5

 

Myrnin war bei Laune. Bei guter Laune.

»Claire!« Als sie die Stufen hinunterging und in den großen Raum trat, kam er wie der Blitz auf sie zugeschossen und blieb nur wenige Zentimeter vor ihr stehen, so nah, dass sie zurückzuckte und gegen Sams breite Brust prallte, wo sie Halt fand. Myrnins Augen waren groß und funkelten vor Begeisterung. »Ich habe schon gewartet! Spät, spät, spät, du kommst sehr spät, weißt du? Komm schon, komm schon, wir haben keine Zeit für Unsinn. Hast du die Bücher mitgebracht? Gut. Was ist mit Letzter Wille und Testament? Hast du dich mit den Symbolen vertraut gemacht? Hier, nimm das.« Er drückte ihr ein Stück Kreide in die Hand. Myrnin bewegte sich erneut, schnell wie ein Grashüpfer, und rollte eine fleckige alte Tafel heran, wofür er einige Bücherstapel zur Seite schubsen musste. Das tat er fröhlich, ohne sich im Geringsten um das Chaos zu scheren, das er dabei veranstaltete.

Sam flüsterte beinahe unhörbar: »Sei vorsichtig. Wenn er so drauf ist, ist er gefährlich.«

Sehr witzig. Claire nickte, schluckte und lächelte, als Myrnin sich ihr mit diesen verrückten, enthusiastischen Augen zuwandte. Sie wollte schon fragen, was nach der manischen Phase kam, aber sie traute sich nicht.

»Ich warte im anderen Zimmer«, sagte Sam. Myrnin winkte ihn ungeduldig hinaus, wobei er ihn kaum eines Blickes würdigte.

»Jaja, schon gut, geh. Hier. Fangen wir mit der ägyptischen Inschrift für asem an. Asem. Weißt du, welches Element das darstellt?«

»Elektrum«, sagte Claire und malte das Symbol sorgfältig mit Kreide auf. Eine Art Schüssel mit einem großen Stab in der Mitte. »Gut so?«

»Ausgezeichnet! Ja, das ist es. Jetzt mal etwas Schwieriges.

Chesbet.«

Saphir. Das war schwer. Claire biss sich einen Augenblick auf die Lippen, ordnete ihre Gedanken und zeichnete dann los. Ein Kreis über einer doppelt durchgestrichenen Linie, daneben ein Bein, daneben etwas, das aussah wie eine Art Auto ohne Reifen über zwei getrennten Kreisen.

»Nein, nein, nein«, sagte Myrnin, griff nach einem Tuch und wischte das Auto weg. »Zu modern. Schau.«

Er zeichnete es neu, dieses Mal etwas grober, aber es sah für Claire noch immer wie ein Auto aus. Sie zeichnete es ab, zweimal, bis er schließlich zufrieden war.

Es waren viele Symbole und er fragte sie praktisch alle ab, wobei er immer aufgeregter wurde. Ihr Arm tat davon weh, an der hohen Tafel zu schreiben, vor allem als sie das Symbol für Blei vermasselte und er sie dazu zwang, es hundertmal abzuzeichnen.

»Wir sollten das auf einem Computer machen«, sagte sie, als sie es sorgfältig zum neunundachtzigsten Mal zeichnete. »Mit einem Zeichenprogramm.«

»Unsinn. Sei froh, dass ich es dich nicht mit dem Griffel auf einer Wachstafel einritzen lasse wie in den alten Zeiten«, schnaubte Myrnin. »Kinder. Verwöhnte Kinder, die immer mit dem glänzendsten Spielzeug spielen.«

»Computer sind effektiver!«

»Auf diesem Abakus kann ich Rechenaufgaben schneller lösen als du am Computer«, spottete Myrnin.

Okay, so langsam wurde sie böse auf ihn. »Beweisen Sie es!«

»Was?«

»Beweisen Sie es.« Dieses Mal sagte sie es freundlicher, aber Myrnin wirkte nicht verärgert, sondern seltsam interessiert. Einen Moment lang sah er sie schweigend an, dann brachte er das breiteste, seltsamste Lächeln zustande, das sie je auf dem Gesicht eines Vampirs gesehen hatte.

