschrieben, es ist erledigt und als Souvenir habe ich dieses Armband.« Seltsamerweise war ihr plötzlich nach Weinen zumute. »Michael...«

»Was verlangt sie von dir?« Die Frage war so direkt, dass sich der Druck der Tränen in ihren Augen noch erhöhte.

»Ähm...«Sie konnte es ihm nicht erzählen, das hatten ihr Amelie und Sam klargemacht. »Es geht nur um zusätzliche Schularbeiten. Sie möchte, dass ich ein paar Sachen lerne.«

»Was für Sachen?« Michaels Stimme wurde scharf und besorgt. »Claire...«

»Nichts. Wissenschaftlicher Krempel. Wahrscheinlich wäre das sowieso irgendwann dran gewesen, es ist nur – es braucht eine Menge zusätzliche Zeit und ich weiß nicht, wie ich...«...es vor Shane geheim halte. Denn das musste sie, oder? Schlimm genug, dass er Michael dafür hasste, ein Vampir geworden zu sein. Was würde er von ihr halten, wenn er herausfände, dass sie sich an Amelie verkauft hatte? »Ich weiß nur nicht, wie ich das alles schaffen soll.«

Plötzlich brach sie in Tränen aus. Sie wollte das nicht, aber es überkam sie, weil alles in ihr hochkochte. Sie erwartete, dass Michael zu ihr kommen und sie trösten würde wie Shane, aber das tat er nicht. Er blieb sitzen, wo er war, und beobachtete sie. Als ihr Schluchzen abebbte und sie sich mit den Händen das nasse Gesicht abwischte, sagte er: »Fertig?«

Sie schluckte und nickte.

»Du hast die Entscheidung getroffen, nun möchtest du von den Vorteilen profitieren, aber nicht die Konsequenzen tragen. Das geht nicht, Claire. Es wird sich rächen und du regelst das lieber jetzt als später.« Michaels Tonfall wurde sanfter, aber nur ein wenig. »Schau mal, ich bin kein Arschloch – ich weiß, wie sehr du dich fürchtest. Aber du mischst jetzt mit in dieser Stadt. Du bist nicht mehr das verletzliche junge Ding, das ich schützend bei mir aufgenommen habe. Du versuchst jetzt, uns zu beschützen. Das heißt, dass du vielleicht nicht mehr so beliebt bist, und das musst du erst mal wegstecken.«

»Was?« Sie fühlte sich wie betäubt. Irgendwie lief das ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Vor allem Michaels kühler, herausfordernder Blick und die Tatsache, dass er sie nicht umarmte.

»Den Vertrag zu unterzeichnen, wird nicht die letzte Entscheidung gewesen sein, die du treffen musst«, sagte er. »Die Entscheidungen, die du ab jetzt triffst, werden zeigen, ob du das Richtige getan hast oder nicht.« Er stand auf, er war blass und stark und im Licht von Claires Taschenlampe sah er so großartig aus wie ein Engel. »Und hör auf, mich anzulügen. Das solltest du schon geschickter anstellen.«

»Ich... was?«

»Du sagtest, dass dich Amelie nur zusätzlich lernen lässt«, sagte er grimmig. »Und ich weiß, wann du lügst. Nein, ich werde jetzt nicht danach fragen, weil ich weiß, dass du dich davor fürchtest, aber denk daran, dass Vampire das merken, verstanden?«

Er öffnete die Tür und bückte sich, um durchzugehen. Claire starrte ihm mit offenem Mund nach, aber als sie hinausgestolpert war und die Taschenlampe ausgeknipst hatte, war Michael bereits aus der Speisekammer verschwunden. Bis sie nachkam, saß er tatsächlich schon auf der Couch und Eve hatte sich, den Kopf auf seine Brust gelegt, neben ihm eingerollt. Sie schauten sich etwas im Fernsehen an und Eves Blick folgte Claire, als sie schnell an ihnen vorbeihuschte und eine Entschuldigung murmelte.

An der Treppe hielt sie an und schaute zu ihnen zurück. Zwei Leute, die ihr am Herzen lagen, in einem gemeinsamen Augenblick der Wärme und des Glücks.

Michael war ein Vampir, und das bedeutete, dass Michael sterben würde. Wie Myrnin. Er würde leiden und seinen Verstand verlieren und Leute verletzen.

Er könnte sogar Eve verletzen, ganz gleich, wie sehr er sie liebte.

