8

 

Amelie hatte dafür gesorgt, dass sie sicher war, okay. Und zwar, indem sie Myrnin eingesperrt hatte.

Claire stellte ihren Rucksack am Fuß der Treppe ab – dort, wo sie ihn sich leicht würde schnappen können, falls sie fliehen musste – und entdeckte eine Neuerung im Labor: einen Käfig. Und darin saß Myrnin.

»Oh mein Gott...«Sie machte einen Schritt auf ihn zu und steuerte dabei um die üblichen planlosen Bücherstapel herum. Sie biss sich auf die Lippen. Soweit sie sehen konnte, war es derselbe Käfig, in den die Vampire Shane auf dem Founder’s Square eingesperrt hatten – er hatte schwere schwarze Gitterstäbe und das Ganze stand auf Rädern. Hoffentlich war er vampirsicher. Wer auch immer Myrnin dort eingesperrt hatte, war immerhin nett genug gewesen, ihm einen Stapel Bücher und ein behagliches (wenn auch fadenscheiniges) Knäuel aus Decken und verwaschenen Kissen mitzugeben. Er lümmelte in der Ecke auf den Kissen und weit unten auf seiner Hakennase thronte eine altmodische Brille, wie Benjamin Franklin sie zu tragen pflegte. Er las.

»Du kommst spät«, sagte er, als er eine Seite umblätterte. Claire machte den Mund auf und schloss ihn dann wieder, weil ihr keine passende Antwort einfiel. »Oh, mach dir keine Gedanken wegen des Käfigs. Er ist natürlich zu deiner Sicherheit. Da Samuel nicht hier ist, um auf dich aufzupassen.« Er blätterte erneut, aber seine Augen bewegten sich nicht, um dem Text zu folgen. Er tat, als würde er lesen, und irgendwie war das mehr als herzzerreißend. »Amelies Idee. Ich kann nicht sagen, dass ich das wirklich gutheißen kann.«

Schließlich gelang es ihr, »es tut mir leid« zu sagen.

Myrnin zuckte die Achseln, klappte das Buch zu und legte es mit einem Knall auf den Stapel neben sich. »Das ist nicht der erste Käfig, in den man mich steckt«, sagte er. »Und zweifellos werde ich herausgelassen, wenn dein neu ernannter Beschützer hier ist und den Anstandswauwau macht. Bis dahin werden wir deine Unterweisung fortsetzen. Zieh dir einen Stuhl her. Entschuldige bitte, dass ich nicht aufstehe, aber ich bin ein bisschen größer als...«Erhob die Hand und klopfte gegen die Gitterstäbe über seinem Kopf. »Amelie hat mir erzählt, dass du dich für Fortgeschrittenenkurse eingeschrieben hast.«

Claire nahm dies dankbar zum Anlass, nicht darüber nachzudenken, wie verstörend und gleichzeitig beruhigend es war, dass man ihn ihretwegen wie ein Tier in einen Käfig gesperrt hatte. Sie las ihren Stundenplan herunter und beantwortete die Fragen, die scharf formuliert waren und gleichzeitig eine seltsame Mischung aus Fachwissen und völliger Ignoranz darstellten. Er verstand etwas von Philosophie und Biochemie; von Quantenmechanik hatte er keine Ahnung, bis sie ihm die Grundlagen erklärte und er nickte.

»Mythen und Legenden?«, wiederholte er verdutzt, als sie ihm den Titel des Kurses vorgelesen hatte. »Warum sollte Amelie das für notwendig halten...äh, macht nichts. Ich bin sicher, sie hatte ihre Gründe. Dein Aufsatz?« Er streckte seine Hand aus. Claire kramte die zusammengehefteten Computerausdrucke aus ihrer Tasche und händigte sie ihm aus. Sechs Seiten, einfacher Zeilenabstand. Sie hatte ihr Bestes gegeben in diesem Aufsatz über die Geschichte eines Faches, von dem sie gerade erst anfing, es zu verstehen. »Ich lese ihn später. Und die Bücher, die ich dir gegeben habe?«

Claire ging zu ihrem Rucksack und zog sie heraus, dann kam sie zurück zu ihrem Stuhl. »Aureus habe ich durchgelesen, ebenso Die Goldkette Homers.«

