7

 

Es gab Morganville – eine trockene, staubige, heruntergekommen Stadt, alles, was die meisten Leute je zu sehen bekamen – und es gab Founder’s Square, ein luxuriöses Stück Europa, wo Leute mit einem schlagenden Herzen unerwünscht waren. Claire war schon einmal dort gewesen und hatte keine gute Erinnerung daran. Ganz egal, wie süß die kleinen Cafés oder wie hübsch die Geschäfte waren, sie hatte nur Augen für das Zentrum des Platzes im Park, dort wo der Käfig gestanden hatte, in den Shane damals gesperrt worden war.

Wo sie ihn bei lebendigem Leibe für etwas verbrennen wollten, das er noch nicht mal getan hatte.

Aus irgendeinem Grund hatte Claire erwartet, dass sie an derselben Stelle wie letztes Mal parken würden – außerhalb des Parks an der Polizeikontrolle –, aber das war natürlich nicht möglich, nicht wahr? Einige der älteren Vampire mochten in der Lage sein, die Sonne auszuhalten, aber sie würden nicht freiwillig im Sonnenschein herumspazieren. Morganville war auf das Wohlbefinden der Vampire eingerichtet, nicht auf das der Menschen, und als Claire die Autotür aufmachte und Gretchen sie mit ungeduldigen Gesten anwies auszusteigen, waren sie in einer Tiefgarage. Sie war voll schicker Autos mit dunkel getönten Scheiben. Wie in einem Einkaufszentrum in Beverly Hills oder so.

Es gab bewaffnete Wachmänner. Einer davon kam auf sie zu, als Gretchen Claire aus dem Wagen zog, aber Hans hielt ihm ein Abzeichen hin und der andere Typ – wahrscheinlich ein Vampir – trat zurück.

»Gehen wir«, sagte Hans. »Deine Schutzpatronin erwartet dich schon.«

Gretchen kicherte. Es klang nicht lustig. Claire stolperte über ihre eigenen Füße und versuchte, Schritt zu halten, als die beiden Vampire ein forsches Tempo anschlugen. Gretchens eisenharter Griff quetschte ihren Oberarm. Claire war außer Atem, als sie zwei Treppenabschnitte erreichten, die die Vampire im Laufschritt erklommen. Oben an der zweiten Treppe war eine Art Brandschutztür mit einer Code-Eingabetastatur. Claire wagte es nicht, einen Blick darauf zu riskieren, was Hans eingab. Sie kannte die Paranoia der Vampire und wusste deshalb, dass ihr das nicht gut bekommen würde. Die Maschinen waren wahrscheinlich ohnehin so eingestellt, dass sie jeden, der ein schlagendes Herz hatte, ausschließen würden.

Was sie sich fragte: Steckte Myrnin auch hinter den Sicherheitsvorkehrungen der Stadt? War das auch etwas, was sie lernen würde? Es wäre wirklich praktisch, wenn sie ihn davon überzeugen könnte, ihr das zu zeigen...

Sie konzentrierte sich auf die technischen Einzelheiten, um sich von ihrer panischen Angst abzulenken, aber sobald sich das Türschloss löste, gab es nichts mehr, worauf sie sich hätte konzentrieren können, außer ihrer Angst, die wie eine klebrige kalte Welle über ihr zusammenschlug. Gretchen schien das zu spüren. Sie schaute mit diesen kühlen, spiegelnden grauen Augen auf sie herunter und lächelte. »Besorgt, Kleines?«, fragte sie zuckersüß. »Um dich oder um deine Freunde?«

»Um Sam«, sagte Claire. Gretchens Lächeln erlosch und für einen kurzen Augenblick schien sie ehrlich überrascht und aus dem Gleichgewicht zu sein. »Ist er am Leben?«, fragte Claire.

»Am Leben?« Gretchens Maske schnellte wieder an ihren Platz zurück und sie hob eine ihrer dünnen, geschwungenen Augenbrauen. »Es gibt noch Rettung für ihn, wenn es das ist, was du meinst. Ich fürchte, dein Freund Shane wird es noch einmal versuchen müssen.«

»Shane hat nichts getan!«

Dieses Mal war Gretchens Lächeln entschieden grausam. »Vielleicht nicht«, sagte sie. »Vielleicht noch nicht. Aber hab Geduld. Er wird etwas tun. Es liegt in seiner Natur, genauso wie Töten in unserer liegt.«

Claire hatte nicht genug Luft, um weiterzusprechen, da sie in Riesenschritten über einen braunen Teppich weitergingen. Claires erster Eindruck vom Gebäude des Ältestenrates war damals gewesen, dass es sich um eine Leichenhalle handelte; so fühlte es sich für sie noch immer an, weil es so ruhig und gedämpft und elegant war.

Letztes Mal standen überall Rosen, als der Vampir dort aufgebahrt war, von dem sie glaubten, dass Shane ihn umgebracht hätte. Dieses Mal sah sie nirgends Blumen.

Gretchen führte sie einen Flur entlang durch eine dicke Doppeltür in die runde Eingangshalle. Dort standen vier bewaffnete Vampirwachen und Gretchen und Hans mussten anhalten, ihren Ausweis zeigen und ihre Waffen abgeben. Claire wurde durchsucht – flinke, erfahrene Berührungen von kalten Händen, die sie schaudern ließen.

Und dann öffneten sich die Türen und sie wurde in einen großen runden Saal mit düsteren, teueren Gemälden gezogen, an dessen hoher Decke Kronleuchter hingen, die wie gefrorene Wasserfälle aussahen. Sie hatte sich den Duft von Rosen nicht eingebildet. In der Mitte des Saals stand ein massiver runder Konferenztisch, der von Stühlen umringt war und auf dem eine Vase mit tiefroten Blumen stand.

Niemand saß am Tisch. Stattdessen stand eine Gruppe von mindestens zehn Leuten auf der anderen Seite des Raumes, die alle auf etwas herunterschauten.

Einige von ihnen wandten sich um und Claires Blick fiel unwillkürlich auf Oliver. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er ihr Leben bedroht und versucht hatte, Shane auf diese Weise aus seinem Versteck zu locken. Als er jetzt aufstand, kam ihr wieder die Erinnerung hoch, wie eisig und hart sich seine Hände um ihre Kehle gelegt hatten. Wie sehr sie sich gefürchtet hatte.

Oliver stieß ein Knurren aus, das tief aus seiner Kehle hervordrang, aber laut genug war, gehört zu werden. Seine Augen waren die eines Wolfes, ganz und gar nicht menschlich.

»Wie ich sehe, bringt ihr uns eine Kriminelle zum Bestrafen«, sagte er und kam auf sie zu.

