3

 

Der Unterricht am Morgen lief gut und Claire hing in den Pausen in der Cafeteria herum, wo Eve ihren Arbeitstag hinter der Theke verbrachte. Eve machte das gut – sie war ruhig, effektiv und scheinbar immun gegen die Unverschämtheiten vieler Studenten. Claire hatte herausgefunden, dass die unhöflichen unter ihnen meistens unter Schutz standen; es war also eine Frage des Standes. Eve hatte sich dafür entschieden, kein Schutzabkommen mit einem Vampir zu schließen, und diejenigen, die das getan hatten, schauten auf sie herab.

Oder sie waren einfach nur gehässig. Was ebenso vorkam. Man musste keinen Kontakt zu Vampiren haben, um ein arroganter Idiot zu sein.

Eve arbeitete heute mit einem anderen Mädchen, das Claire nicht kannte; ihr langes, glattes braunes Haar fiel ihr schimmernd wie ein Vorhang über die Schulter. Sie trug es offen, aber das war wohl in Ordnung, da sie nicht direkt mit den Getränken oder so arbeitete, sondern nur Bestellungen aufnahm. Auf ihrem Namensschildchen stand Amy und sie sah fröhlich und nett aus. Sie und Eve unterhielten sich wie Freundinnen, was gut war. Eve brauchte das. Claire schlug die Zeit zwischen den Unterrichtsstunden tot, indem sie in ihrem Lehrbuch für Englische Literatur blätterte – langweilig – und einem Buch über Stringtheorie für Fortgeschrittene – nicht langweilig –, das sie aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Ihr gefiel die Vorstellung, dass schwingende Saiten die Grundlage aller Dinge sein könnten, dass es alle möglichen Arten von vibrierenden Oberflächen geben könnte. Das machte die Welt... aufregender. Immer in Bewegung.

Ihre Uhr piepste und erinnerte sie daran, dass sie zu spät zum Unterricht kommen würde, wenn sie sich nicht beeilte, deshalb raffte sie ihre Sachen zusammen, winkte Amy und Eve zu und eilte aus der Cafeteria hinaus in die warme Nachmittagssonne.

Als sie so in das gleißende Licht blinzelte, prallte sie mit Monica zusammen. Die kam gerade die Treppe herauf, als sie hinunterrannte. Claire streckte automatisch die Hand aus, um der anderen Halt zu geben, als diese schwankte, aber dann dachte sie: Was tue ich da eigentlich? Monica hatte sich nämlich einmal fast totgelacht, als Claire die Treppe hinuntergestürzt war und sich beinahe den Schädel dabei eingeschlagen hätte.

»Hey, mach doch die Augen auf, blöde Kuh!«, blaffte Monica und schaute dann genauer hin. »Claire? Oh, hi. Süßes T-Shirt!«

Claire schaute verblüfft an sich hinunter. Es war nicht süß. Sie hatte eigentlich gar keine Klamotten, die sie als »süß« einstufen würde, und selbst die besten, die sie hatte, würden Monicas hohen Ansprüchen niemals genügen.

»Bist du auf dem Weg zum Unterricht?«, fuhr Monica strahlend fort. »Schade, ich hätte dich gern zu einem Mochaccino oder so eingeladen.«

»Ich – äh – ja, ich habe jetzt Unterricht«, wand sich Claire heraus und versuchte, die Treppe hinunterzugehen, aber Monica verstellte ihr den Weg. Monicas Lächeln war freundlich, aber es drang nicht bis zu ihren schönen, großen Augen vor. »Ich komme zu spät.«

»Eine Sache«, sagte Monica und senkte die Stimme. Claire fiel auf, dass es fast das erste Mal war, dass sie Monica allein sah und nicht von Gina und Jennifer flankiert. »Ich gebe am Freitagabend eine Party. Kannst du kommen? Zu Hause bei meinen Eltern. Hier ist die Adresse.« Bevor Claire reagieren konnte, drückte ihr Monica einen Zettel in die Hand. »Häng es nicht an die große Glocke, okay? Ich frage nur die Besten. Oh, und zieh dir was Hübsches an; es ist förmlich.«

Und dann war sie weg, sie flitzte die Treppe hinauf und schloss sich einer Gruppe von Mädchen an, mit der sie quatschend und lachend ins verglaste Atrium ging.

Nur die Besten? Claire betrachtete den Zettel und dachte darüber nach, ihn wegzuwerfen, aber dann steckte sie ihn in die Tasche.

Vielleicht war das ja eine wunderbare Gelegenheit, Monica davon zu überzeugen, dass sie nie so etwas wie eine Freundin sein würde.

Sie beeilte sich auf ihrem Weg zum Unterricht und hielt dabei die Augen offen. Als sie die Typen entdeckte, nach denen sie Ausschau gehalten hatte, verließ sie den Gehweg und ging über den Rasen.

Spieler. Freaks. Sie saßen fast den ganzen Nachmittag über draußen, würfelten und schoben Spielsteine auf kompliziert aussehenden Brettern umher. Seit Wochen sah sie sie jeden Tag und in all der Zeit hatte sie niemals Mädchen bei ihnen oder auch nur in ihrer Nähe gesehen. Als sie sich räusperte, starrten sie Claire an, als sei sie ein Alien von einem der Planeten auf ihrem Spielbrett.

»Hi«, sagte sie und hielt ihnen einen Zettel hin. »Ich heiße Monica. Am Freitagabend schmeiße ich eine Party, vielleicht wollt ihr ja kommen. Ihr könnt es auch gern euren Freunden weitersagen.«

Einer von ihnen streckte die Hand aus und nahm vorsichtig den Zettel. Ein anderer riss ihn an sich, las ihn und sagte: »Wow. Echt?«

»Echt.«

»Können wir noch ein paar Leute mitbringen?«

»Nur zu.«

Claire machte sich auf den Weg zum Unterricht.