»Hast du sie verstanden?«

»Nicht... wirklich.«

»Das liegt daran, dass Alchemie ein sehr geheimnisvolles Studienfach ist. Ein wenig so, als wäre man Steinmetz – gibt es noch Steinmetze?« Als sie nickte, sah Myrnin seltsam erleichtert aus. »Nun, dann ist’s ja gut. Die Folgen wären nämlich ziemlich schrecklich, wenn es keine mehr gäbe, weißt du? Was die Alchemie angeht, so kann ich dich lehren, wie man die gesprochenen und geschriebenen Codes übersetzt, aber mir liegt mehr daran, dass du dich mit Mechanik auskennst als mit Philosophie. Du hast doch bestimmt die in den Texten beschriebenen Methoden zur Herstellung eines Brennofens verstanden, oder?«

»Ich glaube schon. Aber warum können wir nicht einfach bestellen, was wir brauchen? Oder kaufen?«

Myrnin schnippte den silbernen Ring an seiner rechten Hand gegen die Gitterstäbe seiner Zelle, sodass ein metallisches Klirren erklang.

»Keins von beidem. Kinder von heute sind Narren, Sklaven der Arbeit anderer, in jeder Hinsicht abhängig. Du nicht. Du wirst lernen, dein Werkzug selbst herzustellen und damit umzugehen.«

»Sie möchten, dass ich Ingenieurin werde?«

»Ist es für jemanden, der Physik studiert, nicht von Nutzen, auch solch praktische Anwendungen zu beherrschen?«

Sie starrte ihn zweifelnd an. »Sie werden mich aber nicht dazu zwingen, einen Amboss zu besorgen und meine Schraubenzieher selbst herzustellen, oder?«

Myrnin lächelte langsam. »Was für eine gute Idee! Ich werde darüber nachdenken. Nun. Es gibt ein Experiment, das ich versuchen möchte. Bist du bereit?«

Vermutlich nicht. »Ja, Sir.«

»Bewege dieses Bücherregal...«Er deutete auf ein windschiefes, monströses Brettergebilde, das aussah, als würde es gleich in sich zusammenfallen. Natürlich war es randvoll mit Büchern. »Schieb es aus dem Weg.«

Claire war sich überhaupt nicht sicher, ob das Ding zusammenhalten würde, wenn man es schob, aber sie tat, was man von ihr verlangte. Es war besser gebaut, als es vermuten ließ, und als sie es beiseitegeschoben hatte, fand sie zu ihrer Überraschung eine kleine Bogentür. Sie war mit einem großen, herzförmigen Schloss zugesperrt.

»Öffne es«, sagte er, dann hob er das Buch auf, das er hatte fallen lassen, als sie angekommen war, und blätterte wahllos darin.

»Wo ist der Schlüssel?«

»Keine Ahnung.« Er blätterte schneller und schaute finster auf die Wörter. »Schau dich um.«

Claire schaute sich völlig frustriert im Labor um. »Hier drin?« Wo sollte sie anfangen? Überall waren Stapel und Haufen und halb offene Schubladen, nichts folgte irgendeiner für sie erkennbaren Ordnung. »Können Sie mir wenigstens einen Hinweis geben?«

»Wenn ich mich erinnern könnte, würde ich es tun.« Myrnins Stimme war trocken, aber auch ein wenig traurig. Sie warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Er klappte das Buch wieder zu und starrte aus seinem Käfig – er sah eigentlich weder sie noch sonst etwas Bestimmtes an. Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine bedächtige Leere ab. »Claire?«

»Ja?« Sie zog die erste Schublade neben der Tür auf. Sie war voller Flaschen, die etwas enthielten, das wie Staub aussah; keine von ihnen war beschriftet. Eine Spinne krabbelte eilig aus ihrem Blickfeld und zog sich in dunklere Gefilde zurück; Claire zog eine Grimasse und knallte die Schublade wieder zu.

