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Als das Telefon klingelte, wusste Claire intuitiv, dass es ihre Mutter sein musste.

Na ja, eigentlich war es keine Intuition, sondern eher Logik. Sie hatte Mom schon vor Tagen versprochen, sie zurückzurufen, hatte es aber nie getan. Und jetzt war es ganz sicher ihre Mutter, die sich den denkbar ungünstigsten Moment ausgesucht hatte, um anzurufen.

»Nicht«, murmelte ihr Freund Shane, ohne seinen Mund von ihrem zu nehmen. Ihr Freund – sie konnte noch gar nicht fassen, dass sie ihn tatsächlich so nennen konnte, dass er nicht mehr nur ein Freund war. »Michael wird rangehen.« Damit gab er ihr ein wirklich gutes Argument, das Telefon zu ignorieren. Aber irgendwo hinten in ihrem Gehirn war diese leise Stimme, die einfach nicht still sein wollte.

Mit einem bedauernden Seufzer rutschte sie von seinem Schoß und stürzte in Richtung Küchentür davon.

Michael stand gerade vom Küchentisch auf, um zum Telefon zu gehen. Sie war schneller, formte stumm eine Entschuldigung mit den Lippen und sagte: »Hallo?«

»Claire! Du meine Güte, ich habe mir solche Sorgen gemacht, Liebes. Wir versuchen seit Tagen, dich auf dem Handy zu erreichen und...«

Mist. Claire rieb sich frustriert die Stirn. »Mum, ich habe euch doch eine E-Mail geschickt, erinnerst du dich? Ich habe mein Handy verloren; ich bin gerade dabei, mir ein neues zu besorgen.« Bloß nicht erwähnen, wie es verloren ging. Bloß nichts davon erzählen, wie gefährlich ihr Leben geworden war, seit sie nach Morganville, Texas, gezogen war.

»Oh«, sagte Mom und fügte dann langsamer hinzu: »Oh. Na ja, dein Vater hat wohl vergessen, es mir zu sagen. Du weißt ja, er checkt immer die E-Mails. Ich mag keine Computer.«

»Ja, Mom, ich weiß.« Mom war eigentlich gar nicht so übel, aber Computer machten sie nervös, und das aus gutem Grund; wenn sie in der Nähe war, neigten sie zu Kurzschlüssen.

Mom redete immer noch. »Läuft alles gut? Wie ist die Uni? Interessant?«

Claire nahm eine Dose Cola aus dem Kühlschrank, öffnete sie und trank sie auf ex aus. Sie wollte Zeit gewinnen, um darüber nachzudenken, was sie ihren Eltern erzählen könnte – wenn sie ihnen überhaupt etwas erzählen konnte. Mom, es gab ein bisschen Ärger. Weißt du, der Vater meines Freundes ist mit ein paar Bikern in die Stadt gekommen und hat Leute umgebracht. Uns hätte er auch fast umgebracht. Oh, und die Vampire sind darüber sehr wütend. Deshalb musste ich einen Vertrag unterzeichnen, um meine Freunde zu retten. Jetzt bin ich im Prinzip die Sklavin der knallhärtesten Vampirin der Stadt.

Das würde wohl kaum gut ankommen.

Außerdem – selbst wenn sie das sagen würde, würde Mom es nicht verstehen. Mom war schon in Morganville gewesen, aber sie hatte nicht wirklich verstanden. Das taten die meisten Leute nicht. Und wenn sie verstanden, dann verließen sie entweder nie wieder die Stadt oder ihr Gedächtnis wurde gelöscht, wenn sie weggingen.

Und wenn sie sich zufällig doch wieder erinnerten, konnten ihnen schlimme Dinge zustoßen. Tödliche Dinge.

Deshalb sagte Claire stattdessen: »Die Uni ist großartig, Mom. Ich habe letzte Woche in allen meinen Prüfungen eine Eins bekommen.«

»Natürlich. Bekommst du das nicht immer?«

Ja, aber letzte Woche musste ich mir während der Prüfungen Sorgen machen, dass mir jemand ein Messer in den Rücken stecken könnte. Das hätte sich auf meinen Notendurchschnitt auswirken können. Dumm, auch noch stolz darauf zu sein... »Hier ist alles bestens. Ich sage euch Bescheid, wenn ich ein neues Handy habe, okay?« Claire zögerte, dann fragte sie: »Wie geht es dir? Wie geht’s Dad?«