Gretchen schaute Hans an und schob Claire dann hinter sich. »Halt«, sagte sie. Oliver gehorchte, vor allem weil er so überrascht war. »Das Mädchen hat darum gebeten, ihre Schutzpatronin zu sehen. Wir haben keine Beweise dafür, dass sie schuldig ist.«

»Wenn sie in diesem Haus lebt, dann ist sie schuldig«, sagte Oliver. »Du überraschst mich, Gretchen. Seit wann hast du dich auf die Seite der Atmenden geschlagen?«

Sie lachte, aber ihre Stimme klang dabei hoch und falsch. Sie sagte etwas in einer Sprache, die Claire nicht kannte; Oliver fauchte etwas zurück und Hans legte eine große Hand auf Claires Schulter.

»Wir haben die Verantwortung für sie«, sagte er. »Und sie ist Amelies Eigentum. »Es hat nichts mit dir zu tun, Oliver. Geh aus dem Weg.«

Oliver lächelte, hob die Hände und trat zurück. Hans schob Claire an ihm vorbei und sie fühlte Olivers messerscharfen Blick in ihrem Nacken.

Der Kreis von Leuten teilte sich, als Hans sich näherte. Er bestand sicherlich überwiegend aus Vampiren. Das war ihnen nicht auf die Stirn geschrieben oder so, aber die meisten von ihnen hatten die gleiche kühle bleiche Haut und die gleiche blitzartige Schnelligkeit in ihren Bewegungen. Tatsächlich waren die beiden einzigen Menschen – Atmende? –, die sie sah, Bürgermeister Morrell, der am Rande der Gruppe stand und jämmerlich unbehaglich aussah, und sein Sohn Richard. Richards Uniform war an einigen Stellen feucht und es dauerte einige Sekunden, bis Claire bewusst wurde, dass sie blutgetränkt war.

Sams Blut.

Sam lag auf dem Teppich, sein Kopf war in Amelies Schoß gebettet. Die Vampirälteste kniete am Boden und ihre Hände strichen zärtlich über Sams kupferfarbenes Haar. Er sah bleich und tot aus und der Pfahl stak noch immer in seiner Brust.

Amelie hatte die Augen geschlossen, aber sie schlug sie auf, als Hans Claire auf sie zuschob. Für einen langen Augenblick schien die Vampirin Claire überhaupt nicht zu erkennen, dann spiegelte sich Erschöpfung in ihrem Gesicht wider. Sie schaute auf Sam hinunter, ihre Finger strichen über seine Wange.

»Claire, du musst mir assistieren«, sagte sie, so als würden sie gerade ein Gespräch fortsetzen, an dem Claire noch nicht mal teilgenommen hatte. »Macht ihr bitte Platz.«

Hans ließ sie los und Claire fühlte das unzähmbare Verlangen zu rennen, aus diesem Raum hinauszurennen, Shane zu holen und einfach wegzugehen, irgendwohin – bloß nicht mehr hier zu sein. In Amelies Augen lag etwas, das zu groß war, um es zu verstehen, etwas, von dem sie nichts wissen wollte. Sie wollte gerade einen Schritt zurückmachen, als Amelies Hand hervorschnellte, sie am Handgelenk packte und nach unten zog, sodass sie auf der anderen Seite von Sams Körper auf die Knie fiel.

Er sah aus, als wäre er tot.

Wirklich, endgültig tot.

»Nimm das Holzstück und zieh daran, wenn ich es dir sage«, befahl Amelie, ihre Stimme war tief und fest. »Aber erst, wenn ich es sage.«

»Aber...ich bin nicht besonders stark...« Warum fragte sie nicht Richard? Oder einen der Vampire? Vielleicht sogar Oliver?

»Du bist stark genug. Wenn ich es sage, Claire.« Amelie schloss wieder die Augen und Claire wischte ihre feuchten Handflächen nervös an ihrer Jeans ab. Der Holzpfahl in Sams Brust bestand aus rundem, poliertem Holz, er sah aus wie ein Nagel und sie konnte nicht sagen, wie tief er in seiner Brust steckte. Steckte er in seinem Herzen? Würde ihn das nicht ein für alle Mal umbringen? Sie erinnerte sich daran, dass sie von anderen Vampiren gesprochen hatten, die gepfählt wurden und gestorben waren...

Amelies Miene verzerrte sich plötzlich vor Schmerzen und sie sagte: »Jetzt, Claire!«

Claire dachte gar nicht erst nach. Sie umklammerte den Pfahl mit beiden Händen und zog mit einem gewaltigen Ruck daran. Eine schreckliche Sekunde lang dachte sie, es würde nicht funktionieren, aber dann fühlte sie, wie er an Knochen schabte und freikam.

Sams ganzer Körper wölbte sich, als hätte man ihm mit einem dieser Herzgeräte einen Schock versetzt, und der Kreis der Vampire wich zurück. Amelie packte ihn, ihre Finger waren an der Stelle, wo sie sie gegen die Seiten seines Kopfes presste, blass wie Knochen. Sie riss die Augen auf und sie schienen aus purem, gleißendem Silber zu bestehen.

Claire taumelte nach hinten und umklammerte mit beiden Händen den Pfahl. Jemand befreite ihn aus ihrer Umklammerung – Richard Morrell, er sah grimmig und erschöpft aus. Er steckte ihn in eine Plastiktüte, die er anschließend verschloss.

Ein Beweisstück.

Sam erschlaffte wieder. Die Wunde in seiner Brust blutete, ein langsames, stetiges Tröpfeln; Amelie zog ihre Jacke aus weißer Seide aus und faltete sie zu einem Kissen, das sie auf die Wunde presste, um das Blut zu stillen. Niemand sagte etwas, nicht einmal Amelie. Claire saß da und kam sich hilflos vor, während sie Sam betrachtete. Er rührte sich nicht, nicht das geringste bisschen.

Er sah noch immer aus, als wäre er tot.

»Samuel«, sagte Amelie und ihre tiefe Stimme klang dabei ruhig und warm. Sie beugte sich weiter zu ihm hinunter. »Samuel. Komm zurück zu mir.«

Seine Augen öffneten sich und bestanden nur aus Pupille. Furchterregende Eulenaugen. Claire biss sich auf die Lippen und dachte erneut daran wegzulaufen, aber Hans und Gretchen standen hinter ihr und sie wusste, dass sie ohnehin keine Chance hatte.

Sam blinzelte und seine Pupillen schrumpften langsam wieder auf eine normalere Größe. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus.

»Atme ein«, sagte Amelie mit demselben ruhigen, warmen Tonfall. »Ich bin hier, Samuel. Ich werde dich nicht verlassen.« Sie strich zärtlich mit den Fingern über seine Stirn; er blinzelte wieder und schien sie allmählich zu erkennen.

Es war, als wären die beiden allein auf der Welt. Amelie hatte sich geirrt, dachte Claire. Es ist nicht nur so, dass Sam sie liebt. Sie liebt ihn genauso sehr.

