4

 

Die Spaghetti schmeckten gut und nach einigem Überreden konnten sie Shane dazu bewegen, sich auch mit an den Tisch zu setzen und zu essen. Er saß Michael gegenüber, aber sie sprachen nicht miteinander und ihre Blicke wichen sich aus. Alles in allem ziemlich höflich. Claire fing gerade an, sich zu entspannen, als Shane ungerührt sagte: »Hast du da extra viel Knoblauch reingetan, Eve? Du weißt, wie sehr ich Knoblauch mag.«

Sie warf ihm einen giftigen Blick zu. »Oh, das hat bereits die ganze Nachbarschaft mitgekriegt.« Dann warf sie Michael einen entschuldigenden Blick zu. »Es ist okay, oder? Nicht zu viel?« Vampire mochten Knoblauch nämlich nicht so besonders. Deshalb neigte Shane auch dazu, alles, was er aß, damit zu garnieren.

»Es ist okay«, sagte Michael, aber er stocherte in seinem Essen herum und sah ein bisschen blass aus. »Monica ist heute vorbeigekommen. Sie wollte zu dir, Claire.«

Shane und Eve stöhnten auf. Ausnahmsweise waren alle drei ihrer Mitbewohner mal vollkommen einer Meinung. Und alle drei schauten sie an.

»Was?«, fragte sie. »Ich schwöre, es ist nicht so, dass...ich schleime mich nicht bei ihr ein oder so! Sie ist einfach...verrückt, okay? Ich bin nicht ihre Freundin. Und ich habe keine Ahnung, warum sie vorbeikommt.«

»Wahrscheinlich will sie dir nur wieder eine Falle stellen«, sagte Eve und schaufelte noch mehr Spaghetti in ihre Schüssel. »Wie damals auf der Party der Studentenverbindung. Hey, am Freitag schmeißt sie eine Party, hast du davon gehört? Superexklusiv, sie lässt Leute von außerhalb der Stadt einfliegen und so. Ich nehme an, sie hat Geburtstag oder Daddy-hat-mir-Geld-gegeben-Tag oder was auch immer. Wir sollten die Party platzen lassen.«

»Klingt gut«, sagte Shane. »Monicas Party platzen lassen.« Er warf Michael einen Blick zu, dann schaute er schnell weg. »Wie steht’s mit dir? Verstößt das gegen irgendeinen Vampirverhaltenskodex oder so?«

»Fuck you, Shane.«

»Jungs«, sagte Eve sittsam. »Achtet auf eure Sprache, wir haben eine Minderjährige am Tisch.«

»Na ja«, sagte Shane, »ich hatte sowieso nicht vor, es zu tun.«

Claire rollte die Augen. »Als wäre es das erste Mal, dass ich das gehört habe. Oder gesagt habe.«

»Du solltest es nicht sagen«, sagte Michael todernst. »Nein, wirklich. Mädchen sollten ›du kannst mich mal‹ sagen, nicht ›fuck you‹. ›Leck mich‹ würde ich auch nicht empfehlen. Nicht in Morganville. Da könnte man ja gleich ›beiß mich‹ sagen.«

Eve verschluckte sich an ihren Spaghetti. Shane klopfte ihr auf den Rücken, aber er lachte auch und Michael ebenfalls. Claire starrte sie eine kleine Weile an, bevor sie zugeben musste, dass es im Grunde genommen doch witzig war.

Alles war gut.

»Also. Freitagabend?«, fragte Eve, wischte sich die Augen und schnappte zwischen ihren Kicheranfällen nach Luft. »Party? Ich hätte es mal wieder nötig, so richtig auf den Putz zu hauen.«

»Ich bin dabei«, sagte Michael und nahm eine riesige Gabel Spaghetti. Claire fragte sich, ob er sich daran verbrennen würde. »Ich glaube, wenn ich dabei bin, kann sie uns wohl kaum die Tür vor der Nase zuschlagen. Vampir-VIP-Status. Für irgendetwas muss es ja gut sein.«

Shane schaute ihn an und einen Moment lang war da diese Wärme, die Claire so sehr vermisst hatte, aber dann war sie wieder weg und die Mauer zwischen ihnen stand wieder fest an ihrem Platz.