In ihren Augen brannten Tränen und plötzlich blieb ihr die Luft weg. Als es nur ein abstraktes Problem war – Morganville minus Vampire gleich Sicherheit –, war das eine Sache, aber jetzt war das Problem nicht mehr abstrakt. Es ging um Leute, die sie kannte, mochte, sogar sehr gern mochte. Oliver würde sie keine Träne nachweinen, aber wie konnte ihr Michael gleichgültig sein? Oder Sam? Oder selbst Amelie?

Claire nahm ihre Büchertasche und ging nach oben.

Shanes Tür war zu. Sie klopfte an. Einen langen Augenblick lang reagierte er nicht, dann sagte er: »Wenn ich dich ignoriere, gehst du dann weg?«

»Nein«, sagte sie.

»Dann kannst du ja genauso gut reinkommen.«

Er hatte sich auf das Bett geworfen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte die Decke an. Als sie hereinkam und die Tür hinter sich schloss, schaute er sie nicht an.

»So wird es also laufen?«, fragte sie. »Ich mache etwas Dummes, zum Beispiel spät nach Hause kommen, du wirst wütend und rennst weg. Ich komme zu dir, entschuldige mich und mache alles wieder gut?«

Shane schaute sie überrascht an, dann sagte er: »Na ja, irgendwie funktioniert das so bei mir, ja.«

Claire dachte an Michael, daran, dass er sie plötzlich wie eine Erwachsene behandelte. Sie setzte sich neben Shane auf das Bett und starrte ein paar Sekunden lang den Fußboden an, bis sie den Mut aufbrachte, den Ärmel zurückzuschieben und das Armband zu enthüllen.

Shane gab keinen Laut von sich. Er setzte sich langsam auf, wobei er auf das schimmernde goldene Band mit dem Symbol der Gründerin stierte.

»Wir müssen reden«, sagte sie. Sie fühlte sich elend und verängstigt, aber sie wusste, dass es die richtige Entscheidung war. Die einzige andere Möglichkeit wäre gewesen zu lügen, aber sie konnte nicht immer weiterlügen. Michael hatte recht.

Shane hätte alles tun können – wegrennen, sie aus dem Zimmer werfen. Er hätte sie sogar schlagen können.

Stattdessen nahm er ihre Hand in seine, senkte den Kopf und sagte: »Erzähl es mir.«

***

Eve war nicht so verständnisvoll. »Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?« Sie packte den nächstbesten Gegenstand, um ihn zu werfen – zufällig war es der Controller der Playstation und Shane nahm ihn ihr rasch und vorsichtig aus der Hand. Claire dachte, dass er sich wahrscheinlich nicht so schnell bewegt hätte, wenn sich Eve – sagen wir mal, ein Buch geschnappt hätte.

»Lasst uns wie Erwachsene damit umgehen«, sagte Michael. Sie waren wieder unten, alle zusammen, auch wenn Shane und Michael noch immer unterschiedlicher Meinung waren. Es war schon spät – fast elf – und Claire spürte die Anstrengung eines sehr langen, harten Tages. Sie gähnte, woraufhin ihr Eve einen total verärgerten Blick zuwarf.

»Oh, tut mir leid, musst du ins Bett? Michael, wie zum Teufel sollen wir wie Erwachsene damit umgehen, wenn eine von uns nicht erwachsen ist?« Eve deutete mit zitterndem Finger auf sie. »Du bist noch ein Kind, Claire. Du bist ein Volltrottel, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist und erst seit ein paar Monaten in dieser Stadt lebt. Du hast keinen blassen Schimmer davon, was du tust!«

»Vielleicht nicht«, stimmte Claire zu. Ihre Stimme klang beinahe fest, was sie selbst überraschte und erfreute. Sie mochte es nicht, wenn Eve böse auf sie war. Sie mochte es nie, wenn jemand böse auf sie war. »Tatsache ist aber, dass ich es getan habe. Ich habe die Entscheidung getroffen, die Diskussion war schon beendet, bevor wir überhaupt damit angefangen haben. Ich wollte nur, dass ihr Bescheid wisst.« Sie wechselte einen kurzen Blick mit Michael. »Ich wollte euch nicht anlügen.«

»Warum nicht, verdammt noch mal? Hier lügt doch jeder. Michael hat uns angelogen, als er ein Geist war. Shane lügt die ganze Zeit wegen irgendeinem Mist. Warum lügst du nicht auch?«