Sam schaute von Amelie zu dem Kreis von Leuten um ihn herum, als suche er jemanden. Als er die betreffende Person nicht fand, schaute er wieder Amelie an. Seine Lippen formten einen Namen. Michael.

»Michael ist in Sicherheit«, sagte Amelie. »Hans, hol ihn her.«

Hans nickte und ging rasch davon. Michael. Claire wurde schlagartig bewusst, dass sie ihn ganz vergessen hatte, bei all dem Entsetzlichen, was passiert war. Wenigstens sah Sam von Minute zu Minute besser aus, aber Amelie drückte weiterhin den provisorischen Verband gegen die Wunde in seiner Brust.

Sams Hand wanderte langsam und schwerfällig nach oben, um sich über die ihre zu legen, und für einige lange Sekunden sahen sie sich schweigend an, bis Amelie ihm zunickte und losließ.

Sam hielt den Verband fest und zog sich mit Amelies Unterstützung in eine sitzende Position. Sie half ihm, sich an die Wand zu lehnen.

»Kannst du uns sagen, was passiert ist?«, fragte sie ihn. Sam nickte, und als Claire aufblickte, sah sie, dass Richard Morrell in die Hocke gegangen war und Stift und Notizbuch bereithielt.

Schließlich fing Sam an zu sprechen. Seine Stimme klang matt und dünn, es strengte ihn offensichtlich an, überhaupt etwas zu sagen.

»Wollte bei Michael vorbeischauen«, sagte er.

»Aber Michael war hier bei uns«, sagte Amelie. »Wir hatten ihn heute Nacht einberufen.«

Sam hob die freie Hand und ließ sie hilflos wieder fallen. »Ich spürte, dass er nicht zu Hause war, deshalb fuhr ich rückwärts wieder aus der Einfahrt. Jemand riss die Autotür auf – Elektroimpulswaffe, konnte mich nicht wehren. Pfählte mich, während ich am Boden lag.«

»Wer?«, fragte Richard. Sam schloss kurz die Augen, dann öffnete er sie wieder.

»Konnte ich nicht sehen. Ein Mensch. Ich hörte sein Herz schlagen.« Er schluckte. »Durst.«

»Zuerst muss die Wunde heilen«, sagte Amelie. »Noch ein paar Minuten. Kannst du uns irgendetwas über diesen Menschen sagen, der dich angegriffen hat?«

Sam öffnete mühsam wieder die Augen. »Er nannte mich Michael.«

Michael kam genau rechtzeitig, um diesen letzten Teil noch zu hören. Mit großen Augen schaute er Claire an, dann ging er neben Sam in die Hocke. »Wer? Der, der das getan hat?«

Sam schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer. Ein Mann, das ist alles, was ich weiß. Er sagte deinen Namen. Ich glaube, er hat mich für dich gehalten.« Sam verzog seine Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Ich nehme an, er hat nicht auf die Haarfarbe geachtet, als er mich pfählte.«

Der Zeitungsartikel. Captain Durchblick. Jemand hatte beschlossen, den neuesten Vampir der Stadt auszulöschen, und es war schieres Glück, dass er stattdessen Sam erwischt hatte. Es hätte Michael sein können, der dort auf der Straße lag.

Und Michaels Gesichtsausdruck nach zu schließen, dachte er gerade genau dasselbe.

***

Amelie war aufgewühlt. Das war nicht wirklich offensichtlich, aber Claire hatte sie oft genug gesehen, um den Unterschied festzustellen. Sie bewegte sich schneller und in ihren Augen lag nicht die übliche Ruhe. Claire schauderte ein wenig, als Amelie sie in ein Nebenzimmer beorderte. Es war klein und leer, vermutlich eine Art Sitzungsraum. Amelie kam nicht allein; ein großer blonder Vampir folgte ihnen und stellte sich mit dem Rücken zur Tür – eine Verriegelung aus Fleisch und Blut. Keine Chance, schnell – oder überhaupt – hinauszukommen.

»Was ist passiert?«, fragte Amelie.

»Ich weiß nicht«, sagte Claire. »Ich habe geschlafen. Ich wachte auf, als...« Beinahe hätte sie als ich die Sirenen hörte gesagt, aber das stimmte ja eigentlich nicht. Sie hatte etwas gespürt, eine Art Alarm, der aus dem Nichts kam. Und Shane und Eve hatten es ebenfalls gespürt. Normalerweise würde es eine Atombombenexplosion brauchen, um Shane in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf zu rütteln, aber er war hellwach gewesen. »Es war, als wäre im Haus ein Alarm losgegangen.«

Amelies Gesicht wurde ganz ruhig und glatt. »Tatsächlich.«

»Warum? Ist das wichtig?«

»Vielleicht. Was noch?«

Claire schüttelte den Kopf.

»Und deine Freunde?«, fragte Amelie. »Wo waren sie?«

Es war keine beiläufige Frage. Claire fühlte, wie ihr Puls schneller wurde, und versuchte, ruhig zu bleiben. Wenn Amelie ihr jetzt nicht glaubte... »Sie haben geschlafen«, sagte sie fest. »Shane war bei mir und ich habe gesehen, wie Eve aus ihrem Zimmer kam. Sie können es nicht gewesen sein.«

Amelie warf ihr einen Blick zu, der sie noch unsicherer machte. »Ich weiß, wie wichtig dir das Leben deiner Freunde ist. Aber du musst verstehen, Claire, dass ich es dir nicht verzeihen werde, wenn du für sie lügst.«

»Ich lüge nicht. Sie waren in ihren Zimmern, als ich herauskam. Der Einzige, der fehlte, war Michael, er war ja bei Ihnen.«

Amelie wandte sich von ihr ab und ging mit langsamen, gemessenen Schritten im Zimmer umher. Sie sah so perfekt aus, so... bei sich. Claire konnte nicht anders und platzte heraus: »Machen Sie sich keine Sorgen um Sam?«

»Mehr liegt mir am Herzen, dass der, der das getan hat, keine weitere Chance erhält, solchen Schaden anzurichten«, sagte Amelie. »Sam ist alt genug, so etwas zu überleben – wenn auch nur knapp. Wenn der Pfahl länger in seiner Brust geblieben wäre oder ihn die Sonne verbrannt hätte, hätte er nicht überleben können. Wenn es dem Mörder gelungen wäre, Michael anzugreifen, wäre er fast auf der Stelle gestorben. Er wird Jahrzehnte brauchen, um eine Immunität aufzubauen.«

Claire öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. Als sie doch noch die richtigen Worte fand, sagte sie: »Soll das heißen, dass Vampire nicht sterben, wenn man ihnen einen Pfahl in die Brust rammt?«