»Muss schön sein«, sagte er. »Wir sollten aber schon alle hingehen, wenn wir Monica dadurch den Abend verderben wollen.«

Sie beendeten das Abendessen in unangenehmem Schweigen. Claire wurde bewusst, dass sie die ganze Zeit an dieses rote Samtkästchen oben in ihrem Zimmer dachte, und sie hatte Mühe, nicht schuldbewusst auszusehen. Was ihr wohl nicht so recht gelang. Sie ertappte Michael, wie er sie mit seltsam intensivem Blick beobachtete; entweder er bemerkte ihr Unbehagen oder er fragte sich, warum sie sich nicht begeistert auf die Gelegenheit stürzte, auf Monicas Party aufzukreuzen.

Sie aß zu schnell, wusch ihr Geschirr ab und murmelte etwas von Hausaufgaben. Dann rannte sie nach oben. Es war ja nicht so, dass sie nicht daran gewöhnt waren, dass sie lernte. Shane war mit dem Abwasch dran, er würde also noch eine Weile beschäftigt sein...

Das Kästchen stand noch da, wo sie es hingestellt hatte. Auf der Kommode. Sie griff danach, lehnte sich an die Wand und rutschte daran herunter, bis sie im Schneidersitz auf dem Boden saß. Sie wog das Kästchen in der Hand.

»Du fragst dich, ob du es tragen sollst oder nicht«, sagte Amelie. Claire schrie vor Überraschung auf. Die elegante Vampirälteste saß völlig gelassen in dem antiken Samtsessel in der Ecke, die Hände sittsam im Schoß gefaltet. Sie sah aus wie ein Gemälde, nicht wie eine Person; sie hatte etwas an sich – im Moment mehr denn je –, das alt und kalt wie Marmor wirkte.

Claire rappelte sich auf und kam sich deswegen blöd vor, aber so saß man einfach nicht in Amelies Gegenwart. Amelie bedachte ihre Höflichkeit mit einem würdevollen Nicken, rührte sich jedoch ansonsten nicht.

»Bitte entschuldige diesen Überraschungsbesuch, Claire, aber ich musste mit dir unter vier Augen sprechen«, sagte sie.

»Wie kommen Sie hier herein? Ich meine, das ist unser Haus; ist Vampiren nicht...«

»... der Zutritt verboten? Das gilt nicht für das Zuhause eines anderen Vampirs, und obgleich ihr alle menschlich seid, gehört das Haus letztendlich noch immer mir. Ich habe es gebaut, so wie ich alle ›Häuser der Gründerin‹ gebaut habe. Das Haus kennt mich, deshalb brauche ich keine Erlaubnis, um hereinzukommen.« Amelies Augen funkelten in der Dunkelheit. »Stört dich das?«

Claire schluckte und gab keine Antwort. »Was wollen Sie?«

Amelie hob einen langen, schlanken Finger und deutete auf das Samtkästchen in Claires Hand. »Ich möchte, dass du das trägst.«

»Aber...«

»Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.«

Claire schauderte. Obwohl Amelies Stimme nicht laut wurde, klang sie... hart. Sie öffnete das Kästchen und ließ das Armband herausfallen. Es fühlte sich schwer und warm in ihrer Hand an und sie musterte es vorsichtig.

Es gab keinen Verschluss, aber es war deutlich zu klein, um über ihre Hand zu passen. »Ich weiß nicht, wie...«

Aus dem Augenwinkel sah sie einen Blitz, und als sie aufsah, nahm ihr Amelie gerade das Armband aus der Hand und kalte, starke Finger umfassten ihren Arm.