»Oh, uns geht es gut, Liebes. Außer dass wir dich vermissen. Aber dein Vater ist noch immer nicht glücklich darüber, dass du mit diesen älteren Jungs in diesem Haus außerhalb des Campus wohnst...«

Von allen Dingen, an die sich Mom noch erinnerte, musste es ausgerechnet das sein. Und natürlich konnte Claire ihr nicht erklären, warum sie zusammen mit Achtzehnjährigen außerhalb des Campus wohnte, vor allem nicht, wenn zwei dieser Achtzehnjährigen Jungs waren. Mom hatte es bisher noch vermieden, die Jungs zu erwähnen, aber das war nur eine Frage der Zeit.

»Mom, ich habe dir doch gesagt, wie fies die Mädels im Wohnheim waren. Hier ist es besser. Sie sind meine Freunde. Und das ist großartig, wirklich.«

Mom klang nicht besonders überzeugt. »Sei aber vorsichtig. Wegen dieser Jungs.«

Nun, das hatte ja nicht lange gedauert. »Ja, ich bin vorsichtig wegen der Jungs.« Sie war wegen Shane auch vorsichtig, obwohl das vor allem daran lag, dass Shane nie vergaß, dass Claire noch keine siebzehn war und er selbst noch keine neunzehn. Kein großer Altersunterschied, aber vom Gesetz her? Größer als groß, wenn sich ihre Eltern deswegen aufregten. Was sie definitiv tun würden. »Grüße von allen übrigens. Ah, Michael winkt.«

Michael Glass, der zweite Junge im Haus, hatte sich an den Küchentisch gesetzt und las Zeitung. Er sah auf, warf ihr einen großäugigen Das-hast-du-jetzt-nicht-gesagt-Blick zu und schüttelte den Kopf. Das letzte Mal, als ihre Eltern da waren, hatte er ihretwegen viel Ärger gehabt und jetzt...naja, jetzt war alles sogar noch schlimmer, wenn das überhaupt möglich war. Als er sie getroffen hatte, war er zumindest noch halbwegs normal gewesen: Bei Nacht ein richtiger Mensch, tagsüber ein körperloser Geist und rund um die Uhr im Haus gefangen.

Für Morganville war das halbwegs normal.

Um Shane zu retten, hatte Michael eine schreckliche Entscheidung getroffen – so konnte er das Haus verlassen und blieb auch tagsüber in seinem Körper, aber nun war er ein Vampir. Claire konnte nicht sagen, ob ihm das etwas ausmachte. Bestimmt, oder? Aber er schien so... normal.

Vielleicht ein bisschen zu normal.

Claire lauschte der Stimme ihrer Mutter und hielt dann Michael das Telefon hin. »Sie möchte mit dir sprechen«, sagte sie.

»Nein! Ich bin nicht da!«, flüsterte er und machte eine Bewegung, wie um sie zu verscheuchen. Claire wedelte hartnäckig mit dem Telefon.

»Du hast hier die Verantwortung«, erinnerte sie ihn. »Sag aber nichts von den...«Sie ahmte Zähne nach, die sich in einen Hals graben.

Michael warf ihr einen bösen Blick zu, nahm das Telefon und ließ seinen Charme spielen. Das konnte er gut, wusste Claire; nicht nur Eltern mochten ihn... eigentlich mochte ihn fast jeder. Michael war klug, nett, attraktiv, begabt, respektvoll...er hatte nichts an sich, weshalb man ihn nicht mögen könnte, abgesehen von diesem ganzen Untoten-Aspekt. Er versicherte ihrer Mutter, dass alles in Ordnung sei, dass Claire sich gut benehme – er rollte die Augen, sodass Claire in ihre Cola prustete – und dass er auf Mrs Danvers kleines Mädchen aufpassen würde. Zumindest der letzte Teil entsprach der Wahrheit. Michael nahm seine selbst auferlegten Große-Bruder-Pflichten nur allzu ernst. Er ließ Claire kaum aus den Augen, es sei denn, es ging um ihre Privatsphäre oder Claire schlich sich ohne Eskorte zum Unterricht – was sie so oft wie möglich tat.