»Das soll heißen, dass es schon einiges braucht, einen von uns zu töten«, sagte Amelie. »Und jedes Jahr, das wir überleben, braucht es mehr. Wenn du mir einen Pfahl ins Herz rammen würdest, zöge ich ihn einfach wieder heraus und wäre sehr böse auf dich, weil du meine Garderobe ruiniert hast. Wenn ich ihn nicht innerhalb weniger Stunden herausziehen könnte, dann würde ich einen Schaden davontragen, einen schweren vielleicht, aber es würde mich nicht auf die Art zerstören, wie du jetzt denkst. So zerbrechlich sind wir nicht, kleine Claire.« Als sie lächelte, schimmerten ihre Zähne einen Augenblick lang wie Perlen. »Du tust gut daran, das deinen Freunden auszurichten. Vor allem Shane.«

»Aber... Brandon...«

Amelies Lächeln erlosch. »Er wurde gefoltert«, sagte sie. »Mit Sonnenlicht verbrannt, um seinen Widerstand zu schwächen. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er nicht mehr Kraft als ein Neugeborenes. Wie du siehst, kennt uns Shanes Vater nur allzu gut.«

Und Claire jetzt auch. Was wahrscheinlich nicht allzu gut war. »Die Cops haben Shane und Eve auf die Polizeistation gebracht. Ich möchte nicht, dass ihnen etwas zustößt.«

»Natürlich willst du das nicht. Ebenso wenig wie ich wollte, dass meinem lieben Samuel etwas zustößt, der für das Leben der Atmenden dieser Stadt bereitwillig sein Leben opfern würde.« Amelies Tonfall war kalt und finster geworden und verursachte ein Kribbeln tief in Claires Innerem. »Ich frage mich, ob ich nicht zu milde gewesen bin. Zu viele Freiheiten zugelassen habe.«

»Wir sind nicht Ihr Eigentum«, flüsterte Claire und plötzlich schien es, als würde das Armband an ihrem Handgelenk enger werden und kneifen. Sie zuckte zusammen und griff danach.

»Wirklich nicht?«, fragte Amelie kühl. Sie wechselte mit dem Vampir an der Tür einen Blick. »Lass sie hinaus. Ich bin fertig mit ihr.«

Er machte eine leichte Verbeugung und trat aus dem Weg. Claire widerstand dem Bedürfnis, zum Ausgang zu stürzen. Mit Amelie – ganz zu schweigen von ihrem Wachmann – in einem Raum zu sein, war Furcht einflößend und heftig, aber sie musste es wenigstens versuchen. »Wegen Shane und Eve...«

»Ich mische mich nicht in die Justiz der Menschen ein«, sagte Amelie. »Wenn sie unschuldig sind, werden sie freigelassen. Geh jetzt. Ich erwarte, dass du heute zu Myrnin gehst, und ich habe an der Universität einige zusätzliche Stunden für dich arrangiert, die du besuchen wirst. Heute Morgen wurde eine Liste zu dir nach Hause geschickt.«

Claire zögerte.

»Sam sollte mich eigentlich zu Myrnin bringen – wer wird mich...«

Amelie wirbelte zu ihr herum, in ihrem Blick lag etwas Wildes und Schreckliches. »Du Närrin, belästige mich nicht mit Lappalien! Geh jetzt!«

Claire rannte davon.

***

Das Haus war leer, als sie ankam. Kein Shane, keine Eve und Michael hatte sie im Ältestenrat nicht mehr gesehen, bevor Hans und Gretchen sie wegschickten. Claire fühlte sich sehr einsam, sie verriegelte alle Türen und überprüfte die Fenster.

Das Haus fühlte sich irgendwie... warm an. Nicht im Sinne von heißer Luft, sondern von Gemütlichkeit. Einladend. Claire legte ihre Hand flach auf die Wohnzimmerwand. »Kannst du mich hören?«, fragte sie und kam sich bescheuert vor. Es war schließlich nur ein Haus, oder? Nichts als Holz, Backsteine, Beton, Kabel und Rohre. Wie sollte es sie hören können?

Aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass das Haus sie, Shane und Eve heute Morgen wach gerüttelt hatte. Dass es versucht hatte, sie zu warnen. Immerhin hatte das Haus damals Michael gerettet, als er von Oliver getötet worden war. Es hatte ihm als Geist so viel Leben geschenkt, wie es vermochte. Es wollte helfen.

»Ich wünschte, du könntest sprechen«, sagte sie. »Ich wünschte, du könntest mir sagen, wer versucht hat, Sam zu töten.«

Aber das konnte es nicht und sie sprach mit einer idiotischen Wand. Claire seufzte, wandte sich ab und erhaschte einen Blick auf ein Stück Papier, das in einem Luftzug flatterte.

Einem Luftzug, der gar nicht da war.

Das Blatt lag auf Michaels Gitarrenkoffer, der auf dem Tisch stand. Claire nahm es und las es, sie wagte nicht zu glauben...

Was hatte sie gedacht? Dass ihr das Haus den Namen von Sams Möchtegern-van-Helsing präsentieren würde? Natürlich nicht. Es war nicht die Antwort auf ihre Frage.

Es war ein ausgedruckter Stundenplan, auf den mit großen roten Buchstaben »abgeändert« gestempelt war. Ihre Kernfächer waren größtenteils verschwunden; die Anmerkung, die dabeistand, besagte, dass sie diese Kurse erfolgreich abgeschlossen hatte.

Dafür fiel ihr Blick auf die Fächer, die stattdessen auf dem Stundenplan vermerkt waren. Biochemie für Fortgeschrittene. Philosophie. Quantenmechanik. Mythen und Legenden, Intensivkurs.

Wow. War es falsch, dass ihr Herz deswegen höher schlug? Claire überprüfte die Termine, dann schaute sie auf die Uhr. Ihr blieb knapp eine Stunde, bis die erste neue Unterrichtsstunde begann, aber sie konnte noch nicht gehen. Nicht, bevor sie nicht von Shane und Eve gehört hätte.

Dreißig Minuten später war sie gerade am Telefon und versuchte, jemanden auf der Polizeiwache dazu zu bringen, ihre Fragen zu beantworten, als die Türschlösser rasselten und sie Eves Stimme »... Volltrottel« sagen hörte. Der Knoten der Angst in Claires Brust begann, sich zu lösen. »Hey, Claire! Bist du da?«

»Hier«, sagte sie und legte auf, um ihnen über den Flur entgegenzugehen.