***

»Claire Danvers?«

Es war die letzte Stunde für heute und Claire sah erschrocken von ihrem Block auf, auf den sie gerade das Datum geschrieben hatte. Der Professor führte normalerweise keine Liste. Eigentlich wirkte er immer so, als wäre es ihm egal, wer auftauchte. Manchmal kam fast niemand. So wie heute – mit ihr waren es um die zwölf Leute. Eigentlich war es auch sinnlos, gerade diese Stunde zu besuchen, da Professor Wie-auch-immer-er-hieß Punkt für Punkt von seiner PowerPoint-Präsentation ablas, die er dann nach dem Unterricht auf seiner Website allen zugänglich machte. Kein Wunder, dass die meisten schwänzten.

Sie hob die Hand und fragte sich, was los war. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die Party-Einladung an die Freak-Show weitergereicht hatte, aber nein, wie hätte das so schnell auffliegen sollen? Und außerdem – wen außer Monica würde das schon kümmern?

Der Professor – grau, faltig, müde und begeisterungslos – starrte sie einen Augenblick lang an, ohne sie zu erkennen, dann sagte er: »Sie sollen in die Verwaltung kommen, Zimmer dreihundertsiebzehn. Gehen Sie.«

»Aber...«, Claire wollte fragen, was los war, doch er hatte sich schon von ihr abgewandt und wieder seiner PowerPoint-Präsentation gewidmet, die er monoton herunterleierte. Sie stopfte ihre Bücher in die Tasche und verließ ohne Bedauern den Raum.

Sie war zuvor genau dreimal im Verwaltungsgebäude gewesen – einmal, um sich einzuschreiben, einmal, um den Antrag zu stellen, aus dem Campuswohnheim in eine WG ziehen zu dürfen, und einmal um sich in ein paar neuen Fächern einzuschreiben. Das Verwaltungsgebäude hätte in jeder anderen Uni stehen können – es war schmuddlig und zweckmäßig und beherbergte lustlose, griesgrämige Angestellte, die an Schreibtischen saßen, auf denen sich die Aktenordner stapelten. Sie mied das Registrierbüro im Erdgeschoss und stieg die Treppe hinauf. Im ersten Stock war es ruhiger, aber auch hier redeten Menschen, klapperten Computertastaturen und summten Drucker.

Im zweiten Stock war es mäuschenstill. Claire ging den Flur entlang und es wurde noch stiller. Sie konnte nicht einmal mehr Geräusche von außerhalb der Fenster hören, auch wenn sie deutlich sah, dass dort Leute herumgingen und sich unterhielten und Autos durch die Straße brausten. Zimmer dreihundertsiebzehn lag am Ende des Korridors. All die glänzenden Holztüren waren fest geschlossen.

Sie klopfte an der dreihundertsiebzehn und glaubte, jemanden »herein« sagen zu hören, deshalb drehte sie am Türknauf und trat ein...in die Dunkelheit. Absolute, samtige Dunkelheit, in der sie auf der Stelle die Orientierung verlor. Der Türknauf rutschte ihr aus der Hand, die Tür fiel ins Schloss und sie konnte sie nicht wiederfinden. Alles, was sie fühlte, als sie tastend mit der Hand darüberfuhr, war eine eigenschaftslose, glatte Wand.

Hinter ihr erstrahlte ein Licht, und als sie sich umwandte, sah sie ein Streichholz aufflackern und einen Docht, der Feuer fing. Im Schein der Kerze schimmerte Amelies Gesicht so vollkommen wie Elfenbein.

Die Vampirälteste sah noch genauso aus wie immer: kühl, königlich und blass. Ihr weißblondes Haar war zu einer eleganten Frisur hochgesteckt, was bestimmt die Hilfe von Dienerinnen erfordert hatte. Sie trug ein weißes Seidenkostüm und ihre Haut war makellos. Claire konnte nicht feststellen, ob sie Make-up trug. Ihre Augen wirkten im Halbdunkel gespenstisch – leuchtend und nicht ganz menschlich, aber wunderschön.

»Bitte entschuldige die Dramatik«, sagte Amelie und lächelte sie an. Es war ein sehr schönes Lächeln, kühl und höflich. Claires Mutter liebte den Hitchcock-Film Das Fenster zum Hof und Claire stellte verblüfft fest, dass Grace Kelly genau so ausgesehen hätte, wenn sie zum Vampir geworden wäre. Eiskalt und perfekt. »Bemüh dich nicht, die Tür zu suchen. Sie bleibt verschwunden, so lange ich es wünsche.«

Claires Herz schlug schneller und sie wusste, dass Amelie das auch merkte, obwohl die Vampirin nichts dazu sagte; sie löschte nur das Streichholz und ließ es in eine silberne Schale fallen, die neben der Kerze auf dem Schreibtisch stand. Claires Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. Sie stand in einem recht kleinen Zimmer, das wie eine Art Bibliothek mit Büchern vollgestopft war. Vollgestopft war noch untertrieben – die Bücher standen in Doppelreihen auf den Regalen, stapelten sich auf Bücherschränken und waren in den Ecken zu unordentlichen Pyramiden aufgetürmt. Es waren so viele Bücher, dass das ganze Zimmer nach altem Papier roch. Man sah nichts mehr von der Wand, außer dort, wo Claire hereingekommen war; alles andere war von überfüllten, ächzenden Regalen bedeckt.

»Hallo«, sagte Claire verlegen. Sie hatte Amelie nicht mehr gesehen, seit sie den Schutz-Vertrag unterschrieben und wie befohlen in den Briefkasten vor dem Haus geworfen hatte. Sie hatte so etwas wie einen Besuch erwartet... aber bisher hatte sie nichts von ihr gehört. »Ähm – wie soll ich Sie eigentlich anreden?«

Amelie hob ihre feinen blassen Augenbrauen. »Ich weiß, dass der Begriff der guten Manieren im Schwinden begriffen ist, aber man sollte annehmen, dass dir zumindest irgendeine höfliche Anredeform einfallen würde, die angemessen wäre.«

»Ma’am«, stotterte Claire. Amelie nickte.

»Das sollte genügen.« Sie zündete eine weitere Kerze an. Das Licht wurde heller, flackerte, verbreitete aber einen warmen und willkommenen Schein. Claire bemerkte im Schatten eine andere Tür, sie war klein und hatte einen antiquierten Türknauf. In dem massiven Schloss steckte ein riesiger Schlüssel.

Niemand sonst war im Zimmer, nur sie und Amelie.