»Ja, Ma’am«, sagte Michael. Er sah allmählich ein wenig angestrengt aus. »Nein, Ma’am. Das werde ich nicht zulassen. Ja. Ja.«

Claire hatte Mitleid mit ihm und forderte das Telefon zurück. »Mom, wir müssen los. Ich liebe euch.«

Mom klang noch immer besorgt. »Claire, bist du sicher, dass du nicht nach Hause kommen möchtest? Vielleicht war es ein Fehler, dich vorzeitig auf die Uni gehen zu lassen. Du könntest dir das Jahr freinehmen, lernen und wir würden uns freuen, wenn wir dich wieder hier bei uns hätten...«

Komisch. Normalerweise beruhigte sie sich gleich wieder, vor allem wenn Michael mit ihr sprach. Claire durchzuckte die Erinnerung daran, wie Shane von seiner Mutter erzählt hatte, deren Erinnerungen an Morganville wieder an die Oberfläche gedrungen waren. Wie die Vampire sie verfolgt hatten, um sie zu töten, weil das Löschen der Erinnerungen nicht von Dauer gewesen war.

Ihre Eltern saßen jetzt im selben Boot. Sie waren in der Stadt gewesen, aber sie war sich noch immer nicht sicher, wie viel sie bei ihrem Besuch tatsächlich begriffen hatten – es konnte genug sein, um sie in tödliche Gefahr zu bringen. Sie musste alles in ihrer Macht Stehende tun, damit sie weiterhin in Sicherheit waren. Das bedeutete, dass sie ihren Traum vom MIT nicht verwirklichen konnte, denn wenn sie Morganville verließe – vorausgesetzt, sie würde es überhaupt aus der Stadt hinaus schaffen – würden ihr die Vampire folgen und sie entweder zurückbringen oder töten. Und den Rest ihrer Familie ebenfalls.

Außerdem musste Claire jetzt bleiben, weil sie einen Vertrag unterzeichnet hatte, in dem sie Amelie, der Gründerin der Stadt, einen Treueeid geschworen hatte. Der mächtigsten, furchteinflößendsten Vampirin von allen, auch wenn sie diese Seite nur selten herauskehrte. Damals war sie Claires einzige wirkliche Hoffnung gewesen, sich selbst und ihre Freunde am Leben zu halten.

Bisher hatte das Unterzeichnen des Vertrags keine spürbaren Folgen gehabt – keine Anzeigen in der lokalen Presse, und Amelie war auch nicht aufgetaucht, um ihre Seele zu kassieren oder so. Vielleicht würde es also einfach...in aller Stille vorübergehen.

Mom redete noch immer über das MIT und Claire wollte gar nicht daran denken. Sie hatte ihr ganzes Leben lang davon geträumt, auf eine Universität wie MIT oder CalTech zu gehen, und sie war auch klug genug, das zu schaffen. Sie hatte sogar eine vorzeitige Zulassung erhalten. Es war hochgradig unfair, dass sie jetzt in Morganville festsaß wie eine Fliege im Spinnennetz, und ein paar Sekunden lang war sie darüber böse und verbittert.

Großartig, spottete die gnadenlos ehrliche Seite an ihr. Du würdest Shanes Leben für deine Wünsche opfern, du weißt genau, dass es das ist, was auf dem Spiel steht. Letztendlich würden die Vampire einen Vorwand finden, ihn zu töten. Du bist kein bisschen besser als die Vampire, wenn du nicht alles daransetzt, dies zu verhindern.

Die Bitterkeit verflog, aber das Bedauern darüber ließ auf sich warten. Sie hoffte, dass Shane nie herausfinden würde, wie sie tief in ihrem Inneren empfand.

»Mom, tut mir leid, ich muss jetzt los. Ich habe Unterricht. Ich liebe dich – sag Dad, dass ich ihn auch liebe, okay?«

Claire legte trotz der Proteste ihrer Mutter auf, stieß einen Seufzer aus und schaute Michael an, der sie mitleidig ansah.

»Das ist nicht einfach, mit den Eltern sprechen«, sagte er. »Sorry.«

»Sprichst du eigentlich nie mit deinen Eltern?«, fragte Claire und ließ sich gegenüber von ihm auf den Stuhl an dem kleinen Frühstückstisch gleiten. Vor Michael stand eine Tasse; einen Augenblick lang befürchtete Claire, dass Blut darin wäre, aber dann roch sie, dass es sich um Kaffee handelte. Haselnussgeschmack. Vampire konnten durchaus normales Essen genießen und sie taten es auch; aber es diente ihnen nicht als Nahrung.