»Es wurde für dich angefertigt«, sagte Amelie. »Halt still. Anders als die Armbänder, die die meisten anderen Kids tragen, kann deines nicht entfernt werden. Der Vertrag, den du unterschrieben hast, gibt mir dieses Recht, verstehst du?«

»Aber – nein, ich möchte das nicht...«

Zu spät. Amelie bewegte sich und das Armband schien durch Claires Haut und Knochen hindurchzugehen, um sich schwer um ihr Handgelenk zu schließen. Claire versuchte, sich loszureißen, aber sie hatte keine Chance, so stark wie Amelie war. Amelie lächelte und hielt sie noch einen Augenblick lang fest, einfach so aus Prinzip, bevor sie sie wieder losließ. Claire drehte hektisch am Armband, drückte darauf herum und suchte nach dem Trick.

Es sah aus, als hätte es keinen Verschluss, und es ließ sich nicht entfernen.

»Es muss auf diese Weise gemacht werden, auf die alte Weise«, sagte Amelie. »Dieses Armband wird dein Leben schützen, Claire. Du wirst noch an meine Worte denken. Es ist eine Gunst, die ich in meinem ganzen Leben kaum jemandem gewährt habe. Du solltest dankbar sein.«

Dankbar? Claire fühlte sich wie ein Hund an der Leine und sie hasste es. Sie funkelte Amelie an. Das Vampirlächeln wurde noch intensiver. Man konnte nicht wirklich sagen, dass es strahlender wurde – etwas in diesem Lächeln höhlte die ganze Vorstellung von Freude aus.

»Vielleicht wirst du mir zu einem späteren Zeitpunkt noch dankbar sein«, sagte Amelie und zog die Augenbrauen hoch. »Nun gut. Ich verlasse dich jetzt. Zweifellos hast du zu lernen.«

»Und wie soll ich das vor meinen Freunden geheim halten?«, brach es aus Claire heraus, als die Vampirin zur Tür ging.

»Das brauchst du nicht«, sagte Amelie und öffnete die Tür, ohne sie aufzuschließen. »Vergiss nicht, dass du für Myrnin morgen gut vorbereitet sein sollst.« Sie ging in den Flur hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Claire stürzte nach vorne und drehte am Knauf, aber sie wollte sich nicht öffnen lassen. Als sie die Verriegelung geöffnet und die Tür aufgemacht hatte, war Amelie verschwunden. Der Flur war leer. Claire stand da und lauschte dem Geschirrgeklapper, das von unten heraufdrang. Ihr war zum Heulen zumute.

Sie rieb sich die Augen und holte tief Luft. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch und versuchte zu lernen.

***

Der nächste Tag brachte eine hektische Abfolge von Unterrichtsstunden, Tests und Diskussionsgruppen mit sich und Claire war froh, als sie Mittagspause hatte. Sie kam sich bescheuert vor in ihrem langärmligen Shirt, aber es war das einzige Kleidungsstück, das sie besaß, mit dem sie das Armband verdecken konnte. Und das wollte sie unbedingt. So weit, so gut. Eve hatte es nicht bemerkt, Shane war noch nicht wach gewesen, als sie zur Uni aufbrachen. Keine Spur auch von Michael. Gestern Abend hatte sie verzweifelt verschiedene Methoden ausprobiert, das goldene Armband loszuwerden – eine Schere, dann einen rostigen alten Bolzenschneider aus dem Keller –, aber sie zerbrach die Schneide der Schere und der Bolzenschneider war zu unhandlich und rutschte vom Metall ab. Allein schaffte sie es nicht und sie konnte niemanden um Hilfe bitten.

Ich kann es nicht für immer verstecken.

Nun, sie konnte es aber versuchen.