»Kannst du mir sagen, weshalb ich in diesem Käfig sitze?« Er klang sonderbar, seltsam ruhig, aber mit einem beunruhigenden Unterton. Claire holte tief Luft und sah weiterhin Schubladen durch. Sie schaute ihn nicht direkt an. »Ich mag keine Käfige. Mir sind in Käfigen schlimme Sachen zugestoßen.«

»Amelie sagt, dass Sie eine Weile da drin bleiben müssen«, sagte sie. »Erinnern Sie sich? Das soll uns helfen.«

»Ich erinnere mich nicht.« Seine Stimme war warm, sanft und bedauernd. »Ich möchte gern raus. Kannst du ihn bitte aufmachen?«

»Nein«, sagte sie. »Ich habe keine...«

Schlüssel, aber sie hatte welche. Ein ganzer Schlüsselbund lag direkt vor ihrer Nase, halb versteckt hinter einem schiefen Stapel loser, vergilbter Blätter. Drei Schlüssel. Einer davon war ein großer eiserner Hauptschlüssel und sie war sich sofort so gut wie sicher, dass er zu dem großen herzförmigen Schloss an der Tür hinter dem Bücherschrank passte. Der andere war neuer, aber ebenfalls groß und klobig, das musste der Schlüssel zu Myrnins Käfig sein.

Der dritte war ein winziger, feiner Schlüssel aus Silber, mit dem man Tagebücher oder Koffer abschließen würde.

Claire griff nach dem Schlüsselbund und zog ihn zu sich her, wobei sie versuchte, kein Geräusch zu machen. Natürlich hörte er es. Er stand in der Ecke seines Käfigs auf, kam nach vorne und umklammerte die Gitterstäbe. »Ah, hervorragend«, sagte er. »Claire, bitte öffne die Tür. Ich kann dir nicht zeigen, was du tun musst, wenn ich in diesen Käfig eingesperrt bin.«

Oh Gott, sie konnte ihn nicht ansehen, sie konnte es einfach nicht. »Das darf ich nicht«, sagte sie und suchte den großen Hauptschlüssel aus Eisen heraus. Er fühlte sich in ihren Fingern kalt und hart an. Und alt. Wirklich alt. »Sie möchten, dass ich diese Tür aufmache, oder?«

»Claire, sieh mich an.« Er klang so traurig. Sie hörte das sanfte Klirren seines Rings an den Stäben, als er sie wieder umklammerte. »Claire, bitte.«

Sie wandte sich von ihm ab und steckte den Schlüssel in das herzförmige Schloss.

»Claire, mach das nicht auf!«

»Sie haben zu mir gesagt, dass ich es öffnen soll!«

»Nicht!« Myrnin rüttelte an den Stäben seines Käfigs, und obwohl sie aus solidem Eisen waren, hörte sie, wie sie rasselten. »Das ist meine Tür! Mein Fluchtweg! Komm her und lass mich frei! Sofort!«

Sie schaute auf die Uhr. Es war noch nicht genug Zeit vergangen, nicht annähernd genug; bis Sonnenuntergang dauerte es noch immer mindestens eine Stunde, vielleicht sogar länger. Michael saß noch immer im Auto fest. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Es tut mir leid.«

Das Geräusch, das Myrnin von sich gab, genügte ihr, um froh zu sein, dass sie auf der anderen Seite des Raumes stand. Sie hatte noch niemals einen Löwen brüllen hören, zumindest nicht in Wirklichkeit, aber irgendwie konnte sie sich vorstellen, dass es genau so klingen musste, eine wilde, animalische Wut. Ihre Zuversicht ging flöten. Sie schloss die Augen und versuchte, nicht zuzuhören, aber er redete weiter; sie konnte nicht verstehen, was er sagte, aber es war ein gleichbleibender, boshafter Wortfluss in einer Sprache, die sie nicht kannte. Aber der Tonfall – der bösartige Unterton – konnte einem gar nicht entgehen.

Wenn er sie jetzt zu fassen bekäme, würde er sie umbringen. Gott sei Dank war der Käfig stabil genug, um...

Er knurrte tief und kehlig und sie hörte, wie etwas aus Metall mit einem hohen, vibrierenden Geräusch zerbrach.

Der Käfig war nicht stabil genug.

Myrnin bog die Eisenstangen vom Schloss weg.

Claire wirbelte herum, sie hatte noch immer den Schlüssel in der Hand und sah, wie er an einer Schwachstelle des Käfigs riss, als bestünde sie aus nassem Papier. Wie machte er das? Wie konnte er so stark sein? Tat er sich nicht weh dabei?

Doch. Sie konnte Blut an seinen Händen sehen.

Schlagartig dämmerte ihr, dass er dasselbe mit ihr machen könnte, wenn er es aus dem Käfig herausschaffte.

Sie musste raus hier.

