Die Wahrheit über Mona Lisa

(2009)

 

»Jede Erkenntnis beginnt mit den Sinnen.«

 

Eine Frühlingsbrise wehte durch das geöffnete Fenster und brachte mit einem Rest winterlicher Kälte den alten Fischgestank vom Markt hinein. Leonardo erschauderte. Er blickte hoch und dem neugeborenen Tag entgegen. Die ersten Sonnenstrahlen dieses Jahres versetzten Florenz in ein Zwielicht, in das er mit zusammengekniffenen Augen sah. Wie so viele Nächte, hatte er auch diese gearbeitet. Allein. Nur die Stille an seiner Seite, die ihn inspirierte.

Kritisch betrachtete er die von der Natur geschaffene Landschaft vor seinem Fenster, dann die durch seine Hand entstandene auf dem dünnen Pappelholz, das vor ihm auf der Staffelei stand. Zwischen den ineinanderfließenden Flüssen und Wegen, plante er sie zu platzieren: Lisa del Giocondo.

Dass ihr Gatte Francesco auf einen kurzlebigen Untergrund bestanden hatte – Leonardo wählte üblicherweise Nussbaum –, stimmte ihn nicht traurig, er kannte die Menschen gut, ihren Geiz auf der einen und ihre Gier auf der anderen Seite. Sie verlangten nach einem Gemälde aus der Hand eines Könners, doch sie zahlten nicht für gutes Material, nur für gute Arbeit. Er hatte es aufgegeben zu erklären, dass beides für die Langlebigkeit der Gemälde zusammengehörte.

Erst vor Kurzem war Leonardo, in Trauer um seinen zu Tode gekommenen Freund Vito Luzza, nach Florenz zurückgekehrt. Auf der vergeblichen Suche nach technischen und wissenschaftlichen Herausforderungen hatte er dem Krieg zu nah in die Augen geblickt. So vielen Tyrannen hatte er gedient, ihre Mätressen malen, Kanäle und Brücken bauen oder ihnen als Gesprächspartner zur Verfügung stehen müssen. Er hatte kriegerische Mordtaten mit angesehen und fragwürdige Gesetze überlebt, er selbst war wegen seiner Liebe zu einem jungen Mann unberechtigter Weise angeklagt worden – Leonardo wischte sich über die Stirn und hinterließ dort einen grünen Farbspritzer –, ein Kapitel seines Lebens, das er vergessen wollte.

Er war des Reisens müde und spürte eine Trägheit, den Menschen vergebens seine Erkenntnisse und wissenschaftlichen Ergebnisse darzulegen. Sie wussten sie nicht zu schätzen. Seine ihn bewundernden Schüler ertrug er nicht länger. Und die Belobigungen, ausgesprochen von den großen Herrschern, erdrückten ihn, dienten deren Worte doch nur dazu, ihn zu ermutigen, weitere Kriegsmaschinen für sie zu bauen und ihnen noch mehr Macht zu verschaffen.

 

»Auf der Erde wird man Geschöpfe sich unaufhörlich bekämpfen sehen, mit sehr schweren Verlusten und zahlreichen Toten auf beiden Seiten. Ihre Arglist kennt keine Grenzen.«

 

Seine Erfindungen sollten nicht dazu dienen, Menschen zu töten, den Reichen mehr Wohlstand zu schenken und die Armen der Hungersnot auszusetzen. Aber das, so fürchtete Leonardo, würde sich niemals ändern.

Dabei waren sie alle gleich, wenn sie aus dem Schoß der Mutter geboren wurden und sobald sie dem Tod mit glasigem Blick ins Angesicht starrten. Als junger Mann hatte er sie studiert, die Armen wie die Reichen. Er hatte Bettler beobachtet und Deformierte erforscht, die Hospitäler besucht, den Alten und Kranken beim Sterben zugesehen. Ihre Mimik behielt er sich im Gedächtnis, ihre Augen, ihren letzten Atemzug. Er hatte über dreißig der toten, blassen Körper seziert und das Innere eines Menschen analysiert.

 

»Der Mensch ist das Modell der Welt.«

 

Leonardo kratzte sich seinen Bart, legte den Kopf schief und dachte nach. Das Denken zählte er zu der Prämisse eines Herrschers, Wissenschaftlers und Malers. Doch die wenigsten besaßen diesen Anspruch, noch beherrschten sie ihr Handwerk.

Das zaghafte Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

Mit einem lauten »Bitte!« rief er den Gast hinein.