Claire machte sich auf den Weg zur Cafeteria. Dort traf sie Eve allein hinter der Theke an. Sie sah erschöpft aus und ihre Wangen waren unter ihrem Reispuder-Make-up gerötet. »Wo ist Amy?«, fragte Claire und reichte ihr drei Dollar für einen Mochaccino. »Ich dachte, sie arbeitet die ganze Woche?«

»Ja, das dachte ich eigentlich auch. Ich habe meinen Boss angerufen, aber er ist krank und Kim auch, deshalb bin ich heute allein. Es gibt nicht genug Kaffee auf der Welt, um mir das zu erleichtern.« Eve pustete sich die Haare aus der verschwitzten Stirn, flitzte zur Espressomaschine hinüber und bereitete ein paar Tassen zu. »Hast du auch ab und zu diese Träume, in denen du rennst und alles andere stillsteht, aber du trotzdem nicht aufholen kannst?«

»Nein«, sagte Claire. »Ich träume normalerweise, dass ich im Unterricht nackt bin.«

Eve grinste. »Dafür bekommst du einen Schuss Karamell gratis. Komm, setz dich. Du brauchst jetzt nicht auch noch hier zu kreisen wie all die anderen Geier.«

Claire beanspruchte einen der Studiertische für sich und breitete ihre Bücher aus; als Eve sie rief, holte sie ihren Mochaccino ab und gähnte, als sie Letzter Wille und Testament wieder aufschlug. Sie hatte fast die ganze Nacht damit zugebracht, die Symbole auswendig zu lernen, aber sie waren tückisch. Die ägyptischen hatte sie alle gelernt, aber diese waren eine ganze Ecke weniger klar und sie hatte das Gefühl, dass Myrnin bei Fehlern nicht besonders nachsichtig sein würde.

Ein Schatten fiel über ihr Buch. Sie blickte auf und sah Detective Travis Lowe und seinen Partner Joe Hess, die dicht hinter ihr standen. Sie kannte die beiden recht gut; sie hatten ihr in der verrückten Zeit beigestanden, als Shanes Dad in Morganville herumgeschlichen war und versuchte, Vampire zu killen (und das mit Erfolg). Sie trugen keine Armbänder und hatten keinen Schutz; soweit sie verstanden hatte, hatten sie eine Art Sonderstatus. Sie war nicht sicher, wie sie das geschafft hatten, aber sie mussten wohl etwas mächtig Tapferes getan haben.

»Morgen, Claire«, sagte Hess und zog sich einen Stuhl heran. Lowe tat es ihm nach. Sie waren sich vom Körperbau her nicht besonders ähnlich – Hess war groß und irgendwie drahtig, er hatte ein längliches Gesicht. Lowe war mollig und bekam eine Glatze. Aber der Ausdruck in ihren Augen war identisch – vorsichtig, hintergründig und wachsam. »Wie geht’s dir so?«

»Gut«, sagte sie und widerstand dem beinahe übermächtigen Bedürfnis, ihr Armband zu berühren, an ihm herumzufummeln. Sie schaute von einem zum anderen und wurde immer verunsicherter. »Was gibt es? Stimmt etwas nicht?«

»Ja«, sagte Lowe. »Das kann man wohl sagen. Hör mal, Claire, es ist – tut mir leid, dass ich dir das jetzt sagen muss, aber ein totes Mädchen wurde hinter eurem Haus gefunden. Die Müllmänner haben sie heute Morgen entdeckt.«

Ein totes Mädchen? Claire schluckte schwer. »Wer ist sie?«

»Amy Callum«, sagte Hess. »Sie war von hier. Ihre Familie lebt nur ein paar Häuserblocks von euch entfernt. Ihre Eltern sind fix und fertig deswegen.« Sein Blick wanderte zur Theke. »Sie hat hier gearbeitet.«

Amy? Die Cafeteria-Amy? Oh nein... »Ich kannte sie«, sagte Claire schwach. »Sie hat mit Eve zusammengearbeitet. Sie sollte heute hier sein. Eve sagte...« Eve. Claire schaute hinüber und sah, dass Eve noch immer fröhlich plauderte, Bestellungen zubereitete und Geld kassierte. Sie hatten es ihr noch nicht gesagt. »Sind Sie sicher, dass es unser Haus war?«

»Claire...«Die beiden Detectives wechselten einen Blick, der gar nicht gut aussah. »Ihre Leiche war in eure Mülltonne gestopft. Wir sind uns sicher.«

Claire fühlte sich schwach. So nah...es war gerade mal zwei Tage her, dass sie den Müll hinausgebracht hatte. Mülltüten in die Tonne geworfen hatte. Amy war da noch am Leben gewesen. Und jetzt...