»Ich ließ dich rufen, um mit dir über dein Studium zu sprechen«, sagte Amelie und setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. Auf Claires Seite gab es keine Sitzgelegenheit, deshalb blieb sie verlegen stehen. Sie stellte den Rucksack ab und faltete die Hände.

»Ja, Ma’am«, sagte sie. »Sind meine Noten nicht okay?« Eine Eins-Komma-null genügte normalerweise den meisten Ansprüchen.

Amelie tat ihre Frage mit einer Handbewegung ab. »Ich sagte nichts von Unterricht, ich sagte Studium. Zweifellos findest du, dass das örtliche College unter deinem Niveau ist. Man sagt, du seist ziemlich bemerkenswert.«

Claire wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, deshalb sagte sie gar nichts. Sie wünschte, sie hätte einen Stuhl. Sie wünschte, sie könnte irgendetwas Nettes sagen, zurück zum Unterricht gehen und Amelie niemals wiedersehen, denn so höflich und gütig die alte Vampirin an der Oberfläche war, hatte sie doch etwas Eiskaltes an sich. Etwas beunruhigend Nichtmenschliches.

»Ich möchte, dass du bei einem Freund von mir Privatunterricht nimmst«, sagte Amelie. »Natürlich bekommst du dafür auch einen Schein.« Sie schaute sich um und lächelte leicht. »Das ist seine Bibliothek. Meine ist viel ordentlicher.«

Claires Kehle schnürte sich unangenehm zusammen. »Ein... ähm... Vampirfreund?«

»Tut das etwas zur Sache?« Amelie faltete ihre weißen Hände auf dem Tisch. Das Kerzenlicht flackerte in ihren Augen.

»N-nein, Ma’am.« Ja. Gott, sie wollte sich gar nicht ausmalen, was Shane zu diesem Rendezvous mit einem Unbekannten sagen würde.

»Ich glaube, du wirst ihn überaus interessant finden, Claire. Er gehört in der Tat zu den brillantesten Köpfen, denen ich in meinem ganzen langen Leben begegnet bin, und er selbst hat im Lauf seines Lebens so viel gelernt, dass er niemals alles weitergeben kann. Dennoch kann man viel von ihm lernen. Ich war auf der Suche nach dem richtigen Schüler für ihn, nach einem, der die Entdeckungen, die er gemacht hat, rasch begreift und ihm bei seinen Forschungen helfen kann.«

»Oh«, flüsterte Claire schwach. Ein alter Vampir also...Mit den älteren hatte sie nicht so gute Erfahrungen gemacht. Wie Amelie waren sie kühl und seltsam und die meisten von ihnen waren auch grausam. Wie Oliver. Oh Gott, sie sprach nicht von Oliver, oder? »Wer...?«

Amelie senkte den Blick. Aber nur einen Moment lang, dann schaute sie Claire in die Augen und lächelte. »Ihr habt euch noch nicht kennengelernt«, sagte sie. »Zumindest noch nicht offiziell. Sein Name ist Myrnin. Er ist einer meiner ältesten Freunde und Verbündeten. Du musst verstehen, Claire, dass du, seit du in Morganville bist, durch deine Taten, nicht zuletzt durch dein Abkommen mit mir, mein Vertrauen gewonnen hast. Ich würde diese Ehre niemandem gewähren, den ich nicht für würdig erachte.«

Schmeichelei. Claire erkannte das und wusste, dass die leichte Wärme in Amelies Stimme wahrscheinlich Berechnung war, aber trotzdem funktionierte es. Sie hatte dadurch weniger Angst. »Myrnin«, wiederholte sie.

»Es ist ein alter Name«, räumte Amelie als Reaktion auf Claires Tonfall ein. »Alt und inzwischen vergessen. Aber einst war er ein großer Gelehrter, er war bekannt und hoch geschätzt. Seine Arbeit sollte nicht in Vergessenheit geraten.«

Irgendetwas daran war seltsam, aber Claire war zu nervös, um herauszufinden, was Amelie ihr mitzuteilen versuchte. Oder nicht mitzuteilen. Sie bemühte sich, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, aber er hatte etwa die Größe eines vergifteten Apfels und schien immer größer zu werden. Sie konnte nur nicken.

Amelie lächelte. Es sah irgendwie künstlich aus, wie ein Gesichtsausdruck, den sie vor dem Spiegel geübt und nicht schon als Kind gelernt hatte. Lächeln war etwas, das ihr Gesicht nicht einfach von Natur aus konnte, entschied Claire. Und tatsächlich war das Lächeln innerhalb von Sekunden spurlos verschwunden.

»Wenn du bereit bist...?«

»Jetzt?« Claire warf unwillkürlich einen hilflosen Blick auf die leere Wand hinter ihr. Dort war keine Tür, und das bedeutete, dass es keine Fluchtmöglichkeit gab. Deshalb hatte sie eigentlich keine andere Wahl.

Amelie wartete ihre Antwort sowieso nicht ab. Die Eiskönigin stand auf und ging – voll und ganz die untote Grace Kelly – zu einer anderen kleinen und niedrigen Tür, in deren Schloss der Schlüssel steckte. Sie drehte den Schlüssel, zog ihn heraus und schaute einen Augenblick lang auf ihn hinab, bevor sie ihn Claire hinstreckte. »Behalte ihn«, sagte sie. »Lass deine Büchertasche bitte hier. Ich möchte nicht, dass du sie vergisst. Du wirst durch dieselbe Tür auch wieder hinausgehen.«

Claires Finger schlossen sich um den Schlüssel und registrierten das raue, kalte, schwere Metall. Sie stopfte ihn in die Tasche ihrer Jeans, als Amelie die Tür öffnete und ihren Rucksack gegen ein Bücherregal lehnte.

»Myrnin?« Amelies Stimme war leise und sanft. »Myrnin, ich habe das Mädchen mitgebracht, von dem ich dir erzählt habe. Ihr Name ist Claire.«

Claire kannte diesen Tonfall. Man verwendete ihn für alte, kranke Menschen, für Menschen, die nicht mehr richtig verstanden, was um sie herum vorging. Menschen, von denen man annahm, dass sie nicht mehr lange unter den Lebenden weilen würden. Ihn von Amelie zu hören, war wirklich seltsam, weil Claire auch die Liebe in dieser leisen Stimme bemerkte. Konnten Vampire lieben? Ja, logisch, dachte sie; Michael konnte es, oder? Warum also nicht auch Amelie?