Claire bewegte sich um den Labortisch herum, zwängte sich zwischen zwei aufgetürmten Bücherstapeln durch und warf einen kaputten, dreibeinigen Hocker um. Sie tat sich weh, als sie über einen Haufen alten Krempel fiel – alte Lederfetzen, einige Backsteine, ein paar vertrocknete Pflanzen, die Myrnin wohl für botanische Arbeiten aufbewahrt hatte. Mann, das tat weh. Sie rollte sich über die Seite ab, rang nach Luft und kam wieder auf die Füße. Sie hörte ein langsames, bedächtiges Quietschen von Metall und hielt eine fatale Sekunde lang inne, um über ihre Schulter zu blicken.

Die Käfigtür stand offen und Myrnin war herausgekommen. Er trug noch immer seine kleine Benjamin-Franklin-Brille, aber aus seinen Augen sprach etwas, das direkt aus der Hölle gekrochen zu sein schien.

»Oh Shit«, flüsterte sie und schaute verzweifelt zur Treppe.

Zu weit. Viel zu weit, zu viele Hindernisse zwischen ihr und der Sicherheit. Außerdem konnte er sich bewegen wie eine Schlange. Er würde zuerst dort ankommen.

Die Tür mit dem Schloss lag näher als die Treppe und den Schlüssel hatte sie noch immer fest in der Hand. Sie würde ihre Büchertasche zurücklassen müssen; keine Chance, sie noch zu holen.

Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Schnitt, den Jason ihr am Handgelenk beigebracht hatte, war noch immer frisch; Myrnin konnte ihn riechen – eine laute und deutliche Einladung zum Abendessen.

Sie kickte Bücherstapel aus dem Weg, sprang über einen Haufen Kram und rannte, den Schlüssel in der ausgestreckten Hand, zu der verschlossenen Tür. Ihre Hände zitterten und sie brauchte zwei Versuche, bis sie den überdimensionalen Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt hatte; als sie anfing, ihn umzudrehen, erlebte sie einen Augenblick äußerster Panik, weil er sich nicht drehen ließ...

Aber dann ging es doch, ein glattes metallisches Gleiten von Hebeln und Bolzen und die Tür öffnete sich.

Auf der anderen Seite befand sich ihr eigenes Wohnzimmer, und Shane saß mit dem Rücken zu ihr auf der Couch und spielte ein Videospiel.

Claire hielt inne und war vollkommen aus dem Gleichgewicht. Das konnte nicht wahr sein, oder? Es konnte eigentlich gar nicht sein, dass sie ihn unmittelbar hier sitzen sah, aber sie konnte das computerisierte Knurren hören, die Schläge und die nassen, blutigen Geräusche des Ballerspiels, das er gerade spielte. Sie konnte das Haus riechen. Chili. Er hatte Chili gekocht. Einige seiner Schachteln hatte er noch immer nicht mit nach oben genommen. Sie stapelten sich in der Ecke.

»Shane«, flüsterte sie und streckte die Hand durch den Durchgang. Sie konnte dort etwas fühlen, etwas wie einen leichten Druck, und die Haare auf ihrem Arm zitterten und prickelten.

Shane stellte das Videospiel auf PAUSE und stand langsam auf. »Claire?« Er blickte in die falsche Richtung, er schaute hoch, in Richtung Treppe.

Aber er hatte sie gehört. Und das bedeutete, dass sie einfach hindurchgehen konnte und in Sicherheit wäre.

Dazu sollte es jedoch nie kommen.

Myrnins Hand landete hart auf ihrer Schulter, er zog sie zurück, und als Shane sich ihnen zuwandte, knallte Myrnin die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss.

Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Er war wahnsinnig, das war ihm deutlich anzusehen. Nichts an ihm deutete daraufhin, dass er sie erkannte. Amelies und Sams Warnungen schrillten ihr durch den Kopf. Sie hatte Myrnin unterschätzt und genau das hatte auch die anderen seiner Möchtegern-Lehrlinge das Leben gekostet.

Myrnin zitterte und seine zerstörten Hände waren zu Fäusten geballt. Sein Blut tropfte auf die aufgeschlagene Ausgabe eines alten Chemiebuchs, das neben seinen Füßen lag.