»Hast du letzte Nacht irgendetwas gesehen?«, fuhr Hess fort.

»Nein, ich war...es war dunkel, als ich nach Hause kam. Und dann habe ich die ganze Nacht gelernt.«

»Hast du etwas gehört, vielleicht Lärm draußen bei den Mülltonnen?«

»Nein, Sir. Ich hatte Kopfhörer auf. Es tut mir leid.«

Shane hatte aus dem Fenster gesehen, fiel ihr ein. Vielleicht hatte ja er jemanden gesehen. Aber das hätte er gesagt, oder? So etwas würde er nicht verheimlichen.

Ein schrecklicher Gedanke kam ihr und sie schaute zu Joe Hess’ ruhigen, unvoreingenommenen Augen auf. »War es...« Zu viele Leute um sie herum. Sie ahmte Vampirzähne nach, die sich in einen Hals gruben.

Er schüttelte den Kopf.

»Es ist wie bei der Letzten, die wir gefunden haben«, sagte Lowe. »Man kann unsere bezahnten Freunde nicht ausschließen, aber es ist nicht ihr Stil. Du weißt, wessen Stil es ist, nicht wahr?«

»Jason«, sagte Claire benommen. »Eves Bruder. Läuft er noch immer frei herum?«

»Wir haben ihn bisher noch bei nichts Illegalem erwischt. Aber das schaffen wir noch. Er ist zu verrückt, um ein normales Leben zu führen.« Lowe musterte sie. »Du hast ihn wohl nicht gesehen, oder?«

»Nein.«

»Gut.« Als hätten sie sich durch irgendein Signal verständigt, standen Hess und Lowe auf. »Wir gehen jetzt besser und sagen es Eve. Hör mal, wenn dir noch etwas einfällt, dann ruf uns an, okay? Und geh nicht allein raus. Schutz nützt dir in diesem Fall nichts.« Lowe warf einen vielsagenden Blick auf ihr Handgelenk und sie fühlte, wie sie rot wurde, als hätte er gerade erraten, welche Farbe ihr Slip hat. »Wenn du aus dem Haus musst, dann nimm einen deiner Freunde mit, okay? Dasselbe gilt für Eve. Wir werden versuchen, ein Auge auf euch zu haben, aber Vorsicht ist die beste Verteidigung.«

Claire sah den beiden Cops nach, als sie weggingen. Sie nickten einem recht großen jungen Mann zu, der in ihre Richtung kam. Einen Augenblick lang dachte sie, es sei Michael – er hatte denselben Gang und in etwa dieselbe Figur – aber dann fiel das Licht auf sein Haar. Es war rot, nicht blond wie Michaels.

Sam. Sam Glass, Michaels Großvater. Amelie hatte ihr angekündigt, dass Sam sie zu Myrnin begleiten würde; das hatte sie ganz vergessen. Na ja, das war okay. Claire mochte Sam. Er war ruhig und freundlich und wirkte überhaupt nicht wie ein Vampir, wenn man mal von der blassen Haut und dem leicht merkwürdigen Schimmern in seinen Augen absah. Genau wie Michael, jetzt wo sie darüber nachdachte. Aber immerhin waren sie die beiden jüngsten Vampire und dann auch noch – seltsamerweise – verwandt. Vielleicht wurden Vampire immer weniger normal, je älter sie wurden.