Shane stöhnte. »Hey, Miss Hysteria, komm mal ein bisschen runter. Irgendwo da draußen ist Amy Winehouse und möchte ihren Tobsuchtsanfall zurückhaben.«

»Oh, als würdest du nicht jedes Mal sofort ausrasten, wenn jemand deinen Angst-Schalter drückt!«

Hilflos schaute Claire Michael an, der mühsam ein Lächeln unterdrückte. Er zuckte die Schultern und machte einen Schritt nach vorn. Natürlich bedeutete das, dass Shane zurückwich. »Eve«, sagte Michael und ignorierte Shane für einen Augenblick. »Zeig diesem Mädchen ein bisschen Anerkennung. Immerhin hat sie es dir gesagt und du musstest es nicht erst selbst herausfinden.«

»Ja, aber mir hat sie es als Letztes gesagt!« Eve funkelte die beiden Jungs an und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich bin ihr Freund«, sagte Shane und streckte die Handflächen aus.

»Ich bin ihr Vermieter«, stimmte Michael ein.

»Mist«, seufzte Eve. »Na schön, wenn du das nächste Mal deine Seele dem Teufel verkaufst, bin ich die Erste, die davon erfährt! Frauensolidarität, okay?«

»Ähm – okay?«

»Volltrottel«, seufzte Eve geschlagen. »Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast. Ich habe so hart dafür gearbeitet, von diesem Schutz-Quatsch wegzukommen, und dann kommst du und bist total... unter Schutz. Ich wollte doch nur, dass du außer Gefahr bist. Und ich bin mir nicht sicher, dass du das jetzt bist.«

»Ja«, sagte Claire. »Ich auch nicht. Aber ich schwöre, dass es das Beste war, was mir eingefallen ist. Und zumindest ist es Amelie. Sie ist okay, oder?«

Sie schauten sich gegenseitig an. Shane sagte: »Aber du wirst uns nicht sagen, was du für sie tun musst, wenn du so spät nach Hause kommst.«

»Nein. Ich... ich kann nicht.«

»Dann ist sie nicht okay«, sagte Shane. »Und du auch nicht.«

Aber keiner von ihnen hatte einen guten Vorschlag, wie man das lösen könnte, und Claire schlief auf der Couch ein, den Kopf in Shanes Schoß gebettet, während Shane, Michael und Eve redeten und redeten und redeten. Um drei Uhr nachts wachte sie auf. Shane hatte sich nicht gerührt, aber sie war zugedeckt und er schlief tief und fest im Sitzen.

Claire gähnte, stöhnte über ihre schmerzenden Muskeln und rappelte sich auf. »Shane. Hoch mit dir. Du musst ins Bett.«

Er war süß, wenn er aufwachte, ganz benommen vom Schlafen. »Kommst du mit?«, fragte er, nur halb im Spaß. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich in ihrem Bett zusammengerollt hatten, als sie sich so gefürchtet hatte; er war damals vorsichtig gewesen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie sich um drei Uhr morgens, wenn er nur halb wach war, auf diese Art von Selbstbeherrschung verlassen konnte.

»Ich kann nicht«, sagte sie widerstrebend. »Nicht, dass ich nicht wollte...«

Er lächelte und streckte sich auf seiner Seite der Couch aus. Dabei ließ er einen schmalen Streifen zwischen seinem warmen, festen Körper und den Kissen frei. »Bleib noch«, sagte er. »Ich verspreche, dass alle Klamotten anbleiben. Na ja, abgesehen von den Schuhen vielleicht. Zählen Schuhe als Klamotten?«

Sie schleuderte ihre Schuhe von sich und kletterte über ihn, um in den schmalen Spalt zu gleiten. Dann seufzte sie erleichtert, als er seinen Körper gegen den ihren drückte. Sie brauchte nicht einmal die Decke, aber er breitete sie dennoch über sie beide aus, danach strich er ihr Haar vom Hals nach hinten und küsste sie auf ihre weiche, verletzliche Haut.

»Du wolltest gehen«, flüsterte sie. Er hielt inne. Soweit sie sagen konnte, hielt er sogar den Atem an. »Du wolltest gehen und wusstest nicht einmal, ob ich okay bin.«

»Nein, ich wollte nach dir suchen.«

»Nachdem du gepackt hattest.«

»Claire, ich wusste nicht einmal, dass du noch nicht nach Hause gekommen warst, bis Eve nach oben kam, um mich anzuschreien. Ich wollte nach dir suchen.«

Sie schaute sich über ihre Schulter zu ihm um und sah die Verzweiflung in seinen Augen.