»Wer bist du?«, flüsterte er. Der Akzent war wieder da, der ihr beim ersten Mal schon aufgefallen war, als sie ihn getroffen hatte; dieses Mal war er stärker. Viel stärker. »Kind, was führt dich hierher? Verstehst du nicht, in welcher Gefahr du schwebst? Wer ist dein Schutzherr? Wurdest du mir als Geschenk geschickt?«

Sie schloss einen Moment lang die Augen, dann öffnete sie sie wieder, schaute ihn direkt an und sagte: »Sie sind Myrnin und ich bin Claire; ich bin Ihre Freundin. Ich bin eine Freundin, okay? Sie sollten mich Ihnen helfen lassen. Sie verletzen sich selbst.«

Sie deutete auf seine verletzten Finger. Myrnin schaute hinunter und schien überrascht zu sein, so als hätte er das gar nicht gespürt. Hatte er vielleicht auch nicht.

Er machte zwei Schritte zurück, stieß gegen einen Labortisch und warf einen Ständer mit leeren Teströhrchen aus Glas um. Sie fielen heraus und zersprangen auf dem schmutzigen Steinfußboden.

Myrnin taumelte, dann sank er zu Boden, bis er mit dem Rücken zur Wand dasaß. Er bedeckte das Gesicht mit seinen blutigen Händen und begann, sich vor und zurück zu wiegen. »Es ist falsch«, klagte er. »Da war etwas Wichtiges, etwas, das ich tun musste. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was das war.«

Claire beobachtete ihn, sie war noch immer zu Tode verängstigt und dann ging sie gegenüber von ihm in die Hocke. »Myrnin«, sagte sie. »Die Tür. Die, die ich geöffnet habe. Wohin führt sie?«

»Tür? Türen. Augenblicke in der Zeit, nur Augenblicke, nichts davon bleibt; sie fließt wie Blut, weißt du, einfach wie Blut. Ich habe versucht, Flaschen davon abzufüllen, aber sie bleibt nicht frisch – die Zeit, meine ich. Blut bildet einen Kreislauf, die Zeit ebenfalls. Wie heißt du?«

»Claire, Sir. Mein Name ist Claire.«

Er ließ seinen Kopf nach hinten gegen die Wand fallen. Blutige Tränen liefen über seine Wangen. »Vertrau mir nicht, Claire. Vertrau mir niemals.« Er ließ seinen Hinterkopf mit solcher Wucht gegen die Wand prallen, dass Claire zusammenzuckte.

»Ich – nein, Sir. Das werde ich nicht tun.«

»Wie lange sind wir schon befreundet?«

»Nicht besonders lang.«

»Ich habe keine Freunde«, sagte er dumpf. »Man hat keine, wenn man so alt ist wie ich, weißt du? Man hat Rivalen, man hat Verbündete, aber man hat keine Freunde, niemals. Du bist noch zu jung, viel zu jung, um das zu verstehen.« Er schloss kurz die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er beinahe normal aus. Beinahe. »Amelie möchte, dass du bei mir lernst, nicht wahr? Du bist also meine Schülerin?«

Dieses Mal nickte Claire einfach. Was immer das für ein Anfall gewesen war, er ging gerade vorbei und Myrnin wirkte leer und erschöpft und auch wieder traurig. Er setzte seine Brille ab, klappte sie zusammen und steckte sie in seine Manteltasche.

»Du wirst es nicht können«, sagte er. »Du kannst unmöglich schnell genug lernen. Ich hätte dich heute Abend fast umgebracht und das nächste Mal werde ich mich nicht beherrschen können. Die anderen...«Er hielt inne, sah einen Moment lang aus, als wäre ihm übel, dann räusperte er sich. »Ich bin nicht – ich war nicht immer so, Claire. Versteh das bitte. Anders als die meisten meiner Art wollte ich nie ein Monster sein. Ich wollte einfach nur lernen und dies war eine Möglichkeit, für immer zu lernen.«

Claire biss sich auf die Lippen. »Das kann ich verstehen«, sagte sie. »Ich... Amelie möchte, dass ich Ihnen helfe und von Ihnen lerne. Glauben Sie, ich bin klug genug dafür?«

»Oh, du bist klug genug. Ob du die Kunstfertigkeiten meistern könntest, vorausgesetzt du hast genug Zeit? Vielleicht. Und du wirst in dieser Angelegenheit keine Wahl haben. Sie wird dich so lange hierherschicken, bis du es gelernt hast oder bis ich dich zerstöre.« Myrnin hob langsam den Kopf und sah sie an. Er wirkte wieder vernünftig und sehr solide. »Habe ich dich daran erinnert, mir nicht zu trauen?«

»Ja, Sir.«

»Das ist ein guter Rat, aber ignoriere ihn dieses eine Mal und lass mich dir helfen.«

»Helfen...«

Myrnin stand auf diese gruslige knochenlose Art auf, die er an sich zu haben schien, und stöberte zwischen Glasbehältern, Bechergläsern und Teströhrchen herum, bis er etwas fand, das wie rotes Salz aussah. Er schüttelte das Gefäß – es hatte etwa die Größe eines Salz- oder Pfefferstreuers – und öffnete es, um einen roten Kristall herauszunehmen. Er berührte damit seine Zunge, schloss kurz die Augen und lächelte.