Claire trat auf die gebieterische Geste der Vampirin hinter Amelie hervor und suchte unruhig das Zimmer ab. Es war groß und mit der seltsamsten Mischung aus Geräten und Ramsch vollgestopft, die sie je gesehen hatte. Ein brandneuer Breitbild-Laptop mit einer sich wiegenden Bauchtänzerin als Bildschirmschoner. Ein Abakus. Ein Chemiekasten, der aussah, als stamme er direkt aus einem alten Sherlock-Holmes-Film. Noch mehr Bücher, die nachlässig gestapelt Stolperfallen darstellten und sich auf allen Tischen türmten. Lampen – einige elektrisch, andere mit Öl. Kerzen. Flaschen und Gläser und Schatten und Winkel und...

Und ein Mann.

Claire blinzelte, weil sie eine alte, kranke Person erwartet hatte, so sehr, dass sie sich noch einmal umschaute, um sie zu finden. Aber der einzige Mann in dem Raum saß in einem Sessel und las seelenruhig ein Buch. Er markierte die Stelle mit dem Finger, schloss es und schaute zu Amelie auf.

Er war jung oder zumindest sah er so aus. Schulterlanges, lockiges braunes Haar, große dunkle Hundeaugen, makellose, leicht goldene Haut. Er war im Alter von vielleicht fünfundzwanzig Jahren stehen geblieben, gerade alt genug, dass sich Fältchen in seinen Augenwinkeln gebildet hatten. Darüber hinaus war er wirklich, wirklich... gut aussehend.

Und krank sah er auch nicht aus. Ganz und gar nicht.

»Ah, gut, ich habe dich schon erwartet«, sagte er. Er sprach englisch, hatte aber irgendeinen Akzent, den Claire nicht identifizieren konnte. Es klang ein bisschen wie Irisch, ein bisschen wie Schottisch... aber irgendwie flüssiger. Walisisch? »Claire, nicht wahr? Tritt ruhig näher, Mädchen, ich beiße nicht.« Er lächelte und anders als Amelies kühle Versuche war es ein warmer, echter Gesichtsausdruck voller Fröhlichkeit. Claire machte einige Schritte auf ihn zu. Sie fühlte, wie sich Amelie hinter ihr anspannte, und fragte sich, warum. Myrnin schien okay zu sein. Eher als jeder andere Vampir, den sie bisher getroffen hatte, abgesehen von Sam vielleicht, Michaels Großvater – und Michael, der jüngste Vampir in Morganville.

»Hallo«, sagte sie und erntete ein noch breiteres Lächeln.

»Sie spricht! Hervorragend. Ich kann niemanden gebrauchen, der kein Rückgrat hat. Sag mir, kleine Claire, magst du die Wissenschaften?«

Was für eine antiquierte Ausdrucksweise... die Wissenschaften. Man sagte normalerweise Wissenschaft oder nannte ein bestimmtes Gebiet wie Biologie oder Kernforschung oder Chemie. Immerhin wusste sie die angemessene Antwort. »Ja, Sir. Ich liebe die Wissenschaften.«

In seinen dunklen Augen funkelte leicht schalkhafter Humor. »Wie höflich du bist. Und Philosophie?«

»Ich – ich weiß nicht. An der Highschool hatten wir das nicht und auf dem College bin ich noch nicht so lang.«

»Wissenschaft ohne Philosophie ist Unsinn«, sagte er sehr ernst. »Und Alchemie? Weißt du darüber irgendetwas?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste, was es bedeutete, aber ging es dabei nicht darum, Blei in Gold zu verwandeln und all so was? Irgendeine Art Hokuspokus-Wissenschaft?

Myrnin sah zutiefst enttäuscht aus. Sie wollte ihn fast schon anlügen und sagen, sie hätte eine Eins in Alchemie für Anfänger bekommen.

»Stell dich bitte nicht so an, Myrnin«, sagte Amelie. »Ich sagte dir doch schon, dass dieses Zeitalter dem Thema nicht besonders viel Achtung entgegenbringt. Man findet niemanden, der die hermetischen Künste beherrscht, also musst du schon nehmen, was da ist. Nach allem, was man so hört, ist dieses Mädchen ziemlich begabt. Sie sollte in der Lage sein zu verstehen, was du sie lehrst, wenn du nur Geduld mit ihr hast.«

Myrnin nickte ernüchtert und legte das Buch beiseite. Er stand auf – und auf – und auf. Er war groß und schlaksig mit seinen langen Armen und Beinen, wie eine menschliche Heuschrecke. Außerdem trug er eine verrückte Kleiderkombination – nicht direkt wie ein Obdachloser, aber auf jeden Fall abgefahren. Er trug ein längs gestreiftes Strickhemd unter etwas, das wie ein Gehrock aussah, dazu alte Jeans mit Löchern in den Knien. Und Flipflops. Claire starrte auf seine nackten Zehen. Irgendwie wirkten sie mit diesem Outfit fast schon unanständig.

Aber er hatte schöne Füße.

Er streckte Claire die Hand hin und beugte sich vor. Vorsichtig schüttelte sie sie. Myrnin sah überrascht aus, dann erfreut. Er schüttelte ihre Hand begeistert weiter, bis ihr die Schulter wehtat. »Händeschütteln – ist das heutzutage die korrekte Art der Begrüßung?«, fragte er. »Sogar für eine solch reizende junge Dame? Ich weiß, dass das unter Männern üblich ist, aber für eine Frau scheint es eine allzu ungestüme Geste zu sein...«

»Ja«, sagte Claire hastig. »Das ist in Ordnung. Alle machen das.« Gott, er würde jetzt hoffentlich nicht ihre Hand küssen oder so etwas, oder? Nein, er ließ los und verschränkte die Arme. Er musterte sie.