»Bitte«, sagte er. »Bitte glaub mir.«

Gegen ihren Willen, sogar gegen ihr besseres Wissen, glaubte sie ihm tatsächlich. Sie fühlte sich sicher, gewappnet gegen die unruhige Welt durch die Hitze seines Körpers, der sich an ihren schmiegte.

Sein Arm wanderte um ihre Hüfte herum und sie fühlte sich vollkommen behütet.

»Ich lasse nicht zu, dass dir etwas zustößt«, sagte er. Es war ein Versprechen, das er vermutlich nicht halten konnte, aber jetzt gerade, mitten in der Nacht, bedeutete es ihr alles. »Hey.«

»Was?«

»Wollen wir ein bisschen Spaß haben?«

Sie wollte.

***

Sie musste wohl eingeschlafen sein, denn sie wachte mit klopfendem Herzen auf und spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Als sie aufschreckte, dachte sie einen Augenblick lang, sie hätte Rauch gerochen, deshalb geriet sie in Panik und setzte sich mit einem Ruck auf. Das Haus hatte schon einmal fast gebrannt...

Nein, kein Feuer. Aber irgendetwas stimmte definitiv nicht. Etwas in der Gesamtatmosphäre des Hauses. Der Rauch war eine Art Signal gewesen, ein Zeichen, das ihr das Haus gegeben hatte. Ein Schwing-deinen-Hintern-aus-dem-Bett-Signal.

Shane lag noch immer neben ihr auf der Couch, aber er war auch schon wach und rappelte sich in der nächsten Sekunde auf, als hätte er es auch gespürt.

»Was geht da vor?« Claire durchfuhr es wie ein Stromschlag. »Shane?«

»Da stimmt etwas nicht.«

Sie erstarrten beide, als sie ganz plötzlich eine Sirene aufheulen hörten. Es klang, als wäre sie direkt vor dem Haus.

Claire hörte Schritte auf der Treppe und sah Eve in einem Satinnachthemd und einem flauschigen schwarzen Morgenrock herunterkommen. Eve trug keinerlei Goth-Make-up, hatte gerötete Wangen und sah besorgt und ängstlich aus.

»Was ist das?«, rief Eve. »Was ist da los?«

»Ich weiß nicht«, sagte Shane. »Etwas Schlimmes. Merkst du das nicht auch?«

Ein echtes Ereignis, dass sie alle schon wach waren, obwohl es kaum sechs Uhr morgens war.

Eve flog die Stufen herunter und riss an der Kordel, um die Jalousien an den Fenstern zum Vorgarten zu öffnen. Sie schauten alle hinaus. Mitten auf der Straße stand ein Polizeiwagen, die Sirene heulte noch immer. Seine Lichter warfen einen kreisrunden Lichtschein auf eine rötlich braune Limousine, die mit offener Fahrertür auf der Straße stand. Die Scheinwerfer waren noch an und daneben lag jemand auf der Straße.

Die Fenster waren dunkel getönt.

Es war ein Vampirauto.

Eve schrie auf, wirbelte herum und schaute sie mit großen, entsetzten Augen an. »Wo ist Michael?«, fragte sie und Claire drehte sich blödsinnigerweise um, als könnte er direkt hinter ihr stehen.

Sie schauten alle wieder auf die Straße, das Auto, den leblosen Körper.

»Das kann nicht sein«, flüsterte Claire. Shane sprintete bereits zur Tür, aber Eve stand einfach nur da und starrte wie betäubt hinaus. Claire legte den Arm um sie und fühlte, dass sie zitterte.

Sie sah, wie Shane durch das Gartentor im Zaun preschte und auf den leblosen Körper zurannte; der Cop, der gerade aus dem Streifenwagen aufgetaucht war, packte ihn, wirbelte ihn herum und knallte ihn mit dem Gesicht voraus auf die Motorhaube. Shane brüllte etwas.

»Ich muss da raus«, sagte Claire. »Bleib hier.«

Eve nickte abwesend. Claire ließ sie ungern allein dort stehen, aber Shane würde es noch schaffen, verhaftet zu werden, wenn er so weitermachte, und wer weiß, was ihm im Gefängnis zustoßen konnte?

Sie war erst an der Veranda, als ein weiteres Polizeiauto um die Ecke bog und mit Blaulicht und heulender Sirene zum Chaos beitrug. Es bremste neben dem ersten Wagen und ein Polizist stieg aus und ging zu seinem Kollegen, der Shane in Schach hielt.