Michael sah verdächtig gut aus heute Morgen – er hatte ein wenig Farbe im Gesicht und seine Bewegungen zeugten von einer Energie, die gestern Abend noch nicht da gewesen war.

Er hatte heute Morgen wohl nicht nur Kaffee getrunken. Wie ging das genau vor sich? Hatte er sich davongeschlichen, um zur Blutbank zu gehen? Gab es eine Art Lieferservice?

Claire machte sich in Gedanken eine Notiz, dem nachzugehen. Klammheimlich.

»Ja, ich rufe meine Familie ab und zu an«, sagte Michael. Er faltete die Zeitung zusammen – es war die lokale, von Vampiren herausgegebene Postille – und nahm ein kleineres zusammengerolltes Bündel in Briefgröße, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde. »Sie sind ehemalige Bewohner von Morganville, deshalb haben sie eine Menge zu vergessen. Es ist besser, wenn ich nicht so viel Kontakt zu ihnen habe; das könnte Ärger geben. Meistens schreibe ich. Briefe und E-Mails werden gelesen, bevor sie weggeschickt werden, das weißt du ja, oder? Und die meisten Telefonate werden abgehört, vor allem Ferngespräche.«

Er streifte das Gummiband ab und faltete das billige Papier der anderen Zeitung auseinander. Claire las den Titel, der auf dem Kopf stand: Die Eckzahn-Rundschau. Das Logo bestand aus zwei Pfählen, die im rechten Winkel übereinanderlagen, sodass sie ein Kreuz ergaben. Abgefahren.

»Was ist das?«

»Das?« Michael raschelte mit der Zeitung und zuckte die Achseln. »Captain Durchblick.«

»Was?«

»Captain Durchblick. So lautet sein Deckname. Seit etwa zwei Jahren gibt er jede Woche dieses Blatt heraus. Es ist so ein Subkultur-Ding.«

Subkultur hatte in Morganville eine Menge Bedeutungen. Claire zog die Augenbrauen hoch. »Das heißt... Captain Durchblick ist ein Vampir?«

»Nein, außer er hat ein ernsthaftes Problem mit seinem Selbstverständnis«, sagte Michael. »Captain Durchblick hasst Vampire. Wenn jemand aus der Reihe tanzt, dokumentiert er es...« Michael erstarrte, als er die Schlagzeile las, er öffnete den Mund und klappte ihn dann wieder zu. Sein Gesicht war wie versteinert, in seinen blauen Augen lag etwas Gequältes.

Claire fasste hinüber und nahm ihm die Zeitung aus der Hand, drehte sie um und las:

**

Neuer Blutsauger in Morganville

Michael Glass, einst ein aufstrebender Star mit viel zu viel musikalischem Talent für diese verkorkste Stadt, ist der Dunklen Seite anheimgefallen. Nähere Einzelheiten sind nicht bekannt, aber Glass, der das letzte Jahr über zurückgezogen lebte, ist inzwischen definitiv der Eckzahn-Liga beigetreten.

Niemand weiß, wie oder wo das passiert ist, und ich bezweifle, dass Glass auspacken wird, aber es sollte allen Anlass zur Sorge geben. Bedeutet das, dass es bald mehr Vamps als Menschen geben wird? Immerhin ist er seit Generationen der erste frisch gebackene Untote.

Achtung, Jungs und Mädels: Glass sieht zwar wie ein Engel aus, aber in seinem Inneren schlummert jetzt ein Dämon. Prägt euch dieses Gesicht ein, Leute. Er ist das neueste Mitglied des Klubs »Schöner leben als Toter!«.

***

»Der Klub ›Schöner leben als Toter‹?«, wiederholte Claire laut und war entsetzt. »Das soll wohl ein Witz sein, oder?« Es gab ein Foto von Michael, wahrscheinlich direkt aus einem Jahrbuch der Highschool entnommen und mit einem Grafikprogramm auf einen Grabstein montiert.

Mit dick ins Bild geschmierten Vampirzähnen.

»Captain Durchblick würde nie so weit gehen, direkt dazu aufzurufen, jemanden zu töten«, sagte Michael. »Er formuliert die Dinge sehr vorsichtig.« Claire sah, dass ihr Freund verärgert war. Und dass er Angst hatte. »Er hat unsere Adresse aufgeführt. Und alle unsere Namen, aber wenigstens erwähnt er, dass ihr keine Vampire seid. Trotzdem. Das ist nicht gut.« Michael war noch damit beschäftigt, seinen Schock darüber zu überwinden, dass er in der Zeitung als Vampir geoutet worden war. Nun begann auch er, sich Sorgen zu machen. Was Claire schon lange tat.