»Hey, Claire«, sagte Sam, als hätten sie sich gerade vor fünf Minuten unterhalten, dabei hatte sie ihn mindestens eine Woche nicht gesehen. Sie nahm an, dass Vampire Zeit anders empfanden. »Was wollten die?« Er trug ein TPU-T-Shirt und Jeans und irgendwie sah er toll aus. Für einen rothaarigen Vampir zumindest. Und er hatte ein hübsches, wenn auch abwesendes Lächeln. Sie war nicht sein Typ. Soweit Claire wusste, war Sam noch immer total in Amelie verknallt, eine Vorstellung, mit der ihr Gehirn mehr Schwierigkeiten hatte als mit Stringtheorie und gekrümmten Flächen.

Er wartete noch immer auf eine Antwort. Mühsam brachte sie eine zustande. »Ein totes Mädchen. Sie wurde in unserer Mülltonne gefunden. Amy. Amy Callum?«

Sams lebhaftes, ernstes Gesicht wurde grimmig.

»Verdammt. Ich kenne die Familie, es sind nette Leute. Ich werde bei ihnen vorbeischauen.« Er setzte sich hin, beugte sich vor und senkte die Stimme. »Sie wurde nicht von einem Vampir getötet, so viel weiß ich. Ich hätte bereits davon gehört, wenn jemand aus der Reihe getanzt wäre.«

»Nein«, stimmte Claire zu. »Es klang so, als hätte sie einer von uns ermordet.« Sie erschrak, als ihr bewusst wurde, dass Sam nicht zu »uns« gehörte, und wurde rot. »Ich meine...ein... Mensch.«

Sam lächelte sie an, aber seine Augen waren ein wenig traurig. »Schon okay, Claire; ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Es ist eine ›Wir-und-sie‹-Stadt.« Er schaute auf seine Hände hinunter, die locker und entspannt auf der Tischplatte lagen. »Ich soll dich zu deiner Verabredung bringen.«

»Ja.« Sie schloss hastig ihre Bücher und begann, ihren Rucksack einzupacken. »Tut mir leid, ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es ist.«

»Keine Hektik«, sagte er. Er sah sie noch immer nicht an. Sehr leise fuhr er fort: »Claire. Bist du dir sicher, dass du weißt, was du da tust?«

»Was?«

Seine Hand zuckte nach vorne und umfasste ihr Handgelenk – das mit dem unter dem Ärmel verborgenen Armband. Es grub sich schmerzhaft in ihre Haut. »Du weißt, was ich meine.«

»Au«, flüsterte sie und er ließ los. »Ich musste es tun. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste unterschreiben, damit meine Freunde weiterhin in Sicherheit sind.«

Daraufhin sagte Sam nichts; er schaute sie jetzt an, aber sie traute sich nicht, seinem Blick zu begegnen. Es gefiel ihr nicht, dass er von ihrem Abkommen mit Amelie wusste. Was, wenn er es Michael sagte? Was, wenn Michael es Shane erzählte? Früher oder später wird er es sowieso erfahren. Nun, dann lieber später, fand sie.

»Ich weiß«, sagte Sam. »Ich wünschte, du würdest diese andere Sache nicht machen. Mit Myrnin. Es ist... nicht sicher.«

»Ich weiß. Er ist krank oder so. Aber er wird mir nichts tun. Amelie...«

»Amelie ist nicht besonders gut darin, sich um Einzelne Gedanken zu machen.« Das klang für Sam überraschend bitter, besonders, wenn man berücksichtigte, dass es um Amelie ging. »Sie benutzt dich genauso wie alle anderen Menschen. Das meint sie nicht persönlich, aber es ist auch nicht in deinem besten Interesse.«

»Warum? Was verheimlichst du mir?«

Sam schaute sie lange an und versuchte offensichtlich, sich zu entscheiden. Schließlich sagte er: »Myrnin hatte in den letzten Jahren fünf Lehrlinge. Zwei von ihnen waren Vampire.«

Claire blinzelte überrascht, Sam stand auf.