»Also gut«, sagte er. »Ein Wettstreit. Computer gegen Abakus.«

Sie war sich überhaupt nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war, auch wenn sie von ihr stammte. »Ähm – was kann ich dabei gewinnen?« Und vor allem, was habe ich dabei zu verlieren? Deals zu machen, gehörte in Morganville zum Leben und angesichts der Verhandlungspartner war man besser vorsichtig bei dem, was man forderte.

»Deine Freiheit«, sagte er feierlich. Seine Augen waren groß und unschuldig, sein allzu junges Gesicht strahlte Ehrlichkeit aus. »Ich werde Amelie sagen, dass du für die Arbeit nicht geeignet bist. Sie wird dich mit deinem bisherigen Leben weitermachen lassen.«

Guter Preis. Zu gut. Claire schluckte schwer. »Und wenn ich verliere?«

»Dann fresse ich dich auf«, sagte Myrnin.

Ohne dabei auch nur im Geringsten die Miene zu verändern.

»Sie...das können Sie nicht tun.« Sie zog den Ärmel ihres Shirts hoch und hielt ihr Handgelenk so, dass Licht auf das goldene Armband fiel.

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte er. »Natürlich kann ich das. Ich kann tun, was ich will, Schätzchen. Ohne mich gibt es keine Zukunft. Niemand, schon gar nicht Amelie, wird mir den einen oder anderen Leckerbissen missgönnen. Du bist ohnehin kaum groß genug, um als Mahlzeit durchzugehen. Außerdem wirst du deinen Spaß dabei haben.«

Sie wich einen Schritt vor ihm zurück. Einen großen. Dieses wahnsinnige Lächeln...Sie warf einen Blick auf die Tür des anderen Zimmers, in dem Sam auf sie wartete. Kein Wunder, dass Amelie ihm befohlen hatte zu bleiben.

Myrnin stieß einen traurigen, theatralischen Seufzer aus. »Sterbliche sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren«, sagte er. »Vor tausend Jahren hätte man seine unsterbliche Seele noch für eine alte Brotkruste verkauft. Heute kann ich euch nicht einmal mehr zum Wetten bringen, noch nicht einmal um eure Freiheit. Also wirklich, die Menschen sind so... langweilig geworden. Keine Wette also? Wirklich nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. In seinem Gesicht spiegelte sich tiefe Enttäuschung wider. »Na schön«, sagte er. »Dann wirst du mir eben bis morgen einen Aufsatz über die Geschichte der Alchemie schreiben. Ich kann keine wissenschaftliche Abhandlung erwarten, aber ich erwarte, dass du die Grundlagen dessen verstehst, was ich versuche, dir beizubringen.«

»Sie lehren mich Alchemie?«

Er schien überrascht zu sein und blickte sich in seinem Labor um. »Begreifst du nicht, was ich hier mache?«

»Aber Alchemie – das ist doch Schwachsinn. Ich meine, das ist eher Magie und keine Wissenschaft.«

»Die Errungenschaften der Alchemie sind traurigerweise in Vergessenheit geraten und ja, Magie ist eine hervorragende Beschreibung von Dingen, deren Grundlage du noch nicht mal im Ansatz begreifen kannst. Was Wissenschaft anbelangt...« Myrnin gab ein unanständiges Geräusch von sich. Seine Augen hatten schon wieder diesen fiebrigen Glanz. »Wissenschaft ist eine Methode, keine Religion, auch wenn sie ebenso engstirnig sein kann. Hier musst du offen sein, Claire. Immer offen. Stell alles infrage; akzeptiere nichts, bevor du es dir nicht selbst bewiesen hast. Okay?«

Zögernd nickte sie und hatte mehr Angst, ihm zu widersprechen, als dass sie davon überzeugt gewesen wäre. Myrnin grinste sie an und klopfte ihr heftig auf den Rücken.