»Aber... warum unternehmen die Vampire nichts gegen ihn? Warum schieben sie ihm keinen Riegel vor?«

»Das haben sie schon versucht. Sie haben in den letzten beiden Jahren drei Leute verhaftet, die behaupteten, Captain Durchblick zu sein. Es stellte sich aber heraus, dass sie keine Ahnung hatten. Der Captain könnte selbst der CIA noch Tipps geben, wie man eine geheime Operation durchführt.«

»Also hat er echt den Durchblick«, sagte Claire.

»Ja, hat er wohl.« Michael nahm einen großen Schluck Kaffee. »Claire, das gefällt mir nicht. Nicht, dass wir nicht schon genug Ärger hätten, auch ohne diesen...«

Eve riss die Küchentür auf und ließ sie mit einem lauten Knall gegen die Wand krachen, worüber sie beide erschraken. Sie stapfte durch die Küche und lehnte sich an den Frühstückstisch. Sie war heute nicht besonders gothic; ihr Haar war zwar noch immer pechschwarz, aber sie hatte es zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengefasst und auf dem schlichten Strick-Shirt und der schwarzen Hose war weit und breit kein Totenkopf zu sehen. Sie war auch nicht geschminkt. Sie sah fast schon... normal aus. Irgendetwas stimmte nicht.

»Na schön«, sagte sie und knallte eine zweite Ausgabe von Die Eckzahn-Rundschau vor Michael auf den Tisch. »Bitte sag mir jetzt, dass dir darauf eine schlagfertige Antwort einfällt.«

»Ich werde dafür sorgen, dass ihr drei in Sicherheit seid.«

»Oh, genau das wollte ich jetzt eigentlich nicht hören! Sieh mal, ich mache mir keine Sorgen um uns! Wir sind schließlich nicht diejenigen, die per Photoshop auf einen Grabstein montiert wurden!« Eve schaute sich das Bild noch einmal an. »Obwohl – lieber tot als so eine Frisur...oh Gott, war das dein Abschlussballfoto?«

Michael riss ihr die Zeitung aus der Hand und legte sie mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch. »Eve, nichts wird passieren. Captain Durchblick ist einfach ein Freund von viel Gerede. Niemand wird hinter mir her sein.«

»Klar«, sagte eine neue Stimme. Es war Shane. Er war hinter Eve hereingekommen und wollte offensichtlich das Feuerwerk nicht verpassen. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand neben dem Herd. »Am besten, wir machen genauso weiter und verarschen uns selbst«, sagte er. »Das riecht nach Ärger, und das weißt du genau.« Claire wartete darauf, dass er zum Tisch herüberkam und sich zu ihnen setzte, so wie immer.

Aber das tat er nicht. Shane blieb nicht gern mit Michael im selben Zimmer, seit...der Veränderung. Und er schaute ihn auch nicht mehr direkt an, nur noch aus einem anderen Winkel oder von der Seite. Außerdem war er dazu übergegangen, eines von Eves Silberkreuzen zu tragen, auch wenn es im Moment unter dem Kragen des grauen T-Shirts, das er trug, versteckt war. Claire ertappte sich dabei, wie sie auf seine gerade noch sichtbaren Umrisse starrte.

Eve ignorierte Shane; ihre großen dunklen Augen waren starr auf Michael gerichtet. »Du weißt, dass sie jetzt alle Jagd auf dich machen werden, oder? All diese Möchtegern-Buffys?« Claire hatte Buffy - Im Bann der Dämonen gesehen, aber sie hatte keine Ahnung, wie Eve das geschafft hatte; in Morganville war das verboten, ebenso wie alle anderen Filme oder Bücher, in denen Vampire vorkamen. Oder genauer gesagt das Töten von Vampiren. Downloads aus dem Internet wurden auch streng kontrolliert, obwohl es zweifellos einen heißen Schwarzmarkt für diese Dinge gab, zu dem sich Eve anscheinend Zugang verschafft hatte.

