Gute Nacht!

(2009)

 

Es herrschte eine selten ausgelassene Stimmung, während wir über die Autobahn brausten und lautstark »Geile Zeit« sangen. Juli klang besser, unser Familienchor schöner. Max’ piepsige Stimme, die an eine Maus aus einem Disney Film erinnerte und seine große Schwester Marina, die mit ihren zehn Jahren fast perfekt sang, trieben mir vor Stolz die Tränen in die Augen. Noch nie waren wir weiter als bei Oma gewesen, vierzig Kilometer von Zuhause entfernt. Wir freuten uns auf unseren ersten Urlaub.

 

Mit einem Mal blinkten die Rücklichter des vor uns fahrenden Lastwagens auf. Stopp! Doch dafür war es zu spät.

Jo blieb keine Zeit mehr auszuweichen oder zu bremsen.

 

Ich hatte heimlich Lotto gespielt und das Glück herausgefordert. Bisher war ein Urlaub nie möglich gewesen, doch das Glück schenkte uns mehrere Tausend Euro; genug für eine Reparatur am Haus und den lang ersehnten Urlaub. Wir fuhren ans Meer, vierzehn Tage. Vor Aufregung schliefen wir die Nächte vorher kaum und bei der Abfahrt plapperten alle durcheinander. Ein Geräusch, das mir – als Einzige, die sich vom Packen gestresst fühlte – auf die Nerven gefallen war.

Wie sehnte ich mich jetzt danach zurück.

 

Als wir mit einhundert Stundenkilometern gegen den Lastwagen prallten, erschien mir dessen Warnung überdimensional und verräterisch: Bitte halten Sie Rangierabstand.

Zu spät.

Der Knall ließ das Trommelfell meines linken Ohrs platzen.

Die Airbags lösten aus. Ich fühlte mich wie in einem Film. Hauptrolle. Zeitlupe.

Und schon der nächste Moment brach über mir zusammen wie ein Tsunami. Meterhohe Wellen überschwemmten meine noch vor Sekunden verspürten, unerschütterlichen, oh so trügerischen Glücksgefühle. Doch es war kein Wasser, das mich zu ertränken drohte, sondern Panik.

Dann ein Augenblick der Stille. Bevor das Ende begann.

Ich drohte zu ersticken, ruderte mit den Armen, kämpfte mich frei. Rang nach Luft. Atmete.

Die Kinder.

Jo.

Zu hastig drehte ich meinen Kopf nach links. Ein Schmerz zuckte durch meinen Rücken, real, stark. Dann sah ich Jo, meinen Mann, Geliebten. Seine Arme waren grotesk verrenkt, sein Gesicht zum Seitenfenster gedreht. Er stöhnte.

Max. Marina. Ich wollte mich zu meinen Kindern wenden, mich losmachen, musste zu ihnen, aussteigen, Hilfe holen. Meine Gedanken stolperten über unüberwindbare Hürden. Eine betäubende Steifheit breitete sich über meinen Körper aus, die mir verbot mich umzudrehen. Ich schielte auf die Rückbank.

Oh Gott, bitte lass mit den Kindern alles in Ordnung sein!

Ich glaubte, ein Wispern zu hören. »Mama.«

Und sah Max, der hinter Jo saß. Er hing mit geschlossenen Augen und einer blutenden Wunde am Kopf in seinem Sitz. Tot? Ich rief seinen Namen, schrie nach Marina, nach Hilfe, fingerte an meinem Gurt, die Lähmung bekämpfend, versuchte in meine Hosentasche zu greifen, in der mein Handy steckte. Alles gleichzeitig. Schmerzen spürte ich nur in meinem Herzen, unerträgliche Schmerzen. Noch einmal sah ich zurück und erhaschte aus den Augenwinkeln den Anblick von Gevatter Tod.

Wir wollten doch nur einmal in den Urlaub fahren!

Ein Kleinlaster raste auf uns zu. Schlief der Fahrer? Sein Gesicht rund, rosige Wangen, er redete – mit sich selbst? – und lächelte. Das Lächeln eines Kindes. Unschuldig. Ich schrie: »Stopp!« Niemand hörte mich.

An diese Stille würde ich mich erinnern, und die Dunkelheit, die mich daraufhin verschlang.

Immer und immer wieder.

 

Als ich erwachte, roch ich Schweiß und Blut, dann öffnete ich die Augen. Schmerz spürte ich nicht. Diesmal sah ich nicht nach Jo – oh, wie ich dich liebe –, nicht nach Max und Marina – meine Mäuse. Mami wird euch helfen.

Es gelang mir, aus meinem Fenster zu klettern.

Hilfe!

Hilfe war das Einzige, an das ich denken konnte. Jeder Buchstabe dieses hoffnungsvollen Wortes wirkte wie ein Seil, an dem ich mich aus dem Autowrack herauszog und wie ein Anker, an den ich mich klammerte, um meine Familie zu retten. Nur dieser eine Grund hielt mich am Leben.

»Hilfe«, flüsterte ich – und hustete, spuckte Blut. »Hilfe!« Lauter.

Warum reagierte niemand auf mich?

Sirenen durchbrachen meine Rufe, blinkendes Polizeilicht verwandelte den Asphalt in beweglichen Boden, der mir unter den Füßen weggezogen wurde. Jede Sekunde ein Stück weiter. Bis zum Abgrund.

Menschen liefen durcheinander, zwei Sanitäter knieten vor einem blutüberströmten Mann, der neben dem LKW lag, in den wir hineingefahren waren. Ich empfand kein Mitleid. Meine Familie brauchte Hilfe! Schnell!

Überall standen Autos, die ineinander geschoben worden waren. Rauchende Motorhauben. Der Gestank von Benzin versengte mir die Nasenhärchen. Menschen weinten, riefen Namen. Wie viele waren tot?

Max. Marina. Jo. Ich bereute es sofort, zu unserem Wagen zu sehen, noch bevor mein Gehirn den Anblick begriff.

Darin hatte niemand überlebt!

Aber ich lebte doch! Ich lebte! Die Schmerzen überfielen mich anfallartig, ich beugte mich vor und übergab mich. Mein – unser – Frühstück vermischte sich mit Blut, Tränen und einem abgebrochenen Zahn.

Die Erkenntnis zwang mich in die Knie.

 

Ruckartig setzte ich mich auf. Ich erwachte, spürte den Druck auf meiner Brust, den Herzschlag, der schmerzend gegen die Rippen pochte. Ich wollte schreien, doch ich biss mir so fest auf die Faust, bis ich Blut schmeckte, und erstickte so meine Stimme.

Schweiß und Blut.

Ich wollte die Kinder nicht wecken.

Schlaft gut, meine Mäuse.

Nur langsam beruhigte ich mich. Ich sank zurück in die verschwitzten Kissen und lächelte. Nur ein Albtraum.

Meine Hand tastete unter der Bettdecke nach Jo, auf der Suche nach Trost, um diese Bilder, die voller Farbe in meinem Kopf verweilten, zu verbannen.

Ich schloss die Augen, spürte Tränen an meinen Schläfen herunterlaufen.

Der Albtraum.

Immer und immer wieder.

Jos Seite des Bettes war leer.

Der Unfall war sechs Monate her. Ich würde niemanden aufwecken.

Und ich hielt meinen Schrei nicht länger zurück.