»Sag mir schnell«, sagte er. »Wie lautet die Elementbezeichnung von Rubidium?«

»Ähm... Rb.«

»Ordnungszahl?«

Claire rief sich das Periodensystem in Erinnerung. Als sie klein war, hatte sie damit gespielt, wie andere Kinder mit Puzzles spielten; sie kannte damals alle Einzelheiten. »Siebenunddreißig.«

»Welche Gruppe?«

Sie konnte die Tabelle jetzt auf dem Tische sehen, so real, als wäre sie da. »Alkalimetall. Fünfte Periode.«

»Und was sind die Gefahren, wenn man mit Rubidium arbeitet, kleine Claire?«

»Wenn es Luft ausgesetzt wird, fängt es spontan an zu brennen. Auch mit Wasser reagiert es heftig.«

»Fest, flüssig, gasförmig, Plasma?«

»Bis vierzig Grad Celsius fest. Das ist der Schmelzpunkt.« Sie wartete auf die nächste Frage, aber Myrnin legte nur den Kopf auf die Seite und beobachtete sie. »Wie war ich?«

»Hinlänglich«, sagte er. »Gut auswendig gelernt. Aber Auswendiglernen ist keine Wissenschaft und Wissenschaft ist nicht das Gleiche wie Wissen.« Myrnin stakste zu einem schiefen Bücherstapel, warf einige Bücher achtlos auf den Boden und fand einen fadenscheinigen Band, den er aufschlug, ohne besonders auf die brüchigen Seiten zu achten. »Ah! Hier. Was ist das?«

Er hielt ihr das Buch hin. Claire schaute auf die dunkle Illustration. Sie sah ein wenig aus wie ein kleines quadratisches Segel, das vom Wind gebläht wurde. Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Myrnin schlug das Buch mit einem scharfen Knall zu, sodass sie zusammenzuckte.

»Zu viel, was man ihr noch beibringen muss«, sagte er zu Amelie. Er begann, auf und ab zu gehen, dann wurde er abgelenkt und fummelte an einer Retorte herum, die eine widerliche grüne Flüssigkeit enthielt. »Ich habe keine Zeit, Kleinkinder zu verhätscheln, Amelie. Bring mir jemanden, der zumindest die Grundlagen von dem versteht, was ich versuche...«

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass es niemanden gibt, der das Symbol erkennen würde, und dieses Thema hat sowieso noch nie die allervertrauenswürdigsten Charaktere angezogen. Gib Claire eine Chance. Sie hat eine schnelle Auffassungsgabe.« Ihre Stimme kühlte zu einem mäßig eisigen Tonfall ab. »Zwing mich nicht, es dir zu befehlen, Myrnin.«

Er hielt inne, hob aber den Kopf nicht. »Ich möchte keine Schüler mehr.« Er klang gereizt.

»Trotzdem musst du einen haben.«

»Hast du ihr die Risiken erklärt?«

»Das überlasse ich dir. Sie gehört dir, Myrnin. Aber damit wir uns richtig verstehen: Ich mache dich für ihre Leistungen und ihre Sicherheit verantwortlich.«

Claire hörte das Klicken von Metall, und als sie sich umschaute, war Amelie... weg.

Sie hatte sie allein gelassen. Mit ihm.

Als Claire sich wieder zu ihm umwandte, hatte Myrnin den Kopf gehoben und starrte sie unverhohlen an. Warme braune Augen, die nicht mehr vergnügt aussahen. Sondern sehr ernst.

»So wie es aussieht, haben wir beide keine Wahl«, sagte er. »Dann müssen wir eben einfach das Beste daraus machen.« Er wühlte sich durch die Bücherstapel und kam mit einem Buch zurück, das ebenso abgewetzt und zerbrechlich aussah wie das erste, das er so nachlässig behandelt hatte, nur dass es viel dünner war. Er hielt es ihr hin und Claire nahm es. Die Aufschrift auf dem Deckblatt war auf Englisch. Metalle in ägyptischen Inschriften.

»Das Symbol, das ich dir gezeigt habe, steht für Kupfer«, sagte Myrnin. »Sorg dafür, dass du die übrigen kennst, wenn du morgen wieder herkommst. Außerdem erwarte ich, dass du Letzter Wille und Testament von Basil Valentine liest. Ich habe eine Ausgabe davon hier...«Er schob – beinahe hektisch – Bücher herum und stieß einen zufriedenen Schrei aus, als er etwas fand. Er hielt ihr das Buch ebenfalls hin. »Schenke den alchemistischen Zeichen besondere Aufmerksamkeit. Ich erwarte von dir, dass du sie so oft abzeichnest, bis du sie auswendig kennst.«

»Aber...«

»Nimm sie! Nimm sie und verschwinde! Raus! Ich habe zu tun!«

Myrnin eilte an ihr vorbei, stieß in seiner Hast Bücherstapel um und riss die Tür auf, durch die Amelie verschwunden war. Er war mindestens dreißig Zentimeter größer als die Tür, wie ein Mensch in einem Hobbit-Haus. Er blieb dort stehen und wippte ungeduldig mit dem Fuß, wobei das Plastik der Flipflops zwischen Fuß und Boden hin und her klatschte.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, fuhr er sie an. »Geh. Keine Zeit jetzt. Raus hier. Komm morgen wieder.«

»Aber – ich weiß nicht, wie ich nach Hause komme. Oder wieder hierher zurück.«

Er starrte sie einen Augenblick lang an und dann lachte er. »Jemand wird dich herbringen müssen. Ich kann nicht nur deinetwegen das System neu konfigurieren!«

Das System konfigurieren? Claire hielt inne und starrte zurück. »Welches System? Diese – Türen?« Die Bedeutung dessen verwirrte sie. Wenn Myrnin diese Türen verstand, die Türen kontrollierte, die in Morganville wie aus dem Nichts auftauchten und wieder verschwanden... Ich muss es herausfinden. Ich muss wissen, wie das funktioniert.

»Ja, ich bin unter vielem anderem auch dafür verantwortlich, auch wenn das im Moment wohl kaum das Wichtigste ist«, sagte er. »Später, Claire. Geh jetzt. Wir sprechen uns morgen.«

Er packte sie, warf sie buchstäblich zur Tür hinaus und knallte sie hinter ihr zu. Sie hörte, wie seine Hand mit erstaunlicher Kraft das Holz traf.