»So wie du?«, sagte Michael. Er hatte das Arsenal an Pfählen und Kreuzen nicht vergessen, das Eve in ihrem Zimmer versteckte. Früher schien das vernünftig, wenn man in Morganville lebte. Jetzt schien es wie das beste Rezept für häusliche Gewalt.

Eve sah niedergeschlagen aus. »Ich würde niemals...«

»Ich weiß.« Er nahm ihre Hand zärtlich in seine. »Ich weiß.«

Sie entspannte sich, aber dann schüttelte sie die Hand ab und blickte ihn wieder finster an. »Hör mal, das ist gefährlich. Sie wissen, dass du ein leichteres Ziel bist als diese anderen Typen, und sie werden dich noch mehr hassen, weil du, weil du einer von uns bist. In unserem Alter.«

»Vielleicht«, sagte Michael. »Eve, komm schon, setz dich. Setz dich mal hin.«

Sie setzte sich, aber es war eher eine Art Kollaps und sie hörte nicht auf, hektisch mit ihrer Ferse auf und ab zu wippen oder mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln auf den Tisch zu trommeln. »Das ist schlimm«, sagte sie. »Das weißt du, oder? Neun Komma fünf Punkte auf einer Skala von eins bis zehn der Dinge, die mich am meisten zum Kotzen bringen.«

»Im Vergleich wozu?«, fragte Shane. »Wir leben bereits mit dem Feind. Wie viel zählt das? Ganz zu schweigen davon, dass du mit ihm poppst...«

Michael stand so schnell auf, dass sein Stuhl kippte und krachend auf dem Boden aufschlug. Shane richtete sich auf und ballte die Fäuste, bereit für Ärger.

»Halt die Klappe, Shane«, sagte Michael tödlich ruhig. »Das meine ich ernst.«

Shane starrte an ihm vorbei Eve an. »Er wird dich beißen. Er kann nichts dafür, und wenn er einmal damit anfängt, kann er nicht mehr aufhören; er wird dich umbringen. Aber das ist dir klar, oder? Was soll das sein – die freakige Goth-Vorstellung von romantischem Selbstmord? Wirst du jetzt zu einer Vamp-Braut?«

»Halt du dich da raus, Shane. Alles, was du über Goth-Kultur weißt, kennst du von The Munsters und deinem Gangster-Dad.« Na großartig, jetzt war Eve auch noch wütend. Somit war Claire die einzig Normale im Zimmer.

Michael machte einen Versuch zurückzurudern. »Komm schon, Shane. Lass sie in Ruhe. Du bist derjenige, der ihr wehtut, nicht ich.«

Shanes Blick zuckte zu Michael und wurde hart. »Ich tue keinen Mädchen weh. Das behauptest du! Und das musst du erst mal beweisen, du Arsch.«

Shane stieß sich von der Wand ab, weil Michael ein paar Schritte auf ihn zu machte. Claire schaute mit großen Augen und völlig erstarrt zu.

Eve stellte sich zwischen sie und streckte beide Hände aus, um sie zurückzuhalten. »Kommt schon, Jungs, das ist jetzt nicht euer Ernst.«

»Irgendwie schon«, sagte Shane kalt.

»Gut. Entweder ihr schlagt euch jetzt oder ihr sucht euch ein Zimmer, in dem ihr allein sein könnt«, fuhr sie sie an und trat zurück. »Aber tut nicht so, als würdet ihr das hilflose kleine Mädchen beschützen, darum geht es nämlich gar nicht. Es geht um euch beide. Also reißt euch zusammen oder haut ab; eins von beidem.«

Shane starrte sie einen Augenblick mit großen Augen an, er sah seltsam verletzt aus. Dann schaute er Claire an. Sie rührte sich nicht.

»Ich bin raus«, sagte er. Er wandte sich um, ging durch die Küchentür und ließ sie hinter sich zufallen.

Eve stieß ein leichtes Keuchen aus. »Ich hätte nicht gedacht, dass er gehen würde«, sagte sie so zittrig, dass Claire einen Augenblick lang dachte, sie würde gleich weinen. »So ein blöder Idiot.«

Claire fasste sie an der Hand. Eve drückte sie fest und ließ sich dann in Michaels Umarmung sinken. Vampir hin oder her: Die beiden schienen glücklich zu sein und außerdem war das Michael. Sie konnte Shanes Wut einfach nicht verstehen. Sie schien völlig grundlos aufzuflammen, wenn sie es am wenigsten erwartete.