»Fünf? Was ist aus ihnen geworden?«

»Du stellst die richtigen Fragen. Jetzt musst du nur noch die richtigen Leute fragen.«

Er ging weg. Claire holte tief Luft, nahm ihre Tasche und folgte ihm.

Drüben an der Theke brachten die beiden Detectives gerade Eve die Neuigkeiten bei. Claire blickte genau in dem Moment zurück, als Eve realisierte, dass ihre Freundin tot war. Selbst von der anderen Seite des Raumes aus tat es weh, den Schmerz auf ihrem Gesicht zu sehen, der rasch hinter einer Maske versteckt und weggeschlossen wurde. In Morganville gewöhnte man sich daran, jemanden zu verlieren, dachte Claire.

Gott, diese Stadt war echt ätzend.

***

Sam hatte ein Auto, eine schnittige dunkelrote Limousine mit getönten Scheiben. Es stand in der Tiefgarage bei der Cafeteria auf einem reservierten Parkplatz, auf dem »nur für Sponsoren« stand. Um legal dort zu parken, musste man einen Aufkleber in der Ecke der Windschutzscheibe haben.

Ein Aufkleber, den Sam natürlich hatte. »Und was bedeutet das? Spendest du Geld oder was?«

Sam öffnete ihr die Beifahrertür – Ritterlichkeit, an die sie eigentlich nicht gewöhnt war – und sie stieg ein. »Nicht direkt«, sagte er. »Amelie vergibt sie an Vampire, die auf dem Campus zu tun haben.«

Als er im Wagen war und den Zündschlüssel umdrehte, sagte Claire: »Du hast auf dem Campus zu tun?«

»Ich gebe Abendkurse«, sagte Sam und grinste wie ein zwölfjähriger Junge. Claire hatte das Gefühl, dass Vampire im Allgemeinen nicht darauf standen, so liebenswert vertrottelt auszusehen. Wenn sie das täten, dann wären sie bei den Einheimischen, die ein schlagendes Herz haben, vielleicht beliebter. »Eine Art Sozialprogramm.«

»Cool.« Die Tönung war so dunkel, dass es draußen aussah, als wäre schon Mitternacht. »Du kannst da durchsehen?«

»Klar wie Kloßbrühe«, sagte Sam und sie gab es auf. Sie schnallte sich an und ließ ihn losfahren. Die Fahrt war nicht lang, wie immer in Morganville, aber lang genug, dass ihr einige Dinge an Sams Auto auffielen. Es war sauber. Wirklich sauber. Kein Müll lag herum. (Na ja, er würde sich ja wohl kaum im Auto eben mal einen Burger reinziehen, oder? Moment. Er könnte...)Es roch auch nicht wie die meisten anderen Autos. Es roch neu und irgendwie neutral.

»Wie läuft’s an der Uni?«

Oh, Sam machte jetzt auf »interessierter Erwachsener«. »Gut«, sagte Claire. Keiner will auf so eine Frage ja wirklich die ganze Wahrheit wissen, aber gut war auch nicht gelogen. »Es ist nicht besonders schwierig.« Was auch nicht gelogen war.

Sam warf ihr einen Blick zu, das glaubte sie zumindest im Dämmerlicht, das vom Armaturenbrett ausging. »Vielleicht ziehst du nicht alles daraus, was möglich wäre«, sagte er. »Hast du jemals daran gedacht?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich war den anderen immer ein Stück voraus. Es ist besser als die Highschool, aber ich hatte gehofft, dass es schwieriger wäre.«

»Wie für Myrnin zu arbeiten?« Sam hatte einen trockenen Tonfall angeschlagen. »Okay, das ist eine Herausforderung. Claire...«

»Amelie hat mir nicht gerade eine Wahl gelassen.«

»Aber du möchtest es doch auch, oder?«

Das stimmte. Sie musste es zugeben. Myrnin war Furcht einflößend, aber gleichzeitig hatte er etwas so Intelligentes, Strahlendes an sich. Sie kannte diesen Funken. Sie hatte ihn selbst in sich und suchte immer nach jemandem, der ihn entfachen könnte. »Vielleicht braucht er nur jemanden, mit dem er reden kann«, sagte sie.