»Schließ ab!«, rief er. Claire holte den Schlüssel aus ihrer Tasche. Sie schaffte es kaum, ihn ins Schlüsselloch zu stecken; das Licht war schlecht und ihre Hände zitterten. Aber es gelang ihr und sie hörte das feste Klicken des Schlosses. »Nimm den Schlüssel!«, brüllte Myrnin.

»Aber...«

»Du bist jetzt verantwortlich für mich, Claire. Du musst mich sicher verwahren.« Myrnins Stimme war jetzt tiefer geworden, als wäre er müde geworden. »Du musst mich vor allen schützen.«

Und dann begann er... zu weinen.

»Myrnin?«, sagte Claire und beugte sich zur Tür hin. »Bist du okay? Soll ich reinkommen und...«

Die ganze Tür vibrierte unter der Wucht seines Schlages. Claire taumelte schockiert nach hinten.

Er weinte weiter. Wie ein verlorener kleiner Junge.

Claire zögerte ein paar Sekunden, dann wandte sie sich um und sah, dass Amelie überhaupt nicht weggegangen war. Sie stand ruhig neben dem Schreibtisch im Schein der einzigen Kerze. Ihre Miene war gefasst, aber traurig.

»Myrnins Psyche ist nicht mehr das, was sie einmal war. Er hat jedoch Phasen der Klarheit. Und davon musst du um jeden Preis profitieren, damit du alles lernst, was er zu lehren vermag. Es soll nicht verloren gehen, Claire. Es darf nicht verloren gehen. Er tut Dinge...« Amelie schüttelte den Kopf. »Es laufen Projekte, die weitergeführt werden müssen.«

Claires Herz raste, sie zitterte am ganzen Körper. »Er ist verrückt, er ist ein Vampir und Sie möchten, dass ich seine Schülerin bin.«

»Nein«, sagte Amelie. »Ich verlange, dass du seine Schülerin wirst. Du wirst dich fügen, Claire, gemäß den Regeln des Vertrags, den du aus eigenem freiem Willen unterzeichnet hast. Es ist eine wertvolle Arbeit. Ich würde dich nicht unnötig in Gefahr bringen.«

Hast du ihr die Risiken erklärt? Das hatte Myrnin gefragt. »Was sind die Risiken?«, fragte Claire.

Amelie deutete lediglich auf den Bücherschrank, an dem immer noch ihr Rucksack lehnte. Claire griff danach und warf ihn sich über die Schulter – dann hielt sie inne, weil sich auf der leeren Wandfläche eine Tür gebildet hatte. Eine solide Holztür mit einem schlichten Knopf. Identisch mit denen in der Universität. »Öffne sie«, sagte Amelie.

»Aber...«

»Öffne die Tür, Claire.«

Claire machte die Tür auf und mit einem Schlag umgaben sie das blendende Licht der Neonröhren und der tote Klimaanlagengeruch des Verwaltungsgebäudes.

Amelie blies die Kerze aus. In der Dunkelheit konnte Claire sie nicht mehr sehen.

»Halte dich morgen um sechzehn Uhr in der Cafeteria bereit«, sagte Amelie. »Sam wird dich abholen. Ich würde sagen, du liest die Bücher, wie Myrnin dir aufgetragen hat. Und, Claire – sag niemandem, was du hier tust. Absolut niemandem.«

Erst als Claire draußen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fiel ihr auf, dass Amelie ihre Frage nicht beantwortet hatte. Sie öffnete die Tür noch einmal – aber da war nur ein Zimmer, in dem sich ausgediente, kaputte Möbel stapelten. Etwas bewegte sich verstohlen in der Ecke. Es gab ein Fenster mit schiefen Jalousien, aber keine Amelie. Keine Bücherhöhle. Keinen Myrnin.

»Er ist krank«, sagte Claire laut zu Was-auch-immer sich in der Ecke hinter einem dreibeinigen Tisch bewegte. »Deshalb hat sie so mit ihm gesprochen. Er ist alt und krank. Womöglich stirbt er sogar.« Vampire konnten krank werden. Konnten Vampire sterben? Darüber hatte sie irgendwie noch nie nachgedacht.

Vorsichtig machte sie die Tür wieder zu, verlagerte das Gewicht ihres Rucksacks und schaute auf die beiden alten Bücher in ihrer Hand hinunter.

Letzter Wille und Testament

Sie hoffte, dass das kein Zeichen für ihre Zukunft war.

***

Eve plauderte auf dem Nachhauseweg darüber, wie ihr Tag war. Sie erzählte ihr von einem Jungen, der unbedingt mit ihr ausgehen wollte, und von Amys Freund Chad, der vorbeikam und beim Abwaschen geholfen hatte und total süß war, und dass ihr Chef ein Idiot sei, ihr aber wenigstens eine Lohnerhöhung von zwanzig Cent pro Stunde zugestanden habe. »Ich glaube, das hat er nur gemacht, weil ich in den ersten paar Wochen nicht abgesprungen bin«, sagte Eve, aber sie klang ziemlich aufgekratzt deswegen und Claire freute sich für sie. »Ja, es sind zwar nur ein paar Dollar mehr pro Woche, aber...«

»Aber immerhin etwas.« Claire nickte. »Glückwunsch, Eve. Du hast es verdient. Du machst deine Arbeit wirklich gut. Ich wette, du könntest den ganzen Laden schmeißen, wenn du wolltest.«

»Ich? Als Geschäftsführerin?« Eve prustete vor Lachen. »Ja klar, als wollte ich der Westentaschendiktator der Cafeteria werden. Mach keine Witze.«

»Nein, ich meine es ernst. Du bist freundlich, die Leute mögen dich; du weißt, was du zu tun hast. Du könntest das. Du würdest das gut machen.«

Eve warf ihr einen fast schon finsteren Seitenblick zu. »Du meinst das wirklich ernst.«

»Yep.«

»Ich weiß nicht, ob ich für das Management bereit bin. Muss man da nicht eine Krawatte tragen?«

»Du hast doch eine«, sagte Claire feierlich.

»Nur eine, auf der der Sensenmann abgebildet ist. Hey, Moment mal. Das könnte ich zu meinem Führungsstil machen! Wenn du’s vermasselst, mach ich dich platt, du Wurm.« Eve grinste. »Das sollten sie in der Business School lehren.«

»Das lehren sie hier wahrscheinlich auch«, seufzte Claire.