Claire kannte den ersten Cop nicht, der Shane mit dem Gesicht nach unten auf die Motorhaube drückte, aber sie kannte den Neuankömmling. Es war Richard Morrell, Monicas großer Bruder. Er war nicht übel, auch wenn er aus derselben widerwärtigen Sippschaft stammte. Er löste den anderen Cop ab, der zurücktrat.

»Shane! Verdammt noch mal, Shane, jetzt komm schon runter! Das ist ein Tatort. Ich kann dich nicht hier draußen rumrennen lassen, kapierst du das nicht? Beruhige dich!«

Richard war damit beschäftigt, Shane unter Kontrolle zu halten, deshalb kauerte sich der andere Polizist neben dem leblosen Körper auf der Straße nieder. Neben der Leiche. Claire trat einen Schritt näher. Der Polizist holte eine Taschenlampe heraus und richtete sie auf das Gesicht des Mannes, der am Boden lag. Rotes Haar schimmerte im Lichtschein.

Nicht Michael.

Sam.

Ein Pfahl steckte in seiner Brust und er war still und weiß. Er rührte sich nicht.

»Richard!«, brüllte der Cop. »Es ist Sam Glass! Sieht tot aus!«

»Sam«, flüsterte Claire. »Nein.«

Sam war nett zu ihr gewesen und jemand hatte ihn aus seinem Auto gezerrt und ihm einen Pfahl in die Brust gerammt.

»Shit«, fauchte Richard. »Shane, setz dich auf deinen Hintern. Runter, aber flott. Zwing mich nicht, dir Handschellen anzulegen.« Er packte Shane am Kragen seines T-Shirts und setzte ihn auf den Bordstein, starrte ihn einen Moment lang an und kam dann herüber, um sich Sam anzuschauen. »Heilige Maria... nimm seine Füße.«

»Was?« Der andere Cop – auf seinem Namensschild stand Fenton – schaute ihn finster an. »Das ist ein Tatort, wir können nicht...«

»Er ist noch am Leben, du Vollidiot. Nimm seine verdammten Füße, Fenton! Wenn er brennt, ist er tot.«

Die ersten Sonnenstrahlen krochen über den Horizont und fielen auf Sams reglosen Körper.

»Worauf wartest du noch?«, schrie Richard. »Heb ihn hoch!« Nach einem ausdruckslosen Zögern packte der andere Cop Sam an den Füßen. Richard nahm ihn unter den Armen und gemeinsam warfen sie ihn buchstäblich in die Limousine mit den getönten Scheiben und schlugen die Tür zu. Fenton machte sich auf den Weg zur Fahrerseite, aber Richard kam ihm zuvor. »Ich fahre«, sagte Richard. »Die Wunde ist noch frisch. Er hat noch eine Chance, wenn wir ihn zu Amelie bringen können.«

Fenton trat zurück. Richard warf den Motor an und knallte die Tür zu, während er bis zum Ende der Straße Gummi gab.

Officer Fenton glotzte Shane an. »Willst du mir Stress machen, Junge?«, fragte er. Claire hoffte, nicht. Der Mann war doppelt so groß wie Richard Morrell und doppelt so alt. Außerdem sah er aus wie ein menschlicher Pitbull.

Shane hob die Hände. »Kein Stress von mir, Officer. Sir.«

»Habt ihr zwei gesehen, was hier passiert ist?«

»Nein«, sagte Claire. »Ich habe geschlafen. Wir haben alle geschlafen.«

»Alle im selben Zimmer?«, grunzte der Cop und musterte sie von den verwuschelten Haaren bis hinunter zu den zerknitterten Klamotten. »So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.«

Ein paar Sekunden lang kam sie nicht dahinter, wie er das meinte, dann überkam sie eine Woge heißer Verlegenheit.

»Nein, ich meine...Eve war in ihrem eigenen Zimmer. Wir sind auf der Couch eingeschlafen.«

Shane sagte: »Ja, wir haben alle geschlafen. Wir sind von der Sirene aufgewacht.« Was nicht ganz stimmte, oder? Sie waren aufgewacht und hatten dann die Sirene gehört. Aber Claire hatte nicht das Gefühl, dass das wichtig sein könnte.