Eve hatte den Arm um Shane gelegt und stützte ihn halb. Claire blinzelte und nahm dann sein Gesicht in Augenschein. Die Schwellungen und Blutergüsse. »Oh Gott«, sagte sie und eilte an seine Seite, um Eve zu helfen. »Was ist passiert?«

»Na ja, unser großer Freund hier hat beschlossen, ein bisschen sauer auf Officer Fenton zu werden. Hast du je Bambi Meets Godzilla gesehen? Genau so war es, nur mit mehr Schlägen«, sagte Eve. Sie klang aufgesetzt fröhlich und falsch wie Lametta. »Ich habe versucht, ihn ins Krankenhaus zu bringen, damit er sich untersuchen lässt, aber...«

»Mir geht es gut«, knirschte Shane. »War schon schlimmer dran.«

Das stimmte vermutlich, aber Claire fühlte sich schmerzlich hilflos. Sie wollte etwas tun. Irgendetwas. Sie und Eve brachten Shane zur Couch, wo er sich in die Kissen fallen ließ und die Augen schloss. Unter den Blutergüssen sah er blass aus. Claire strich ihm besorgt über das verfilzte Haar und fragte Eve stumm, was sie tun sollten. Eve zuckte die Achseln und formte Lass ihn einfach ausruhen mit den Lippen. Allerdings sah sie ebenfalls ängstlich aus.

»Shane«, sagte Eve laut. »Im Ernst, ich möchte dich nicht allein hierlassen. Du musst ins Krankenhaus.«

»Danke, Mom«, sagte er. »Es sind Blutergüsse. Ich denke, ich werde überleben. Geht schon, raus hier.« Er griff nach Claires Hand und öffnete seine dunklen Augen. Na ja, eines zumindest. Das andere war zugeschwollen. »Was ist mit dir passiert? Alles okay?«

»Gar nichts ist passiert, ich bin okay. Ich habe mit Amelie gesprochen.« Claire holte tief Luft. »Ich denke, Sam kommt wieder auf die Beine.«

»Und Michael? Geht es Michael gut?«, fragte Eve.

»Ja, es geht ihm gut. Tut mir leid, dass ich euch nicht früher rausholen konnte. Amelie...« Wahrscheinlich besser, wenn sie nicht erwähnte, wie wenig sich Amelie von der Vorstellung von Shane und Eve hinter Gittern gerührt gezeigt hatte. »Sie war mit Sam beschäftigt.«

Eve zuckte die Achseln und warf Shane einen gereizten Blick zu. »Wahrscheinlich wären wir nach zehn Minuten wieder draußen gewesen, wenn er sich benommen hätte«, sagte sie. »Schau mal, Shane, ich weiß, dass du ein knallharter Typ bist, aber musst du wirklich mit jedem Idioten der Welt eine Schlägerei vom Zaun brechen? Würde nicht auch die Hälfte oder so reichen?«

»Das Beängstigende ist ja: Ich fange nur mit der Hälfte von ihnen eine Schlägerei an. Es gibt einfach so viele.« Er stöhnte und brachte sich auf der Couch in eine bequemere Stellung. »Mist. Officer Arschloch kann echt zuschlagen.«

»Shane«, sagte Claire, »im Ernst. Bist du okay? Wenn nicht, kann ich dich ins Krankenhaus bringen.«

»Die würden mir lediglich einen Eisbeutel geben, mir hundert Kröten abknöpfen, die ich nicht habe, und mich wieder nach Hause schicken. Er nahm ihre Hand in seine. Seine Knöchel waren zerschunden. »Wie steht es mit dir? Nicht gebissen worden und nichts gebrochen, oder?«

»Nein«, sagte sie sanft. »Nicht gebissen worden und nichts gebrochen. Sie sind wütend und sie machen sich Sorgen, aber niemand hat versucht, mir etwas anzutun.« Sie schaute auf die Uhr und ihr Herz machte einen Sprung und begann zu hämmern. »Ähm...ich muss jetzt los. Zur Uni. Bist du sicher, dass du...«

»Wenn du mich noch mal fragst, ob ich okay bin, dann haue ich mir selbst ins Gesicht, nur um dich zu bestrafen«, sagte er. »Geh schon. Eve, du sorgst dafür, dass sie jetzt nicht allein davonspaziert, okay?«

Eve hatte bereits ihre Schlüssel in der Hand und ließ sie ungeduldig rasseln. »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Eve. »Hey. Für dich ist eine Sondersendung angekommen.« Sie warf Claire ein Päckchen zu, auf dem in akkuraten Buchstaben ihr Name stand. Dieselbe Handschrift, dachte Claire, wie auf dem Päckchen mit dem Armband.

Das Päckchen enthielt ein schickes neues Handy mit MP3Player und einer winzigen, ausklappbaren Tastatur für SMS. Es war angeschaltet und voll aufgeladen.

Auf der Karte stand einfach Zu deiner eigenen Sicherheit. Die Unterschrift stammte natürlich von Amelie. Eve sah sie und zog die Augenbrauen hoch. Claire zerknüllte sie hastig.

»Will ich überhaupt wissen, was das ist?«, fragte Shane.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Eve. »Claire, kleine Mädchen, die in Morganville Süßigkeiten von Fremden annehmen, werden verletzt. Oder schlimmer.«

»Sie ist keine Fremde«, sagte Claire. »Und ich brauche wirklich ein Handy.«

***

Die Unterrichtstunden waren ganz anders, als Claire es je erlebt hatte. Es war, als wäre sie endlich auf dem College angekommen. Vom ersten Augenblick der ersten Stunde an schienen die Professoren klug und engagiert zu sein; sie schienen sie zu sehen. Sie tastete sich nervös durch Biochemie für Fortgeschrittene und notierte sich die Bücher, die sie brauchte; dasselbe in Philosophie. In Philosophie wurde viel geredet und die Hälfte davon verstand sie nicht, aber es klang weit interessanter als das Geschwafel ihrer Kernunterrichtlehrer.

Als ihre späte Mittagspause heranrückte, fühlte sie sich völlig beschwingt...sie fühlte sich tatsächlich lebendig. Sie war glücklich, als sie gebrauchten Ausgaben der Lehrbücher nachjagte, die sie brauchte, und noch glücklicher, als sie feststellte, dass sie – mysteriöserweise – ein Stipendienkonto hatte, um die Kosten zu decken. Dazu gehörte sogar eine Bankkarte.

Sie kaufte sich auch ein neues langärmliges T-Shirt. Und ein paar Einwegrasierer. Und Shampoo.

Unheimlich, wie gut es sich anfühlte, wenn man Geld in der Tasche hatte. Als es auf drei Uhr zuging, fragte sie sich allmählich, ob man von ihr erwartete, dass sie sich allein auf den Weg zu Myrnins Haus machte, aber sie beschloss zu warten. Niemand hatte ihr etwas von einer Änderung des Plans gesagt, deshalb ging sie in die Cafeteria, um beim Warten noch ein wenig zu lernen. Der große Aufenthaltsraum war überfüllt und in der Ecke des Raumes spielte jemand Gitarre. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, die zwischen den Songs Beifall klatschte. Wer immer das war – er spielte gut, zuerst etwas kompliziertes Klassisches, danach einen Popsong. Claire breitete gerade ihre Bücher auf einem Tisch aus, als sie ein Lied hörte, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Sie stieg auf ihren Stuhl, um besser über die Köpfe der Menschen hinwegsehen zu können, die sich in der Ecke versammelt hatten.