»Was ist los mit dir, CB?« CB stand für Claire-Bär, ein Spitzname, den Eve ihr verliehen hatte. Claire glaubte nicht, dass sie große Ähnlichkeit mit einem Bären hatte, nicht einmal mit einem Plüschbären. »Du wirkst so – ich weiß auch nicht –,so nachdenklich.«

»Hm, na ja...«Sie durfte Eve nicht von Myrnin erzählen. »Hausaufgaben und so.« Ja, nur dass sie bisher noch nie diese Art von Leistungsdruck gehabt hatte. Sie hatte das Buch über die ägyptischen Inschriften durchgeblättert. Es war einigermaßen unkompliziert, auch wenn sie sich nicht sicher war, wie ägyptisch es wirklich war. Aber es war interessant. Das andere Buch, Letzter Wille und Testament, war viel heftiger. Tonnenweise seltsam dargestellte Symbole, die sie nicht verstand. Sie würde die ganze Nacht brauchen, um sich wenigstens das Wichtigste zu merken. »Eve...hat in Morganville jemals jemand seinen Vertrag gebrochen? Und es überlebt, meine ich?«

»Vertrag?« Eve warf ihr erneut einen Blick zu, der dieses Mal definitiv leicht finster ausfiel. »Meinst du einen Vampirvertrag? Klar. Die Leute probieren hin und wieder alles Mögliche. Aber ohne großen Erfolg.«

»Was passierte?«

»Früher wurden sie aufgehängt. Ich glaube, heute werden sie einfach ins Gefängnis geworfen, bis sie verrotten, wenn sie nicht vorher von den Vampiren aufgefressen wurden. Aber hey, darüber brauchen wir beide uns ja keine Gedanken zu machen, oder? Frei sein oder sterben!« Eve hob die Hand. »Highfive!«

Claire schlug ohne große Begeisterung ein. Sie dachte daran, wie sich der Füller in ihrer Hand angefühlt hatte, als er über das steife Papier glitt. Als sie per Unterschrift ihr Leben aufgegeben hatte. Und sie schämte sich.

»Warum?«, fragte Eve.

»Was?«

»Warum fragst du?« Eve bog in die Lot Street ein und die Lichter des Glass House – ihrem Zuhause – leuchteten bis auf die Straße. »Sag schon, Claire. Kennst du jemanden, der sich das überlegt?«

»Ähm... da ist so ein Junge am College. Ich habe gehört, wie er sagte... ich frage mich nur, das ist alles.«

»Nun, dann frag dich nicht mehr. Sein Problem, nicht deines. Bereit für den Probealarm? So schnell wie es geht. Los!« Eve bremste heftig, Claire riss die Beifahrertür auf, rannte um das Auto herum und warf das weiße Gartentor auf, dann rannte sie mit dem Hausschlüssel in der Hand den Gartenweg bis zu den Stufen hinauf. Sie hörte, wie der Motor ausging und Eves Schuhe laut hinter ihr herklapperten.

Dann hörten die Schritte auf. Ganz plötzlich. Claire wirbelte ängstlich herum, weil sie einen Vampir auf Beutefang erwartete, aber Eve schaute nur in den Briefkasten, nahm eine Handvoll Dinge heraus und schaute den Stapel durch, während sie die Treppe hinaufeilte. Claire trat über die Schwelle und Eve folgte ihr, wobei sie der Tür mit der Hüfte einen Schubs gab. Die Tür fiel zu und Eve schob mit dem Ellbogen den Riegel vor, eine Meisterleistung die Claire nie versucht hätte – oder auch nur halb so elegant geschafft hätte.

»Stromrechnung, Wasserrechnung... Internetrechnung. Oh, und etwas für dich.« Eve zog einen kleinen Luftpolsterumschlag aus dem Stapel und überreichte ihn ihr. »Ohne Absender.«

Wer sollte ihr etwas schicken? Klar, Mom und Dad. Ab und zu kam auch eine Karte von Verwandten. Ihre frühere beste Freundin Elizabeth hatte ihr eine Postkarte von der Texas-A-&-M-University geschickt, aber nur das eine Mal. Claire erkannte die akkurate Handschrift auf dem Umschlag nicht. Eve ließ sie stehen und ging den Gang entlang, wobei sie nach Shane und Michael rief, um ihre Ankunft anzukündigen. Michael brüllte zurück: »Geh in die Küche und mach mir was zu essen – aber ein bisschen plötzlich!«

»Kurzmeldung zum Mitschreiben, Michael, du bist ein böser Vampir geworden und kein Prolet!«

Claire riss das Päckchen auf und drehte es um. Ein kleines Schmuckkästchen glitt in ihre Hand. Es war schön – roter Samt, auf den eine Art goldenes Wappen geprägt war. Sie fühlte, wie sich die Haut in ihrem Nacken zusammenzog. Oh nein.

Ihr Verdacht wurde bestätigt, als sie den Deckel aufklappte und das goldene Armband sah, das sich auf dem blutroten Samt kringelte. Es war hübsch und es war nicht zu groß; zierlich genug, um an eines ihrer schmalen Handgelenke zu passen.

Das Symbol der Gründerin war diskret in einen kleinen goldenen Rahmen geprägt.

Oh nein.

Claire biss sich auf die Lippen und starrte lange Zeit auf das Armband. Dann ließ sie den Deckel zuschnappen, steckte das Kästchen zurück in den Umschlag und ging zu Eve und Michael in die Küche.

»Also?« Eve holte Töpfe heraus und Michael kramte im Kühlschrank herum. »Einverstanden mit Spaghetti?«

»Klar«, sagte Claire. Sie fragte sich, ob sie verstört aussah. Sie hoffte nicht, und wennschon – Eve hatte sowieso nur Augen für Michael und er für sie. Deshalb würde niemand groß auf sie achten.