Der Cop tippte auf ein Handgerät, sein Gesicht war noch immer finster. »Ihr sollt zu viert in dem Haus wohnen. Wo sind die anderen beiden?«

»Eve ist noch drin. Und Michael...«Wo zum Teufel steckte Michael? »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Ich gehe nachsehen, ob er in seinem Zimmer ist«, bot Shane an, aber der Cop nagelte ihn mit einem weiteren, zutiefst finsteren Blick fest.

»Du lässt deinen Hintern auf diesem Bordstein und hältst die Klappe. Du, wie heißt du?«

»Claire Danvers.«

»Geh da rein, Claire, und finde heraus, ob Michael Glass im Haus ist. Wenn nicht, dann schau nach, ob sein Auto weg ist.«

Claire starrte ihn mit großen Augen an. »Sie glauben doch wohl nicht...?«

»Ich glaube gar nichts, bevor ich nicht die Fakten habe. Ich muss wissen, wer da ist und wer nicht, und auf dieser Basis muss ich arbeiten.« Der Cop ließ seinen düsteren Blick zu Shane schweifen, der zum Aufstehen ansetzte. »Ich habe gesagt, du sollst dich auf deinen Hintern setzen, Collins.«

»Ich habe nichts damit zu tun!«

»Wenn ich eine Liste mit Hauptverdächtigen zusammenstellen sollte, die Vampire pfählen könnten, würdest du ganz oben stehen, deshalb hast du sehr wohl etwas damit zu tun. Setz dich.«

Shane setzte sich, er war außer sich. Claire flehte ihn insgeheim an, keine Dummheiten zu machen, und rannte zurück ins Haus. Eve war oben und zog sich gerade an – ein schwarzes Babydoll-T-Shirt, auf dem ein mit Klunkern aufgemotzter Elmer Fudd abgebildet war, schwarze Jeans und klobige Doc Martens.

»Es war nicht...«

»Ich weiß. Ich habe es gesehen«, sagte Eve. Ihre Stimme klang erstickt, als hätte sie geweint oder würde gleich damit anfangen. »Es war Sam, oder? Ist er am Leben? Oder – was auch immer?«

»Ich weiß nicht. Richard sagte etwas davon, dass er es schaffen könnte.« Claire umklammerte fest den Türknauf und schaute den Flur hinunter. Michaels Tür war zu. Sie war immer zu. »Hast du...?«

»Nein.« Eve holte tief Luft und stand auf. »Ich komme mit.«

Michaels Tür war nicht abgeschlossen, im Zimmer war es vollkommen dunkel. Claire knipste die Lichter an. Michaels Bett war leer und sorgfältig gemacht, das Zimmer sah völlig normal aus. Eve überprüfte die Schränke, schaute unter das Bett und ins Badezimmer.

»Keine Spur von ihm«, sagte sie atemlos. »Komm, wir schauen in der Garage nach.«

Die Garage war ein frei stehender Schuppen hinter dem Haus. Die beiden gingen durch die Küche zur Hintertür hinaus und überquerten die zerfurchte Einfahrt. Die Türen des Schuppens waren geschlossen.

Eve öffnete die eine Seite, Claire die andere.

Michaels Auto war weg.

»Wie steht’s mit Arbeit? Könnte er bei der Arbeit sein?«

»TJ’s macht erst um zehn auf«, sagte Eve. »Warum sollte er schon um sechs dort sein?«

»Inventur?«

»Du glaubst, sie lassen einen Vampir um sechs Uhr morgens antanzen, um Inventur zu machen?« Eve knallte die Schuppentür zu und trat ordentlich dagegen. »Wo steckt er, verdammt noch mal? Und warum zum Teufel habe ich kein funktionierendes Handy? Warum hast du keins?«

Ihres war verloren gegangen, Eves war kaputt. Sie schauten sich einen Moment lang kläglich an, dann gingen sie wortlos zum Vorgarten, wo Shane noch immer auf dem Bordstein saß. Wenn man rebellisch dasitzen konnte, dann tat Shane das gerade.

»Gib mir dein Handy«, forderte Eve und streckte die Hand aus. Shane schaute sie an und runzelte die Stirn. »Sofort, Volltrottel. Michael ist nicht im Haus und sein Auto ist weg.«

»Michael hat ein Auto? Seit wann?«

»Seit ihm die Vampire eines zur Verfügung gestellt haben. Hat er dir das nicht erzählt?«

Shane schüttelte den Kopf, in seinem Kiefer zuckte ein Muskel. »Einen Scheiß erzählt er mir, Eve. Nicht seit...«

»Nicht seit du ihn behandelst, als wäre er der Teufel persönlich? Ja. Stell dir mal vor.«

Schweigend reichte er ihr sein Handy und sah weg, er starrte auf die Stelle auf der Straße, auf die man Sam geworfen hatte. Claire fragte sich, ob er über den Kreuzzug seines Dads nachdachte und darüber, dass seiner Meinung nach nur ein toter Vampir ein guter Vampir war.