»Ich werde besser mal...«, sagte sie vorsichtig. Michael nickte.

Claire rutschte von ihrem Stuhl und ging Shane suchen. Nicht dass das besonders schwierig gewesen wäre; er lümmelte auf dem Sofa herum, starrte auf den Bildschirm seiner Playstation und bearbeitete die Steuerung, um ein weiteres Zombievernichtendes Abenteuer zu erleben.

»Du bist auf seiner Seite?«, fragte Shane und zermalmte den Kopf eines angreifenden untoten Monsters.

»Nein«, sagte Claire und setzte sich vorsichtig neben ihn, wobei sie genug Platz ließ, um ihn nicht unter Druck zu setzen.

»Warum gibt es überhaupt zwei Seiten?«

»Was?«

»Michael ist dein Freund; er ist dein Mitbewohner. Warum muss es zwei Seiten geben?«

Er schnippte mit den Fingern. »Ähm, warte mal, wie wär’s damit... weil er ein blutrünstiger, nachtaktiver Blutsauger ist, der früher mal mein Freund war?«

»Shane...«

»Du denkst, du weißt Bescheid, aber du hast keine Ahnung. Er wird sich verändern. Vielleicht dauert es eine Weile, wer weiß. Im Moment glaubt er, er sei menschlich plus, aber das stimmt nicht. Er ist menschlich minus. Und das vergisst du besser nicht.

Sie starrte ihn ein wenig betäubt und noch eine ganze Ecke trauriger an. »Eve hat recht. Du klingst schon wie dein Vater.«

Shane zuckte zusammen, hielt das Spiel an und warf die Konsole hin. »Unterste Schublade, Claire.« Er war schon in guten Zeiten nicht gerade der größte Fan seines Dads – das ging gar nicht bei all den Grausamkeiten, die sein Dad ihm angetan hatte.

»Nein, es ist einfach wahr. Hör mal, es geht um Michael. Spricht das im Zweifel nicht für ihn? Er hat niemandem was getan, oder? Und du musst zugeben, dass es nicht schaden wird, einen Vampir auf unserer Seite – wirklich auf unserer Seite – zu haben. Zumindest nicht in Morganville.«

Er starrte nur mit zusammengebissenen Zähnen auf den Bildschirm. Claire versuchte, sich etwas anderes einfallen zu lassen, um zu ihm durchzudringen, wurde aber von einem Klingeln an der Haustür abgelenkt. Shane rührte sich nicht. »Ich gehe schon«, seufzte sie und ging über den Flur, um die Haustür zu öffnen. Im Moment war das relativ ungefährlich – es war mitten am Morgen, die Sonne schien und es war relativ mild. Der Sommer ging allmählich in den Herbst über, nachdem er alles Grün der texanischen Landschaft verbrannt hatte.

Claire blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht. Einen Augenblick lang dachte sie, dass mit ihren Augen etwas schwer nicht in Ordnung wäre.

Denn auf der Türschwelle stand ihre Erzfeindin, die Oberzicke Monica Morrell, flankiert von ihren ständig präsenten Harpyien Gina und Jennifer auf der Türschwelle. Es sah aus, als hätte man Barbie und ihre Freunde zu Lebensgröße aufgeblasen und als Old-Navy-Models verkleidet. Braun gebrannt, mit gefärbten Haaren und vom Lipgloss bis zu den lackierten Zehennägeln perfekt. Monica machte ein aufgesetzt liebenswürdiges Gesicht. Gina und Jennifer versuchten es auch, aber sie sahen aus, als wäre ihnen ein unangenehmer Geruch in die Nase gezogen.

»Hi!«, sagte Monica strahlend. »Hast du heute schon was vor, Claire? Dachte mir, wir könnten abhängen.«

Das muss es sein, dachte Claire. Ich träume. Aber es muss wohl ein Albtraum sein, oder? Monica, die so tut, als wäre sie meine Freundin? Ganz sicher ein Albtraum.

»Ich...was willst du?«, fragte Claire. Ihre Beziehung zu Monica, Gina und Jennifer hatte damit begonnen, dass sie von ihnen im Wohnheim die Treppe hinuntergestoßen wurde, und sie hatte sich seitdem eher verschlechtert. Für die angesagten Mädels war sie allenfalls ein ekliges Insekt. Oder... ein Mittel zum Zweck. Ging es hier um Michael? Sein Status hatte sich nämlich in einer einzigen Nacht von »Einzelgänger-Musiker« zu »heißem Vampir« gewandelt und Monica war definitiv eine Vamp-Braut, oder? »Willst du zu Michael?«

Monica schaute sie seltsam an. »Warum sollte ich? Kann er am helllichten Tag shoppen gehen?«

»Oh.« Etwas anderes wusste sie darauf nicht zu erwidern.