Bis sie sich umwandte und mit Shane zusammenprallte, der hinter ihr durch die Küchentür getreten war. Das Päckchen in ihrer rechten Hand fühlte sich heiß und schwer an und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

Was ihn verletzte. Sie sah es in seinen Augen aufblitzen. »Hey«, sagte er. »Alles klar?«

Sie nickte. Sie konnte nicht sprechen, denn was immer sie gesagt hätte – es wäre eine Lüge gewesen. Shane trat näher und legte ihr seine warme Hand auf die Wange; es fühlte sich gut an, so überaus gut, dass sie sich dagegenlehnte und dann noch weiter, bis in seine Arme. Er gab ihr das Gefühl, klein zu sein und geliebt zu werden, und einen Augenblick lang spielte es keine Rolle, was in dem Päckchen in ihrer Hand war.

»Du lernst zu viel«, sagte er. »Du siehst blass aus. Alles in Ordnung im College?«

»Alles bestens mit dem College«, sagte sie. Das war nicht gelogen, das College jagte ihr definitiv keine Angst mehr ein. »Ich glaube, ich muss einfach mehr schlafen.«

»Nur noch ein paar Tage, dann ist Wochenende.« Er küsste sie auf den Scheitel, beugte sich noch ein wenig vor und flüsterte ihr ins Ohr: »In mein Zimmer. Ich muss mit dir reden.«

Sie blinzelte, aber er war schon zurückgetreten und ging zur Tür hinaus. Sie schaute über ihre Schulter hinweg zu Eve und Michael, aber sie plauderten fröhlich, während Eve die Herdplatten unter den Töpfen einschaltete, und hatten nichts mitbekommen.

Claire stopfte das Päckchen in ihren Rucksack, machte den Reißverschluss zu und folgte Shane nach oben.

Shanes Zimmer war sehr zweckmäßig eingerichtet – sein Bett war niemals gemacht, auch wenn er den Versuch machte, das Laken glatt zu streichen und die Decke darüberzuwerfen, als sie hereinkam. Ein paar Poster an der Wand, nichts Besonderes. Keine Fotos, keine Erinnerungsstücke. Außer zum Schlafen verbrachte er nicht viel Zeit hier. Die meisten seiner Sachen waren in den Schrank gestopft.

Claire lehnte ihren Rucksack an die Wand und setzte sich neben Shane auf das Bett. »Was?«, fragte sie. Falls sie eine wilde Knutsch-Session vor dem Abendessen erwartet hatte, wurde sie enttäuscht. Er legte nicht einmal den Arm um sie.

»Ich denke darüber nach wegzugehen.«

»Weggehen? Aber Eve kocht gerade Abendessen...«

Er wandte sich um und schaute ihr in die Augen. »Aus Morganville weggehen.«

Sie fühlte reine Panik in sich aufsteigen. »Nein. Das geht nicht!«

»Es ging schon einmal. Hör mal, dieser Ort, er ist...ich bin nicht zurückgekommen, weil ich Sehnsucht hatte. Ich kam zurück, weil mich mein Dad geschickt hat. Jetzt ist er gekommen und dann wieder gegangen und ich mache nicht länger die Drecksarbeit für ihn...« Shanes Augen flehten darum, dass sie ihn verstand. »Ich möchte mein Leben leben, Claire. Und du gehörst nicht hierher. Du kannst nicht bleiben. Sie werden dich töten. Nein, schlimmer. Sie werden dich in eine von ihnen verwandeln, in eine lebende Tote. Ich spreche noch nicht mal von den Vampiren. Niemand, der hier lebt, hat ein schlagendes Herz, nicht wirklich zumindest.«

»Shane...«

Er küsste sie und seine warmen Lippen waren weich und drängend. »Bitte«, flüsterte er. »Wir müssen diese Stadt verlassen. Alles wird schlimmer. Das habe ich im Gefühl.«

Oh Gott, warum tut er das? Warum ausgerechnet jetzt? »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich... das College...ich kann einfach nicht, Shane. Ich kann nicht weggehen.« Ihre Unterschrift auf einem Blatt Papier. Ihre Seele auf einem Silbertablett. Das war der Preis für die Sicherheit ihrer Freunde, aber sie würde weiterhin bezahlen müssen, nicht wahr? Als Myrnins Lehrling. Und das konnte wohl kaum ein Fernstudium sein.

»Bitte.« Es war kaum ein Flüstern, das er von sich gab. Seine Lippen strichen über die ihren und ehrlich, sie hätte fast alles für ihn getan, wenn er diesen Ton anschlug, aber dieses Mal...

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Was?«

»War irgendwas mit Michael? Hat er... hast du...?« Sie wusste nicht, wie ihre Frage lautete, aber etwas hatte Shane zutiefst verstört und sie hatte keine Ahnung, was das gewesen sein könnte.

Er sah sie für einen langen Moment an, dann zog er sich zurück, stand auf und ging zum Fenster, um auf den Hinterhof hinauszuschauen, den sie eigentlich nie benutzten. »Mein Dad hat angerufen«, sagte er. »Er erzählte mir, dass er zurückkommen würde, und er will, dass ich bereit bin, ein paar Vampire auszuschalten. Wenn ich bleibe, werde ich Michael umbringen müssen. Ich möchte nicht hier sein, Claire. Ich kann nicht.«

Er wollte sich nicht entscheiden müssen, nicht noch einmal. Claire biss sich fest auf die Lippen; sie konnte den Schmerz in seiner Stimme hören, auch wenn er sich vom Gesichtsausdruck her nichts anmerken ließ. »Glaubst du wirklich, dass dein Dad zurückkommt?«

»Ja. Letztendlich schon. Vielleicht nicht diesen Monat, vielleicht nicht dieses Jahr... aber irgendwann. Und das nächste Mal wird er alles Nötige dabeihaben, um hier einen richtigen Krieg zu veranstalten.«

Shane schauderte; sie sah, wie sich seine Rückenmuskeln unter seinem engen grauen T-Shirt anspannten. »Ich muss dich hier wegbringen, bevor dir etwas zustößt.«

Claire stand auf, ging zu ihm hinüber und legte von hinten die Arme um ihn. Sie lehnte sich an ihn, den Kopf auf seinem Rücken, und seufzte. »Ich mache mir mehr Sorgen wegen dir«, sagte sie. »Du ziehst Ärger einfach an...«

»Ja.« Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Das tue ich.«