Claire fragte sich, ob er ganz tief drinnen wirklich noch dieser Meinung war.

Eve wählte und hielt sich das Telefon ans Ohr. Ein paar angespannte Sekunden lang geschah nichts, dann bemerkte Claire, wie sich die Anspannung in Eves Gesicht und Körper langsam löste. »Michael! Wo zum Teufel steckst du?« Pause. »Wo?« Pause. »Oh. Okay. Ich muss dir etwas sagen...« Pause. »Weißt du.« Pause. »Ja, wir sprechen... später.«

Eve klappte das Handy zu und gab es zurück. Shane schob es wieder in seine Tasche und hob fragend die Augenbrauen.

»Er ist okay«, sagte sie. Ihre Augen waren dunkel und schmal geworden.

»Und?«

»Und nichts. Es geht ihm gut. Punkt, aus, Ende.«

»Erzähl keinen Mist«, sagte Shane und zog sie herunter, sodass sie neben ihm auf dem Bordstein zum Sitzen kam. »Raus damit, Eve. Jetzt.«

Claire setzte sich auf Eves andere Seite. Der Bordstein fühlte sich kalt und hart an, aber das Gute war, dass der Streifenwagen jetzt Fenton den Blick auf sie verstellte. Er sprach mit den Insassen eines anderen Autos, ebenfalls ein Vampirauto mit getönten Scheiben, das hinter den Streifenwagen gefahren war.

»Er war in der Stadt«, sagte Eve. »Beim Ältestenrat. Sie haben ihn in den frühen Morgenstunden einberufen.«

»Wer?«

»Die Großen Drei.« Oliver, Amelie und der Bürgermeister, Richards und Monicas Dad. »Amelie hat gerade erst von Sam erfahren. Aber Michael ist nicht verletzt oder so.« Ein unausgesprochenes »bis jetzt« schwang in ihren Worten mit. Eve war besorgt. Sie beugte sich näher zu Shane hinüber, senkte die Stimme noch weiter und sagte: »Du hast nichts damit zu tun, was Sam zugestoßen ist, oder?«

»Himmel noch mal, Eve!«

»Ich frage nur, weil...«

»Ich weiß, warum du fragst«, flüsterte er grimmig zurück. »Nein, zum Teufel. Wenn ich hinter einem Vampir her wäre, dann nicht ausgerechnet hinter Sam. Ich hätte Oliver gepfählt, damit es sich lohnt. Apropos Oliver, er wäre mein Verdächtiger Nummer eins.«

»Vampire töten ihresgleichen nicht.«

»Er hat Brandons Tod arrangiert«, sagte Claire. »Ich glaube, Oliver wäre zu allem fähig. Und es würde ihm gefallen, wenn Amelie noch isolierter wäre.« Sie schluckte schwer. »Sie hat einmal zu mir gesagt, dass es sicherer für Sam sei, wenn er nicht in ihrer Nähe wäre. Ich glaube, sie hatte recht.«

»Das spielt keine Rolle. Oliver macht sich die Hände nicht schmutzig, egal worum es geht. Irgendein Mensch, der sowieso schon am Arsch ist, wird dafür brennen, und das weißt du«, sagte Shane. »Und es ist direkt vor unserem Haus passiert und niemand hat die Sache mit meinem Dad vergessen. Glaubst du nicht, dass man das uns in die Schuhe schieben wird?«

Mist. Shane hatte recht. Dass Michael in Sicherheit war, war gut, aber es war auch ein zweischneidiges Schwert. Es bedeutete, dass Michael nicht da war, als Sam angegriffen wurde.

Und Michael war der Einzige, dessen Wort bei den Vampiren möglicherweise etwas galt.