»Braves Mädchen«, sagte er. »Nun. Was weißt du über diese Theorie von Schrödinger? Die mit der Katze?«

***

Myrnin wurde erst am Ende von Claires Unterrichtsstunde seltsam, vermutlich als er müde wurde. Sie musste zugeben, dass es irgendwie Spaß machte, in seinem Labor zu arbeiten; er war so leidenschaftlich und begeistert bei der Sache. Sogar wenn es darum ging, sie zu Tode zu ängstigen. Er war wie ein kleines Kind – voller nervöser Energie, mit unruhigen Händen, rasch zu einem Lachen bereit und ebenso rasch dabei, sie wegen eines Fehlers niederzumachen. Er spottete gern, anstatt zu verbessern. Er war der Auffassung, dass sie gründlicher lernte, wenn sie selbst dahinterkam.

Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es fast acht war – schon spät. Sie sollte eigentlich schon zu Hause sein. Myrnin achtete vorübergehend nicht auf sie, als sie Tabellen mit unverständlichen Symbolen aus einem Buch abzeichnete, von dem es – wie er sagte – nur noch dieses eine Exemplar gab. Sie gähnte, streckte sich und sagte: »Ich muss gehen.«

Sein Auge war auf etwas fixiert, das wie ein klobiges altes Mikroskop aussah. »Schon?«

»Es ist spät. Ich muss nach Hause.«

Myrnin richtete sich auf, starrte sie an und sie bemerkte, wie sich in seinem Gesicht ein Sturm zusammenbraute. »Machst du mir jetzt schon Vorschriften?«, fauchte er sie an. »Wer ist hier der Meister? Wer ist der Schüler?«

»Ich – es tut mir leid, aber ich kann nicht die ganze Nacht bleiben!«

Myrnin kam auf sie zu und war fast nicht wiederzuerkennen.

Keine manische Energie mehr, kein Humor, keine scharfe, blitzende Wut. Er sah aufgewühlt und verwirrt aus.

»Nach Hause«, wiederholte er. »Zu Hause ist, wo das Herz ist. Warum lässt du deines nicht hier? Ich werde sehr gut dafür sorgen.«

»M-mein – Herz?« Sie ließ den Stift fallen und wich zurück, bis ein großer Labortisch mit chemischer Ausrüstung zwischen ihnen stand. Myrnin entblößte sein Gebiss und ließ die Eckzähne wachsen. Discovery Channel. Königskobra. Oh Gott, kann er Gift verspritzen oder so etwas? Seine Augen flackerten hell auf, getrieben von etwas, das für sie wie... Angst aussah.

»Lauf nicht davon«, sagte er und klang verärgert. »Ich hasse es, wenn sie davonlaufen. Sag mir jetzt, was du hier willst!«, fragte er. »Warum verfolgst du mich? Wer bist du?«

»Ich bin Claire, Myrnin. Ich bin Ihre Schülerin. Ich muss hier bei Ihnen sein, erinnern Sie sich?«

Sie hatte das Falsche gesagt und hatte keine Ahnung, warum. Myrnin hielt inne und das Flackern in seinen Augen wurde intensiver, bis Wahnsinn aus ihnen sprach. Hässlich und sehr furchterregend. Als er sich bewegte, war es ein glattes, geschmeidiges Gleiten. »Meine Schülerin«, sagte er. »Dann besitze ich dich also. Ich kann tun, was ich will.«

Königskobra.

»Sam!«, schrie Claire und stürzte auf die Treppe zu.

Sie kam nur zwei Stufen weit. Myrnin kam über den Tisch, Geräte aus Glas stürzten nach allen Seiten und zersprangen auf dem Boden zu einem Glitzerhagel. Sie fühlte, wie sich seine kalten, unglaublich starken Hände um ihre Knöchel schlossen und sie zurückzerrten. Sie ruderte mit den Armen nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, aber sie erwischte nur einen Bücherstapel, der in sich zusammenfiel, als sie stürzte.