»Ja«, sagte er. »Das habe ich mir gedacht.« Er schloss den Streuer wieder und hielt ihn ihr hin. »Nimm es.«

Sie gehorchte. Es fühlte sich überraschend schwer an. »Was ist es?«

»Ich habe keine Ahnung, wie ich es nennen soll«, sagte er. »Aber es wird funktionieren.«

»Was soll ich damit machen?«

»Schütte eine kleine Menge davon in deine Handfläche, etwa so.« Er griff nach ihrer Hand. Sie zog sie weg und schloss ihre Finger. Myrnin sah einen Moment lang verletzt aus. »Nein, du hast recht. Mach du das. Ich bitte um Verzeihung.« Er reichte ihr den Streuer und machte eine ermutigende Geste. Sie drehte ihn zögernd über ihrer Handfläche um. Einige grobe rote Kristalle fielen heraus. Er wollte, dass sie weitermachte; sie gehorchte und bewegte den Streuer schnell und ruckartig, bis sich etwa ein halber Teelöffel von dem Zeug angehäuft hatte.

Myrnin nahm den Streuer an sich, stellte ihn wieder dorthin zurück, wo er ihn gefunden hatte, und nickte ihr zu. »Mach schon«, sagte er. »Nimm es.«

»Wie bitte?«

Er machte eine Bewegung, als würde er es sich in den Mund stecken.

»Ich... ähm... was war das noch mal?«

Dieses Mal rollte Myrnin frustriert mit den Augen. »Nimm es ein, Claire! Wir haben nicht viel Zeit. Meine Phasen der Klarheit sind jetzt kürzer. Ich kann nicht garantieren, dass ich nicht wieder abgleite. Bald. Das wird helfen.«

»Das verstehe ich nicht. Wie soll dieses Zeug helfen?«

Er befahl es ihr nicht noch einmal; er flehte sie einfach nur stumm an. Sein Gesicht war aufrichtig und hoffnungsvoll und schließlich führte sie die Hand zum Mund und probierte zaghaft einen der Kristalle.

Es schmeckte wie Erdbeersalz mit einem bitteren Nachgeschmack. Augenblicklich spürte sie einen winzigen Ausbruch eiskalter Klarheit, wie ein Blinklicht, das in einem dunklen Raum voller schöner, glitzernder Sachen aufblitzt.

»Ja«, hauchte Myrnin. »Jetzt verstehst du es.«

Dieses Mal leckte sie mehr Kristalle auf. Vier oder fünf davon. Die Bitterkeit war intensiver, kaum noch mit Erdbeeren versetzt, und die Reaktion erfolgte noch schneller. Es war, als hätte sie geschlafen und wäre jetzt plötzlich wach. Herrlich und irgendwie verwirrend wach.

Die Welt war so scharf, dass es ihr schien, als könnte sie sich selbst an dem stumpfen, abgenutzten Holz des Tisches schneiden.

Myrnin hob irgendein beliebiges Buch auf und öffnete es. Er hielt es ihr hin und es war wie ein weiteres Aufleuchten von Licht in der Finsternis, glänzend und herrlich, oh, so schön, wie sich die Wörter aneinanderschmiegten und in ihr Gehirn schnitten. Es war schmerzlich und perfekt und sie las, so schnell sie konnte.

**

Die Essenz von Gold ist die Essenz der Sonne und die Essenz von Silber ist die Essenz des Mondes. Arbeite ihren Eigenschaften entsprechend mit beiden, mit Gold am Tage, mit Silber bei Nacht...

**

Es ergab einen Sinn für sie. Einen vollkommenen Sinn. Alchemie war lediglich die Erklärung eines Poeten dafür, wie Materie und Energie sich gegenseitig beeinflussten, wie unterschiedliche Oberflächen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten schwangen; es war Physik, nichts als Physik und sie konnte jetzt verstehen, wie es angewandt wurde.