Und tatsächlich kam Fenton um den Streifenwagen herum und starrte die drei einen Augenblick lang an, bevor er sagte: »Ihr werdet zum Verhör einberufen. Alle drei. Steigt hinten ein.«

Shane rührte sich nicht. »Ich gehe nirgendwohin.«

Der Polizist seufzte und lehnte sich gegen die Seite des Autos. »Du hast eine Menge Stolz, mein Sohn, und das respektiere ich. Aber damit wir uns richtig verstehen: Entweder du steigst jetzt in mein Auto oder du steigst in ihr Auto.« Er deutete auf die stille dunkle Limousine, in der die Vampire saßen. »Und ich kann dir prophezeien, dass das kein so gutes Ende nehmen wird. Verstanden?«

Shane nickte, stand auf und reichte Eve die Hand.

Claire blieb sitzen. Sie zog ihren linken Ärmel hoch. Das Armband schimmerte und glitzerte in der Morgensonne und sie hielt es Fenton direkt unter die Nase.

Seine Augen weiteten sich. »Ist das...?«

»Ich will meine Schutzpatronin sehen«, sagte Claire. »Bitte.«

Er ging weg, um in sein Funkgerät zu sprechen, dann kam er zurück und machte eine Kopfbewegung zu Shane und Eve hin. »Auf den Rücksitz mit euch«, sagte er. »Ihr kommt mit auf die Polizeistation. Du, Mädchen...«Er nickte zu der anderen Limousine hin. »Sie bringen dich zu Amelie.«

Claire schluckte schwer und wechselte einen Blick mit Shane, danach mit Eve. Das war nicht ihr Plan gewesen. Sie wollte, dass sie alle zusammenblieben. Wie konnte sie sie beschützen, wenn sie getrennt wurden?

»Tu’s nicht«, sagte Shane. »Komm mit uns.«

Ehrlich gesagt klang das nach der besseren Idee. Die Vampire würden nicht besonders glücklich sein und das Armband würde sie nicht vom Verdacht befreien. Amelie konnte trotzdem befehlen, dass man ihr wehtat oder sie tötete.

»Okay«, sagte Claire. Shane sah mächtig erleichtert aus, als er seinen Kopf einzog und auf den Rücksitz des Streifenwagens kletterte. Eve folgte ihm.

Der Cop knallte hinter Eve die Tür zu, bevor Claire in das Polizeiauto einsteigen konnte.

»Hey!«, brüllte Shane und schlug gegen das Autofenster. Er und Eve versuchten beide herauszukommen, aber die Türen ließen sich nicht öffnen.

Fenton packte Claire am Arm und zerrte sie hinüber zu der Limousine, öffnete die Tür und schob sie auf den Rücksitz, noch bevor sie protestieren konnte. Claire hörte das leise Klicken einrastender Schlösser und rührte sich nicht, während sie versuchte, in der Finsternis etwas zu erkennen.

Einer der Vampire schaltete die Innenbeleuchtung an. Oh Shit. Die beiden gehörten nicht gerade zu ihren Lieblingsvampiren. Die Frau war weiß wie Schnee, sie hatte weißblonde Haare und sehr blasssilberne Augen. Gretchen. Ihr Partner, Hans, war ein harter, kantiger Mann mit kurzem, ergrauendem Haar und steinerner Miene.

»Ich wünschte, wir hätten stattdessen den Jungen abgekriegt«, sagte Gretchen offensichtlich enttäuscht. Sie hatte eine tiefe, kehlige Stimme und einen starken, fremdländischen Akzent. Nicht direkt deutsch, aber auch nicht direkt was anderes. Ein alter Akzent, dachte Claire. »Er war so unhöflich zu uns, als wir das letzte Mal mit ihm gesprochen haben. Seinem Vater müsste eine Lektion erteilt werden, wenn schon nicht dem Jungen.«

»Amelie sagte, wir sollten nur die da mitbringen«, sagte Hans und legte einen Gang ein. Er schaute Claire im Rückspiegel an. »Anschnallen, bitte.«

Es fiel ihr schwer, das zu kapieren – warum sorgte er sich darum? – aber sie ließ den Sicherheitsgurt einrasten und lehnte sich zurück. Wie auf der Fahrt mit Sam am Vortag konnte sie draußen überhaupt nichts erkennen, außer einem schwachen grauen Punkt, dort wo die Sonne aufging.

»Wohin bringen Sie mich?«, fragte sie. Gretchen lachte. Claire sah ihre Vampirzähne aufblitzen, aber Gretchen brauchte sie eigentlich nicht, um furchterregend auszusehen. Ganz und gar nicht.

»Zum Ältestenrat«, sagte sie. »Bestimmt erinnerst du dich daran, Claire. Du hattest so eine schöne Zeit, als wir das letzte Mal dort waren.«