Wie sie bereits vermutet hatte, war es Michael. Er spielte im Sitzen, aber sie konnte seinen Kopf und seine Schultern sehen. Er sah auf, ihre Blicke trafen sich und er nickte ihr zu, bevor er sich wieder auf die Musik konzentrierte. Claire sprang vom Stuhl, wischte die staubigen Abdrücke ab, die ihre Schuhe auf dem Holzstuhl hinterlassen hatten, und setzte sich. Ihre Gedanken überschlugen sich. Michael war hier? Warum? War das ein Zufall? Oder etwas anderes?

Sie versuchte, sich auf die Eigenschaften von Wellentypen mit niedriger Frequenz in magnetisiertem Plasma zu konzentrieren, was ehrlich gesagt ziemlich cool war. Die Physik der Sterne. Sie konnte es kaum erwarten, die Laborvorführungen zu sehen...die Lektüre ging langsam voran, war aber interessant. Es hing mit einer anderen Sache in der Plasmaphysik zusammen, die ihre Aufmerksamkeit erregt hatte: Begrenzung und Transport. Vielleicht war es Zufall, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es da etwas gab, das sie verstehen sollte. Etwas, das damit zusammenhing, was Myrnin ihr über Rekomposition erzählt hatte, einem Schlüsselelement der Alchemie. War es wirklich möglich, dass eine Verbindung zwischen beidem bestand?

Plasma besteht aus aufgeladenen Teilchen. Es kann durch geformte Magnetfelder kontrolliert und beeinflusst werden. Plasma war der Rohzustand zwischen Materie und Energie... zwischen einer Form und der anderen.

Rekonstitution.

Schlagartig wurde ihr bewusst, was Myrnin erfunden hatte. Die Türen. Sie waren geformte Magnetfelder, die ein winziges, anpassungsfähiges Plasmafeld in stabilem Zustand enthielten. Aber wie verwandelte er sie in Löcher im Raum, die ihre Lage verändern konnten? Denn genau darum musste es sich hier handeln, um auf diese Weise den Raum in sich zu falten...und das Plasma konnte kein reguläres Plasma sein, oder? Plasma mit niedriger Hitze? War das überhaupt möglich?

Claire war so in Gedanken versunken, dass sie nicht einmal hörte, wie der Stuhl gegenüber zurückschrammte, und nicht mitbekam, dass sich dort jemand hingesetzt hatte, bis eine Hand nach dem Buch griff, das sie vor sich aufgebaut hatte, und es umklappte.

»Hey, Claire«, sagte Jason, Eves durchgeknallter Bruder. Er sah wieselartig und bleich aus – nicht Goth-bleich, sondern krank. Blutarm. An seinem Hals befanden sich verschorfte Wunden, seine Augen waren geweitet und rot geädert; er sah high aus. Durchgeknallt high. Außerdem hatte er sich einige Tage oder Wochen nicht gewaschen oder war auch nur in die Nähe eines Waschsalons gekommen; er roch miefig und verfault. Igitt. »Wie geht’s?«

Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt tun sollte. Kreischen? Sie klappte das Buch zu und klammerte sich daran fest – es war ziemlich schwer und man würde gut damit zuschlagen können –, dann ließ sie ihren Blick umherschweifen. Die Cafeteria war voller Leute. Zugegebenermaßen stand Michaels Gitarrenspiel momentan im Zentrum der Aufmerksamkeit, aber viele andere liefen einfach herum, redeten oder lernten. Von ihrem Platz aus konnte Claire Eve hinter der Theke stehen sehen, die lächelnd Espresso zubereitete.

Es schien, als wäre Jason unsichtbar oder so. Niemand zollte ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit.

»Hi«, sagte sie. »Was willst du?«

»Weltfrieden«, sagte er. »Du bist hübsch.«

Du überhaupt nicht. Das sagte sie nicht und wäre auch überhaupt nicht dazu in der Lage gewesen. Sie wartete einfach ab. Ich bin hier völlig sicher. Viele Leute sind hier, Michael ist gleich da drüben, und Eve...

»Hast du gehört?«, fragte Jason. »Ich sagte, du bist hübsch.« »Danke.« Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie hatte Angst und kam nicht mal so richtig darauf, warum, außer dass Eve ihr von Jason erzählt hatte. Er sah wirklich gefährlich aus. Dieser Schorf an seinem Hals – war er gebissen worden? »Ich muss gehen.«

»Ich begleite dich zum Unterricht«, sagte Jason. Irgendwie schaffte er es, dass es obszön klang, wie eine Pornofilm-Anmache. »Ich wollte schon immer mal für ein scharfes College-Mädchen die Bücher tragen.«

»Nein«, sagte sie. »Das geht nicht. Ich meine – ich gehe nicht zum Unterricht. Ich muss los.« Und warum konnte sie ihm nicht einfach sagen, er solle sie in Ruhe lassen? Warum?

Jason warf ihr eine Kusshand zu. »Geh ruhig. Aber gib dann nicht mir die Schuld, wenn das nächste tote Mädchen in eurer Mülltonne landet, nur weil du mir nicht mal einen winzigen Gefallen tun kannst.«

Sie war gerade dabei aufzustehen, als er das sagte, und sie hielt inne. Rührte sich nicht mehr und starrte ihn an. »Was?«, fragte sie dümmlich. Ihr Gehirn, das sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt hatte, als es von einem physikalischen Problem zum anderen sprang, fühlte sich lahm an. »Was hast du gesagt?«

»Nicht dass ich irgendwas getan hätte. Aber wenn ich was getan hätte, dann würde ich etwas Weiteres planen. Es sei denn, es spricht jemand mit mir und überzeugt mich zum Beispiel davon, damit aufzuhören. Oder ich würde einen Deal machen.«

Claire fror. Was schlimmer war, sie fühlte sich allein. Jason tat nichts – er saß nur da und redete. Aber sie fühlte sich schrecklich schutzlos, als würde ihr Gewalt angetan. Michael ist gleich dort drüben. Du kannst ihn spielen hören. Er ist hier. Du bist in Sicherheit.