Und dann... dann war ihr plötzlich, als wären alle Glühbirnen wieder gedämpft worden.

»Mach weiter, nimm es ein«, sagte Myrnin. »Die Dosis in deiner Hand reicht eine Stunde oder so. In dieser Zeit kann ich dir eine ganze Menge beibringen. Vielleicht genug, um zu wissen, in welche Richtung wir weiterdenken sollen.«

Dieses Mal zögerte Claire nicht und leckte auch noch das letzte kleine Kristallstückchen von ihrer Hand.

***

Myrnin hatte recht, die Wirkung der Kristalle dauerte etwas mehr als eine Stunde an. Er selbst nahm auch welche, immer einen nach dem anderen, wobei er sie sorgfältig portionierte, damit sie reichten, bis schließlich selbst ein roter Kristall die wachsende Verwirrung in seinen Augen nicht mehr vertreiben konnte. Zum Ende hin wurde er ängstlich. Claire begann, die Bücher zuzuklappen und auf dem Tisch zu stapeln – die beiden saßen im Schneidersitz auf dem Fußboden und waren praktisch unter Büchern begraben. Myrnin war mit ihr von einem Buch zum anderen gesprungen, ein Absatz von hier, ein Kapitel von dort, eine physikalische Tabelle und eine Seite mit etwas, das so alt war, dass er ihr erst die Sprache beibringen musste, bevor sie es verstehen konnte.

Ich habe Sprachen gelernt. Ich habe... ich habe so vieles gelernt. Er hatte ihr ein Diagramm gezeigt, das nicht einfach nur ein Diagramm war – es war dreidimensional und kompliziert wie eine Schneeflocke. Morganville war nicht einfach so entstanden; es wurde geplant. Um die Vampire herumgeplant. Von den Vampiren geplant und von Myrnin und Amelie durchgeführt. Die Häuser der Gründerin waren ein Teil davon – dreizehn intelligente, harte Knotenpunkte der Macht in einem Netz, das ein komplexes Energiemuster zusammenhielt. Es konnte Leute durch die Türen von einem Ort zum anderen bewegen, auch wenn Claire noch nicht verstanden hatte, wie diese gesteuert wurden. Aber das Netz konnte noch mehr. Es konnte Erinnerungen verändern. Es konnte sogar Leute fernhalten, wenn Amelie das wollte.

Myrnin hatte ihr auch die Protokolle all der Nachforschungen gezeigt, die er in den vergangenen siebzig Jahren über die Krankheit der Vampire durchgeführt hatte. Es war erschreckend, wie seine Notizen von makellosen Aufschrieben zu Gekritzel degenerierten und am Ende auch manchmal zu Schwachsinn.

Ein Teil von ihr fragte sich noch immer, ob sie nicht einfach untätig zusehen und es geschehen lassen sollte, aber Myrnin...was er wusste, was er vollbracht hatte – und niemals zuvor hatte sie so viel gelernt, niemals, von niemandem.

Vielleicht ein bisschen. Vielleicht könnte ich ihm nur ein kleines bisschen helfen.

Die Wirkung der Kristalle ließ jetzt nach und Claire fühlte sich schrecklich müde. Ihre Muskeln schmerzten gleichmäßig, ein fiebriges Pochen, das ihr mitteilte, dass dieses Zeug nicht gerade gut für den menschlichen Körper war. Sie konnte spüren, wie jeder Herzschlag durch ihren Kopf hämmerte, und alles sah so dunkel aus. So... verwirrend.

Sie fühlte einen Luftzug an ihrer Wange und sie wandte sich zur Treppe um. Michael kam die Treppe herunter, wobei er sich schneller bewegte, als sie je gesehen hatte. Als er sie bei Myrnin sitzen sah, hielt er rasch an.

