Die Norm

(2001)

 

Wie viele Jahre steckte sie nun schon hier drinnen? Wie viele Male war sie stets den gleichen Weg gegangen und hatte tiefe Furchen in den Boden gelaufen? So tief, dass sie über den Rand stolperte, falls sie daneben trat. Doch sie trat nie darüber.

Dieser Weg war ihre Bestimmung. Sie fühlte sich unwohl zwischen den Wänden, die ihr Leben bedeuteten; eingesperrt in einer Kammer, von den Maßen einer Streichholzschachtel, und doch groß genug, um all das hineinzupressen, was zu ihr gehörte. Es war nicht viel, nur das, was befolgt werden musste. Sie durfte nicht nach rechts, nicht nach links, weder nach oben noch nach unten schauen. Immer nur geradeaus, alles grau in grau in grau. So wie alle. Allezeit.

Doch sie wollte nicht mehr rennen, nicht mehr dem hinterher, dem alle nachliefen. Sie wollte ihren eigenen Weg gehen, wollte raus, wollte weg, weit weg und anders sein.

Wie? Anders.

Sie durfte nicht ausbrechen.

So rannte sie hin und her und fühlte sich von Tag zu Tag verlassener.

Wer war sie denn?

Sie war es, die Regeln vorschrieb, die von Anderen befolgt und eingehalten werden mussten. Sie sorgte dafür, dass alle auf dem rechten Weg gingen, nicht von diesem abwichen, weder die Geschwindigkeit noch die Farbe veränderten. Sie gab den Weg vor: ruhig, teilnahmslos, der Linie folgend, nicht nach oben oder auf den Boden sehend, nur geradeaus, hin und her, einheitlich grau in grau in grau in grau. Immer weiter. So war es richtig, so musste es sein, so wie alle.

Weiter.

Geradeaus.

Hin und her.

Grau in grau.

Doch sie wollte nicht mehr geradeaus und hin und her gehen, den Weg vorgeben. Sie wollte weg. Nur wie sollte sie aus ihrem Kästchen entkommen? Hier war sie eingesperrt, niemand ließ sie gehen. Mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand – und das war nicht viel – rüttelte sie an den Wänden ihres Gefängnisses. Sie konnte nicht schreien, denn sie hatte keine Stimme, sie hatte noch nie eine benötigt.

Also ging sie wieder, hin und her, geradeaus, so weit es ging und zurück.

Grau in grau, wie vorgegeben und wie es sein sollte.

Sie hasste es, hasste sich. Sie hatte kein Herz, und doch schien etwas in ihr zu pochen und zu wachsen. Etwas, das in ihr kämpfte, gegen das, was sie war, das hinaus wollte, das sich auflehnte, gegen… sie selbst? Nur gegen sie, denn sie gab das Leben vor.

Sie musste ausbrechen.

Eine Stimme wuchs in ihr heran, aber sie hatte keinen Atem, der einen Ton hätte hinausschleudern können. Sie rang mit sich, boxte gegen die Wände ihrer Behausung. Mit jedem Schlag wuchs ihre Kraft, mit jedem Hieb spürte sie etwas in sich, das stoßweise geboren wurde. Eine Stimme. Leise, ein sachtes Grummeln, das ein Gewitter ankündigte, dann lauter und stark, dass es zu einem Donnergrollen anschwoll.

Sie schrie! Niemand hörte sie, niemand befreite sie.

Sie rannte hin und her und hin und her, in grau, in ... und schlug auf die Barrieren ihres Gefängnisses ein, gegen ihr inneres Gesetz, gegen sich selbst. Sie schrie. Sie atmete. Etwas pochte in ihrer Brust, das neu und so schnell schlug wie das Herz eines Babys.

Es war nun nicht mehr grau in grau, aber auch noch nicht so, wie sie es zu haben wünschte. In ihrem Herzen keimte ein Gefühl. Sie wusste nicht, was es war. Denn sie kannte es nicht. Aber es gab ihr Stärke.

Darum rannte sie, stemmte, boxte, brüllte, kämpfte, bis sie erschöpft auf den Boden sank, gegen die Wand prallte und mit ihrem Gefängnis umkippte.

Es klackte und klickte, die Blockaden brachen auf. Sie war frei.

Frei!

Das Kämpfen hatte sich gelohnt. Vorsichtig richtete sie sich auf. Sie schaute starr geradeaus und ging geradeaus, grau in grau. So wie sie es kannte, wie sie es vorgegeben hatte. Doch sie wollte nicht mehr gehen, und darum blieb sie stehen! Sie sah sich um ... blickte nach links und rechts, schaute nach oben und nach unten.

Sie lachte! Sie hatte noch nie gelacht.

Sie weinte! Sie hatte noch nie geweint.

Sie tanzte! Sie hatte noch nie getanzt.

Sie hatte dies niemals zu hoffen gewagt. Hoffnung hatte sie noch nie verspürt.

Sie wich ab von ihrem Weg, von ihrer Bestimmung, rannte den schönen, bunten, duftigen Abenteuern entgegen, den Geräuschen; die sie noch nie vernommen hatte, den Farben, die ihr noch nie entgegengestrahlt und den Gerüchen, die sie noch nie gewittert hatte.

»Jetzt!«, schrie sie mit ihrer jungen, fröhlichen, neuen Stimme. »Jetzt ist die Norm ausgebrochen! Jetzt geht die Norm ihren eigenen Weg. Einen anderen, einen neuen Weg!«