Sam gab ein unterdrücktes Geräusch von sich, das irgendwie auch amüsiert klang, und brachte das Auto zum Stehen. »Ich muss schnell sein«, sagte er. »Es ist die Tür am Ende des Weges; ich warte dort im Schatten auf dich.«

Er öffnete die Autotür und... verschwand einfach. Die Tür knallte ganz von selbst zu. Claire staunte, entfernte ihren Sicherheitsgurt und stieg aus, aber Sam war im blendenden Sonnenlicht nirgendwo auf der Straße zu sehen. Das Auto stand am Bordstein einer Sackgasse und sie brauchte einen Augenblick, bis sie das Haus erkannte, vor dem sie stand. Es war ein großer neugotischer Klotz, fast ein Ebenbild des Glass House, in dem sie wohnte. Aber dieses gehörte einer Frau namens Katherine Day und ihrer Enkelin.

Gramma Day saß friedlich schaukelnd auf ihrer Veranda und wälzte mit einem Papierfächer die warme Luft um. Claire hob die Hand und winkte und Gramma winkte zurück. »Kommst du mich besuchen, Mädchen?«, rief Gramma. »Komm hierher, ich hole dir eine Limonade!«

»Später vielleicht!«, rief Claire zurück. »Ich muss gehen...«

Entsetzt stellte sie fest, wohin Sam sie geschickt hatte.

In die Gasse. Die Gasse, vor der sie alle, einschließlich Gramma Day, gewarnt hatten. Die Gasse mit dem Falltürspinnen-Vampir, der schon einmal versucht hatte, sie hineinzulocken.

Gramma zog sich auf die Füße. Sie war eine winzige, verhutzelte Frau, die so trocken und zäh aussah wie altes Leder. In Morganville musste man zäh sein, wenn man alt werden wollte, dachte Claire. »Alles in Ordnung, Mädchen?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Claire. »Danke. Ich – ich werde wiederkommen.«

Sie machte sich Richtung Gasse davon. »Was hast du vor, Mädchen? Bist du noch ganz bei Trost?«, rief Gramma Day ihr nach.

Wahrscheinlich nicht.

Die Gasse war schmal, zu beiden Seiten war ein Zaun und sie schien immer schmaler zu werden, je weiter Claire hineinging. Wie ein Trichter. Sie fühlte jedoch keine seltsame Anziehung oder hörte Stimmen.

Sam sah sie auch nicht.

»Hier«, sagte eine Stimme, als sie um eine leichte Biegung kam. Und da war er. Er lehnte im schwarzen Schatten eines hervorspringenden Durchgangs, der an etwas befestigt war, das wie eine Hütte aussah. Es handelte sich dabei nicht einmal um eine gut gebaute Hütte. Claire fragte sich, ob sie wohl absichtlich so schief war.

»Es ist Myrnin«, sagte sie. »Er ist die Falltürspinne.«

Sam schaute sie nachdenklich an, dann nickte er. »Die meisten Leute wissen, dass sie nicht hierherkommen dürfen«, sagte er. »Er nimmt nur Leute ohne Schutz. Er kann den Unterschied erkennen, deshalb würde er es nicht mit dir versuchen. Nicht jetzt.«

Sehr aufmunternd. Sam öffnete die Tür, die nicht stabil genug aussah, einen kalten Luftzug abzuhalten, und trat ein. Ein Geruch schlug ihnen in der stillen Luft entgegen, etwas Altes und Bitteres. Chemikalien. Altes Papier. Ungewaschene Klamotten.

Nun?

Claire sog die Luft ein, in der all diese Gerüche lagen, und betrat Myrnins Höhle.