»Er sollte eigentlich...«

»...in einen Käfig eingesperrt sein? Ja, ich weiß.« Claire wusste, dass sie verbittert klang, aber es war ihr egal. »Er ist krank, Michael. Er ist kein Tier. Außerdem bricht er sowieso aus, wenn man ihn einsperrt.«

Michael sah plötzlich sehr jung aus, obwohl er älter als sie war. Und obendrein ein Vampir. »Claire, steh auf und komm zu mir. Bitte.«

»Warum? Er wird mir nichts tun.«

»Er kann nichts für das, was er tut. Hör mal, Sam hat mir erzählt, wie viele Leute er umgebracht hat...«

»Er ist ein Vamp, Michael. Natürlich hat er...«

»Wie viele er in den letzten zwei Jahren umgebracht hat. Mehr als alle anderen Vampire in Morganville zusammen. Du bist hier nicht sicher. Steh jetzt auf und komm zu mir herüber.«

»Er hat recht«, sagte Myrnin. Claire konnte erkennen, dass er sich verlor, aber er klammerte sich verzweifelt daran, der Mann zu sein, der er in der vergangenen Stunde gewesen war. Der sanfte, lustige, süße Typ, der aufgeregt und leidenschaftlich darauf brannte, ihr seine Welt zu zeigen. »Zeit für dich zu gehen.« Er lächelte und zeigte seine Zähne – nicht seine Vampirzähne. Ein sehr menschlicher Gesichtsausdruck. »Ich komme gut allein zurecht, Claire, zumindest ist kaum jemand da, dem ich etwas antun könnte. Amelie wird jemanden schicken, der sich um mich kümmert. Und normalerweise komme ich hier nicht heraus, wenn ich – alles vergesse. Es ist zu schwierig für mich, die Schlüssel zu finden, und wenn ich sie doch finde, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie man sie benutzt. Aber wie man tötet, vergesse ich nie. Dein Freund hat recht. Du solltest jetzt gehen, bitte. Sofort. Mach mit deinen Studien weiter.«

Es war dumm, aber sie hasste es, ihn so zurückzulassen, wenn all das Licht in seinen Augen erlosch und die Wolken der Furcht und der Verwirrung aufzogen.

Sie hatte es nicht vor – es passierte einfach.

Sie umarmte ihn.

Es war, als würde man einen Baum umarmen. Er war so überrascht, dass er sich steif wie ein Holzblock machte. Sie hatte ja keine Ahnung, wie lang es her war, dass ihn jemand auf diese Weise berührt hatte. Einen Moment lang widerstand er, dann legte er seine Arme um sie und sie fühlte, wie er einen tiefen Seufzer ausstieß. Es war zwar keine richtige Umarmung, nicht wirklich, aber so nah dran, wie er je an eine Umarmung kommen würde.

»Flieg davon, kleiner Vogel«, flüsterte er. »Beeil dich.«

Sie wich zurück. Seine Augen waren wieder seltsam und sie wusste, dass ihnen die Zeit davonlief. Eines Tages wird er nicht mehr zurückkommen, sondern immer das Biest bleiben.

Michael war an ihrer Seite. Sie hatte nicht gehört, wie er den Raum durchquert hatte, aber seine Hand schloss sich um ihre und sein Gesicht spiegelte ehrliches Mitgefühl wider. Nicht für Myrnin. Für sie.

»Du hast ihn gehört«, sagte Michael. »Beeil dich.«

Sie stieß gegen den Tisch und das Gläschen mit den roten Kristallen schwankte ein wenig und wäre fast umgefallen. Sie packte es und stellte es wieder gerade hin, dann dachte sie: Was, wenn er es verliert? Er verliert dauernd irgendwas.

Sie würde es nur verwahren, das war alles. Es half ihm, nicht wahr? Deshalb sollte sie dafür sorgen, dass er es nicht umkippte oder wegwarf oder so.

Sie ließ es in ihre Tasche gleiten. Sie glaubte nicht, dass Myrnin es gesehen hatte, und sie war sich sicher, dass Michael nichts bemerkt hatte. Claire fühlte Hitze in sich aufsteigen – war es Scham? Verlegenheit? Aufregung? Ich sollte es zurückstellen. Aber im Ernst, sie würde es nie wiederfinden, wenn er es verlegte. Myrnin würde sich nicht daran erinnern. Er würde nicht einmal merken, dass es fehlte.

Als sie die Treppe hinaufging, drehte sie sich ständig um. Kaum waren sie halb draußen, hatte Myrnin sie schon vergessen und stöberte rastlos in einem Bücherstapel herum, wobei er unruhig vor sich hin murmelte.

Er war schon fort.

Er schaute zu ihnen hinauf und knurrte. Sie sah das harte Funkeln von Vampirzähnen.

Schnell lief sie die Treppe hinauf zur Tür.