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Lisa del Giocondo schob sich, den Blick gesenkt, in das Atelier. Leonardo eilte auf sie zu, verbeugte sich, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.

Sie lächelte.

Er behielt ihre Hand in seiner. Sie fühlte sich aufgeschwemmt an, und zu wulstig für ihre zartgliedrigen Finger. Bevor er Lisa zu ihrem Platz führte, betrachtete Leonardo ihr Gesicht.

 

»Male das Gesicht dergestalt, das leicht zu begreifen ist, was im Geiste vorgeht.«

 

Das Haar, von der Mitte gescheitelt, dunkelbraun, fast schwarz, bedeckt mit schwarzer Spitze. Ihre gerade Nase wirkte ein bisschen zu dick zwischen den hohen Wangenknochen. Er griff unter ihr rundes, wohlgeformtes Kinn und drehte ihren Kopf vorsichtig nach links – jede Hautpore sog er in sein Gedächtnis – und nach rechts. Mit Entzücken entdeckte er das kleine Grübchen an ihrem Hals. Dann erst lenkte er seine Aufmerksamkeit auf ihren Mund, die schmalen blassen Lippen.

Ihr Lächeln. Verzaubernd.

Ihre Augen. Mandelförmig, dunkelbraun.

 

»Wie viel Schönheit empfängt das Herz durch die Augen?«

 

Sie hatte ein Kind geboren, ein zweites trug sie unter ihrem Herzen. Eine Mutter.

Die seine hatte er nie kennen lernen dürfen. Sein Vater hatte ihn zu sich genommen, Gerüchten zufolge, weil seine Mutter zu jung und vom gewöhnlichen Volke gewesen sein sollte. Doch das wäre ihm einerlei gewesen. Leonardo hatte sie vermisst und sehnte sich noch heute nach mütterlicher Wärme, obwohl es ihm nie an familiärer Zuneigung gemangelt hatte. Darum war er nach Florenz zurückgekehrt, er hoffte hier seine Wurzeln, die verborgen in Gassen und zwischen eng gesetzten Häusern wucherten, verfolgen zu können – und die in den letzten Jahren verloren gegangene Geborgenheit wieder zu finden. Sicherlich, er hätte nach Vinci gehen können, seinen Geburtstort und die Stadt, die ihm seinen Namen gegeben hatte, dort hätte er vielleicht seine Mutter treffen können. Vielleicht. Doch er glaubte, nur in Florenz die nötige Inspiration und Kraft zu erhalten, die er bei seiner Suche benötigte, nicht zuletzt des Geldes wegen.

Nie grollte er seinem Vater, obwohl er ihm die Mutter vorenthalten hatte – all die Jahre. Hatte er ihm doch ein liebevolles Heim gegeben, und er war es auch gewesen, der ihn zu Andrea del Verrocchio gebracht hatte – der fortan Leonardo in Malerei und Bildhauerei ausgebildet und ihn gefördert hatte, denn als uneheliches Kind durfte er keine Schule besuchen. Hätte sein Vater Leonardos Talent nicht erkannt, säße er heute nicht hier in diesem Atelier und dürfte auch nicht die Frau eines reichen Mannes malen.

 

Er führte Lisa zu einem Stuhl, Anweisungen benötigte sie nicht. Zwischen ihnen herrschte ein stilles Übereinkommen, beinahe wie das blinde Verstehen zweier Liebender. Mit dem linken Arm stützte sich Lisa auf die Lehne und legte die rechte Hand über das linke Handgelenk. Sie saß perfekt. Noch eine Weile betrachtete er die junge Frau – die Mutter – und wie so oft verliebte er sich in sein Modell, das, ohne es selbst zu wollen oder zu wissen, sich zu seiner Muse entwickelte.

Seine tiefe Zuneigung endete, sobald er den Auftrag beendet hatte.

Leonardo führte den ersten Pinselstrich aus.

 

Unzählige würden folgen, an diesem Tag und noch viele Wochen, Monate und Jahre darauf. Meist ließ sich Leonardo dabei von Musik inspirieren. Seine anfängliche Verliebtheit verwandelte sich in Besessenheit, wie sie ihn bei keinem Gemälde je zuvor überfallen hatte. Er arbeitete ununterbrochen daran, auch des Nachts.