»Ich dachte, wir machen eine kleine Shopping-Therapie und setzen uns dann alle wieder an den Schreibtisch«, sagte Monica. »Wir wollen uns dieses neue Café anschauen, nicht das Common Grounds. Das Common Grounds ist ja so was von aus dem letzten Jahrhundert. Als wollte ich die ganze Zeit unter Olivers Fuchtel stehen. Er hat jetzt den Schutz unserer Familie übernommen und ist total übereifrig – er will meine Noten sehen. Total nervig, oder?«

»Ich...«

»Komm schon, rette mich. Ich brauche wirklich Hilfe in Wirtschaft, die zwei da sind Schwachköpfe.« Monica speiste ihre beiden engsten Freundinnen mit einer flapsigen Handbewegung ab. »Ernsthaft. Komm mit. Bitte? Ich könnte jemand mit Hirn wie dich wirklich gut brauchen. Und ich finde, wir sollten uns ein bisschen besser kennenlernen, findest du nicht auch? So wie sich die Dinge jetzt geändert haben?«

Claire öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Die letzten beiden Male, als sie mit Monica irgendwohin gegangen war, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden eines Lieferwagens und wurde geschlagen und gequält.

»Ich weiß, dass das jetzt unhöflich klingen wird, aber – was zum Teufel tust du hier eigentlich?«, brachte Claire mühsam heraus.

Monica seufzte und machte – völlig irre! – ein zerknirschtes Gesicht. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Ja, ich habe mich dir gegenüber zickig verhalten und ich habe dir wehgetan. Und es tut mir leid.« Gina und Jennifer, ihr permanenter Bühnenchor, nickten und wiederholten flüsternd tut mir leid. »Schnee von gestern, okay? Vergeben und vergessen?«

Claire war jetzt womöglich noch verblüffter als zuvor. »Warum machst du das?«

Monica schürzte ihre geglossten Lippen, beugte sich vor und senkte ihre Stimme zu einem tiefen, vertraulichen Tonfall. »Na ja... also gut, es ist nicht so, dass ich eine Kopfverletzung oder so etwas hatte und dann aufgewacht bin und gedacht habe, du wärst cool. Aber du bist jetzt anders. Ich kann dir helfen. Ich kann dich allen Leuten vorstellen, die du wirklich kennen solltest.«

»Du machst wohl Witze. Wieso bin ich jetzt anders?«

Monica beugte sich sogar noch weiter vor. »Du hast unterzeichnet.«

Ach so...es ging also gar nicht um Michael. Claire war einfach nur... beliebt geworden. Weil sie Amelies Eigentum geworden war.

Und das war erschreckend.

»Oh«, brachte sie heraus. Und dann etwas langsamer: »Oh.«

»Vertrau mir«, sagte Monica. »Du brauchst jemanden, der sich auskennt. Jemand, der dich mit allem vertraut macht.«

Wenn die einzige weitere Person auf der Welt Jack the Ripper gewesen wäre, hätte Claire wohl eher ihm vertraut.

»Sorry«, sagte sie. »Ich habe schon was vor. Aber... danke. Vielleicht ein andermal.«

Sie machte die Tür direkt vor Monicas überraschtem Gesicht zu und schloss sie ab. Sie fuhr zusammen, als sie sich umdrehte und sah, dass Shane direkt hinter ihr stand und sie anstarrte, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

»Danke?«, äffte er sie nach. »Du bedankst dich bei diesem Miststück? Wofür, Claire? Dafür, dass sie dich geschlagen hat? Dass sie versucht hat, dich umzubringen? Dafür, dass sie meine Schwester getötet hat? Mein Gott! Erst Michael, dann du. Ich erkenne euch nicht wieder.«

Dann zog er einfach ab – typisch Shane. Sie hörte, wie er mit schweren Schritten durch das Wohnzimmer und dann die Treppe hinaufging. Hörte das vertraute Zuknallen der Tür.

»Hey!«, schrie sie ihm nach. »Ich wollte nur höflich sein!«