»Also gut«, sagte sie. »Ich höre.«

Jason beugte sich vor, legte die Arme auf den Tisch und senkte die Stimme. »Schau mal, Claire, es ist nämlich so. Ich möchte, dass meine große Schwester begreift, was sie mir angetan hat, als sie mich an diesen Ort schickte. Weißt du, wie es in einem Gefängnis in Morganville zugeht? Es ist, als hätte ein Entwicklungsland es wegen Gefangenenmissbrauch ausgespuckt. Eve hat mich dorthin gebracht. Und sie hat nicht einmal versucht, mich zu retten.«

Claire umklammerte so fest ihr Buch, dass sich ihre Finger taub anfühlten. Sie zwang sich, sich zu entspannen. »Das tut mir leid«, sagte sie. »Das muss schlimm gewesen sein.«

»Schlimm? Hörst du mir überhaupt zu, du Schlampe?« Er starrte sie weiterhin, ohne zu zwinkern, an, als wäre er tot. »Ich sollte ihm gehören, weißt du? Brandon. Er hätte irgendwann einen Vampir aus mir gemacht, aber jetzt ist er tot und ich bin am Arsch. Jetzt warte ich nur noch darauf, dass mich irgendjemand wieder ins Gefängnis steckt, und weißt du was, Claire? Ich gehe da nicht hin. Nicht, ohne zuvor ein bisschen Spaß gehabt zu haben.«

Er griff nach ihrem Handgelenk und sie öffnete den Mund, um zu schreien...

Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand, das er an ihr Handgelenk drückte. »Halt still«, sagte er. »Ich bin noch nicht fertig. Beweg dich und das Blut wird spritzen.«

Sie wollte trotzdem schreien, aber statt eines Schreis kam ihr nur ein winziges Jaulen über die Lippen. Jason lächelte und warf ein schmuddelig aussehendes Taschentuch über ihr Handgelenk und das Messer. »Bitte schön«, sagte er. »Nun wird es niemand bemerken. Nicht dass es jemanden kümmern würde. In Morganville nicht. Aber für den Fall, dass irgendein vertrottelter Held unterwegs ist – das hier sollte unter uns bleiben.«

Inzwischen zitterte sie. »Lass mich los.« Irgendwie blieb ihre Stimme fest und leise. »Ich werde nichts sagen.«

»Ach, komm schon. Du läufst zu deinen Freunden und die laufen dann zu den Cops. Wahrscheinlich zu diesen beiden Deppen Hess und Lowe. Sie hatten es schon auf mich abgesehen, als ich ein Kind war, wusstest du das? Diese Hurensöhne.« Er schwitzte. Ein milchiger Tropfen rann an der Seite seines bleichen Gesichts herunter und tropfte auf seine Camouflage-Jacke. »Ich habe gehört, du kommst gut mit den Vampiren aus. Stimmt das?«

»Was?« Das Messer drückte stärker gegen ihr Handgelenk, kalt und schmerzhaft, und sie dachte darüber nach, wie einfach es für ihn wäre, ihr einfach die Adern durchzuschneiden. Ihr ganzer Arm bebte, aber irgendwie schaffte sie es, stillzuhalten und nicht dem überwältigenden Verlangen nachzugeben, sich loszureißen. Dadurch würde sie sein Vorhaben auch noch selbst erledigen. »Ich bin... ja. Ich stehe unter Schutz. Du wirst Ärger bekommen für das hier, Jason.«

Er hatte echt ein unheimliches Lächeln, ein Zähnefletschen mit wulstigen Lippen, das seine brennenden, seltsamen Augen überhaupt nicht beeinflusste. »Ich wurde in Ärger hineingeboren«, sagte er. »Bring die Sache ins Rollen. Du sagst dem Vampir, der dir das Zeichen aufgedrückt hat, dass ich etwas weiß. Etwas, das diese Stadt zum Explodieren bringen kann. Und ich werde es für zwei Dinge verkaufen: das Recht, mit meiner Schwester zu machen, was immer ich möchte, und ein Ticket, um aus Morganville zu verschwinden.«

Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Er möchte feilschen. Um Eves Leben.

»Ich mache keine Deals«, sagte sie und wusste, dass das wahrscheinlich ihr eigenes Todesurteil war. »Ich werde nicht zulassen, dass du Eve etwas antust.«

Er blinzelte. Dadurch sah er einen Augenblick lang beinahe menschlich aus und Claire erinnerte sich daran, dass er gar nicht viel älter war als sie. »Wie willst du mich aufhalten, Zuckerschnecke? Willst du mich mit deiner Büchertasche verhauen?«

»Wenn es sein muss.«

Er lehnte sich zurück, starrte sie an und fing an zu lachen. Laut zu lachen. Es klang eher wie ein hartes, metallisches Klappern und sie dachte: Oh Gott, er wird mich umbringen. Aber dann lüftete er das Taschentuch, das ihr Handgelenk bedeckt hatte, und wie durch einen Zaubertrick war das Messer verschwunden. Ein Tropfen Blut rann aus dem flachen Schnitt in ihrer Haut und sie spürte ein Brennen.

»Weißt du, was, Claire?«, fragte Jason. Er stand auf, steckte seine Hände in die Jackentaschen und lächelte sie wieder an. »Ich glaube, ich werde viel Spaß mit dir haben. Du bist echt der Brüller.«

Er schlenderte davon und Claire versuchte, aufzustehen und zu schauen, wohin er ging, aber sie konnte nicht. Ihre Knie gehorchten ihr nicht mehr. Innerhalb von Sekunden war er außer Sicht.

Claire schaute zur Theke. Dort stand Eve, völlig reglos, und starrte mit großen dunklen Augen zu ihr herüber. Auch ohne Reispuder-Make-up wäre sie totenbleich gewesen.

Bist du okay, formte sie stumm mit den Lippen.

Claire nickte.

Eigentlich stimmte das aber nicht und der Schnitt an ihrem Handgelenk hörte auch nicht mehr auf zu bluten. Sie kramte in ihrem Rucksack und fand einen Klebeverband – sie hatte immer einen dabei, für den Fall dass sie vom vielen Herumlaufen Blasen an den Füßen bekam. Das schien zu helfen.

Sie strich den Verband gerade glatt, als sie spürte, dass jemand neben ihr stand. Sie zuckte zusammen, weil sie erwartete, dass Jason zurückgekehrt war, inklusive Psycho-Messerattacke.

Aber es war Michael. Er hatte seinen Gitarrenkoffer in der Hand und sah einfach großartig aus. Irgendwie entspannt, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte sogar ein winziges bisschen Farbe im Gesicht und seine Augen glänzten.

Aber das hörte schnell auf und er runzelte die Stirn. »Du blutest«, sagte er. »Was ist passiert?«

Claire seufzte und hielt ihr Handgelenk hoch, um ihm den Verband zu zeigen. »Mann, es wäre jetzt echt peinlich für dich gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass es etwas anderes ist.« Michael sah sie fragend an. »Ich bin ein Mädchen, Michael, es wäre ganz natürlich gewesen, weißt du? Tampons?«

Vampir hin oder her, das war typisch Mann, und sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar – eine Mischung aus Verlegenheit und Übelkeit. »Oh Shit, das hatte ich nicht gut durchdacht. Sorry. Bin noch nicht so recht daran gewöhnt. Also – was ist passiert?«

»Papierschnitt«, sagte sie.