Sie schlug so hart auf dem Boden auf, dass die Welt um sie herum wackelnd zum Stillstand kam und Sterne um sie herumtanzten. Als sie die Sterne wegzwinkerte, packte Myrnin sie an den Schultern und starrte auf sie herunter, wobei er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt war.

»Nicht«, sagte sie. »Nicht, Myrnin. Ich bin Ihre Freundin! Ich werde Ihnen nicht wehtun!«

Sie wusste nicht, warum sie das sagte, aber es musste wohl das Richtige gewesen sein. Seine Augen weiteten sich, um die Pupillen herum war das Weiße zu sehen und das wahnsinnige Funkeln wich einer Flut von Tränen. Er tätschelte ihr sanft und verwirrt die Wange und fuhr seine Vampirzähne wieder ein. »Liebes Kind«, sagte er. »Was machst du hier? Zwingt dich Amelie dazu hierherzukommen? Das sollte sie nicht. Du bist viel zu jung und zu lieb. Du solltest ihr sagen, dass du nicht wiederkommst. Ich möchte dich nicht verletzen, aber ich werde es tun.« Er tippte sich an die Stirn. »Das verrät mich. Dieses dumme, dumme Fleisch.« Aus dem Tippen wurden brutale Schläge auf die Stirn und Tränen quollen aus seinen Augen hervor, die ihm die Wange herunterliefen. »Ich muss jemanden unterrichten, aber nicht dich. Nicht dich, Claire. Zu jung. Zu klein. Du weckst die Bestie in mir.«

Er stand auf und ging weg, wobei er missbilligende Geräusche wegen des zersprungenen Glases von sich gab und die heruntergefallenen Bücher auflas. Als hätte sie aufgehört zu existieren. Claire setzte sich auf und kam zittrig und verängstigt wieder auf die Füße.

Sam stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. Sie hatte nicht gesehen oder gehört, wie er gekommen war, und er hatte nichts zu ihrer Rettung unternommen. Sein Gesicht war angespannt, in seinem Blick lag Unbehagen.

»Er ist krank«, sagte Claire.

»Krank, krank, krank, ja, das bin ich«, sagte Myrnin. Er hielt jetzt den Kopf in den Händen, als würde er ihm wehtun. »Wir sind alle krank. Wir sind verloren.«

»Wovon redet er?« Claire wandte sich zu Sam um.

»Nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Hör nicht auf ihn.«

Myrnin sah auf und entblößte seine Zähne. Seine Augen waren grimmig, aber normal. Einigermaßen normal zumindest.

»Sie werden dir nicht die Wahrheit sagen, du kleiner Leckerbissen, aber ich werde es tun. Wir sterben. Vor siebzig Jahren...«

Sam schob Claire aus dem Weg und zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, sah Sam bedrohlich aus. »Myrnin, halt die Klappe!«

»Nein«, seufzte Myrnin. »Es ist Zeit zu sprechen. Ich musste lange genug den Mund halten.« Er sah auf, in seinen rot geränderten Augen standen Tränen. »Oh, Mädchen, verstehst du nicht? Meine Art stirbt aus. Meine Art stirbt aus und ich weiß es nicht zu verhindern.«

Claire öffnete und schloss den Mund, ihr fiel nichts ein, was sie sagen könnte. Sam wandte sich zu ihr um, noch immer war ihm seine Wut deutlich anzusehen. »Hör nicht auf ihn«, sagte er. »Er weiß nicht, was er sagt. Wir sollten gehen, ehe ihm wieder einfällt, was er gerade tun wollte. Oder ehe er vergisst, was er nicht tun darf.«

Claire schaute über ihre Schulter zurück zu Myrnin, der ein zerbrochenes Glasrohr in der Hand hielt und versuchte, die beiden Teile wieder zusammenzufügen. Als es nicht ging, ließ er es fallen und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Sie sah, wie seine Schultern bebten. »Kann nicht – sollte ihm nicht jemand helfen?«

»Es gibt keine Hilfe«, sagte Sam mit einer Stimme, die vor Wut tonlos war. »Es gibt keine Heilung. Und wenn ich es verhindern kann, kommst du nicht wieder hierher.«