»Claire.«

Sie seufzte. »Flipp jetzt nicht aus, okay? Das war Eves Bruder Jason. Ich glaube, er wollte mir nur Angst einjagen.«

Michaels Augen weiteten sich und sein Kopf fuhr zur Theke herum, um Eve zu suchen. Als er sie sah, war die Erleichterung, die sich auf seinem Gesicht ausbreitete, schon fast schmerzhaft – und sie hielt nicht lang an, sondern verzerrte sich zu etwas Grimmigem. »Nicht zu fassen, dass er hierhergekommen ist. Warum können sie diesen Trottel nicht einfach schnappen?«

»Vielleicht gibt es jemanden, der das nicht möchte«, sagte sie. »Er tötet nur menschliche Mädchen. Wenn er überhaupt derjenige ist.« Auch wenn er das mehr oder weniger zugegeben hatte, oder? Und das Messer war auch ein wichtiges Indiz dafür. »Wir können später darüber sprechen. Ich muss...« Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie nicht mit Michael über Myrnin sprechen konnte. »Zu meinem Kurs«, sagte sie. Sie hätte eigentlich nicht gedacht, dass Amelie sie allein gehen lassen würde, und sie war sich nicht sicher, ob ihr das überhaupt gelingen würde. Myrnin war die meiste Zeit über faszinierend, aber wenn er sich verwandelte... nein, sie konnte nicht allein gehen. Was, wenn etwas passierte? Sam würde nicht da sein, um ihn von ihr abzuhalten.

Michael rührte sich nicht. »Ich weiß, wohin du gehst«, sagte er. »Ich bringe dich hin.«

Sie blinzelte. »Du bringst... was?«

Er senkte die Stimme, obwohl niemand auf sie achtete. »Ich bringe dich hin, wo du hinsollst. Und ich warte dort auf dich.«

***

Amelie hatte es ihm befohlen, wie Claire auf dem Weg zu Michaels neuem Auto herausfand. Offensichtlich war das notwendig; außer Sam hatte sie keinem Vampir die Information und den Zugang zu Myrnin anvertraut, aber Michael hatte zumindest ein Interesse an Claires Wohlbefinden und Sam war wohl noch mindestens ein paar Tage außer Gefecht. »Aber geht es ihm gut?«, fragte Claire.

Michael öffnete für sie die Tür zur Tiefgarage, eine automatische Geste, die er wohl früher einmal von seinem Großvater gelernt hatte. Er hatte von Sam so manche Eigenart übernommen, unter anderem auch seinen Gang. »Ja«, sagte Michael. »Aber fast wäre er gestorben. Die Leute – die Vampire – stehen gerade ziemlich unter Strom. Sie suchen denjenigen, der ihn gepfählt hat, und es ist ihnen mehr oder weniger egal, in welchem Zustand. Shane musste mir versprechen, schön im Haus zu bleiben und nicht allein rauszugehen.«

»Glaubst du wirklich, dass er sich daran halten wird?«

Michael zuckte die Achseln und öffnete die Tür der Standardausgabe einer dunklen Vampirlimousine mit getönten Scheiben, genau die gleiche, die Sam gefahren hatte. Wie es der Zufall wollte, war es ein Ford. Schön zu wissen, dass Vampire einheimische Produkte kauften. »Zumindest habe ich es versucht«, sagte er. »Shane hört nicht so richtig auf das, was ich zu sagen habe. Nicht mehr.«

Claire kletterte ins Auto und schnallte sich an. Als Michael auf der Fahrerseite einstieg, sagte sie: »Du kannst nichts dafür. Er kann nicht besonders gut damit umgehen. Ich habe keine Ahnung, was wir dagegen tun können.«

»Nichts«, sagte Michael und ließ den Motor an. »Wir können überhaupt nichts dagegen tun.«

Die Fahrt dauerte natürlich nicht lange, und soweit Claire die dämmrigen Straßen draußen erkennen konnte, nahm er dieselbe Strecke wie Sam zu der Gasse und zu Myrnins Höhle. Michael stellte das Auto am Bordstein ab. Als Claire ausstieg, fiel ihr jedoch etwas ein, sie beugte sich ins Halbdunkel des Autos zurück und schlüpfte noch einmal hinein.

»Mist«, sagte sie. »Du kannst nicht mit hineinkommen, oder? Du kannst nicht in den Sonnenschein hinaus!«

Michael schüttelte den Kopf. »Ich soll bis Sonnenuntergang hier draußen auf dich warten, danach komme ich hinein. Amelie sagte, sie würde dafür sorgen, dass du bis dahin in Sicherheit bist.«

»Aber...« Claire biss sich auf die Lippen. Das war nicht Michaels Schuld. Noch drei Stunden würde die Sonne scheinen, sie musste sich also noch eine Weile selbst den Rücken freihalten. »Okay. Dann sehen wir uns bei Einbruch der Dunkelheit.«

Sie schloss die Autotür. Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass Gramma Katherine Day auf der Veranda des großen Gründerinnenhauses schaukelte und an etwas nippte, das wie Eistee aussah. Claire winkte. Gramma Day nickte ihr zu.

»Sei vorsichtig, ja?«, rief sie ihr zu.

»Ja, Ma’am.«

»Ich habe der Königin gesagt, ich kann es nicht gutheißen, dass sie dich bei diesem Ding dort absetzt. Ich habe ihr das gesagt«, sagte Gramma Day und fuchtelte zur Betonung wild mit dem Zeigefinger herum. »Komm herauf und trink einen Eistee mit mir, Mädchen. Das Ding dort unten – er wird auf dich warten. Er weiß die Hälfte der Zeit sowieso nicht, wo er eigentlich ist.«

Claire lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Ma’am. Ich muss pünktlich da sein. Aber vielen Dank.« Als sie sich der Gasse zuwandte, kam ihr ein Gedanke. »Oh – wer ist die Königin?«

Gramma machte eine ungeduldige Handbewegung, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. »Sie natürlich. Die Weiße Königin. Du bist wie Alice im Wunderland, weißt du? Hinunter in den Kaninchenbau mit dem verrückten Hutmacher.«

Claire wagte nicht, allzu genau darüber nachzudenken, denn der Satz Schlagt ihr den Kopf ab! rückte irgendwie drohend näher. Sie schenkte Gramma Day noch ein höfliches Lächeln und winkte ihr zu, dann rückte sie ihren Rucksack höher auf die Schulter und ging in ihren Abendkurs.