Mehr und mehr stellte er fest, dass das Porträt Lisa nur noch in Teilen glich. So konnte er das Gemälde keinesfalls abliefern. Lisas Gatten und somit seinem Kunden Francesco del Giocondo gab er vor, einen anderen Auftrag vorrangig behandeln zu müssen. Er sagte Termine mit Lisa ab und hoffte darauf, dass Francesco del Giocondo den Auftrag vergessen mochte.

Wiederholt korrigierte er das Porträt, doch die Frau auf dem Bild hatte ihren eigenen Willen.

Noch schien Leonardo nicht zur Fertigstellung des Gemäldes bereit. Viele seiner Werke stapelten sich unvollendet, doch dieses hier ließ ihn nicht los. Der Hang zum Perfektionismus brachte ihn fast um den Verstand. Leonardo vergaß den ursprünglichen Antrieb, den Auftrag, das Geld. Und suchte die tiefere Bedeutung, die das Porträt, das Lisa del Giocondo hätte werden sollen, für ihn darstellte. Doch er widerstand dem Drang, weiter daran zu arbeiten, stellte das Porträt fort und verhängte es mit einem Laken, auf dass es ihn nicht mehr belästigen mochte.

Er musste sich auf den Ratssaal des Palazzo della Signoria konzentrieren, dessen Wände er zusammen mit seinem Konkurrenten Michelangelo bemalen sollte. Doch Leonardo ertappte sich dabei, dass er in den Nächten von dem Porträt träumte, welches Lisa del Giocondos Antlitz zeigen sollte. Nur am Tage gelang es ihm, seine Gedanken davon abzulenken und somit schlief er noch weniger, was an seinem Körper zehrte und ihn früher altern ließ. Er ignorierte seine Gebrechen und stürzte sich in die Suche nach einer neuen Maltechnik, nicht zuletzt – das wusste er – weil seine Gedanken nur darum kreisten, das Porträt der namenlosen Frau zu vollenden.

Seine Besessenheit raubte ihm die Zeit, an den Wänden des Palazzo zu malen und Michelangelo beendete das angestrebte Werk allein. Doch Leonardo spürte Gleichgültigkeit darüber, seinem Konkurrenten den Auftrag überlassen zu haben.

 

Als er von einem Besuch von Isabella d’Este zurückkehrte, die ihn darum gebeten hatte, Christus in jungen Jahren zu malen, lauschte er dem Gespräch zweier Bauern, die ihr Vieh durch die Gassen trieben.

»Sie bewunderte ihn bis zuletzt, liebte ihn«, sagte der eine. »Ein großer Künstler, dieser Leonardo«, antwortete der andere.

Er wollte sich abwenden, doch eine alte Frau, die einen Holzwagen hinter sich herzog, versperrte ihm den Weg. Und Leonardo hörte die weiteren Worte mit. »So soll es sein. Sie starb in alten Laken, der Sohn ein angesehener Mann. Sehr schade um die Frau.«

Seine Mutter? Gestorben? Leonardo lehnte sich an eine Hauswand, Schwindel drängte ihn in die Knie, seine Brust schnürte sich zu und er spürte eine Trauer in sich aufsteigen. Tränen rannen an seinen Wangen hinab. Der große Meister weinte. Er weinte um die Frau, die ihn gebar und die gestorben war, ohne dass sie sich jemals kennengelernt hatten. Seine Sehnsucht lag nun in einem ihm unbekannten Grab. Nur schwerfällig stemmte er sich vom kalten Boden auf und kehrte in sein Atelier zurück.

Mit Schwung zog er das Laken hoch, warf es in eine Ecke und betrachtete das in seinen Augen unfertige Gemälde Lisa del Giocondos. Leonardo wusste nun, was er darin zu sehen hoffte, aber durch den Pinselstrich nicht auszudrücken vermochte.

Bis jetzt.

Er setzte sich an seinen mit Papieren und Skizzen übersäten Schreibtisch und griff zum Stift. Bevor er zu zeichnen begann, ließ er sich von seinem Atelier inspirieren.

In der vergangenen Woche hatte Leonardo vergessen, das Fenster zu schließen, der daraufhin einsetzende Regen hatte die obere Reihe der unter dem Fenster aufgestapelten Skizzenbücher aufquellen lassen. Er zuckte mit den Schultern und nahm es mit Wohlwollen anstatt mit Ärger über seine Fehlbarkeit. Ringsherum standen und lagen Gips- und Holzplatten, teils noch jungfräulich, andere nur zur Hälfte bemalt; zerknülltes Papier bedeckte den Boden – so vieles, das er begonnen, nie beendet hatte, und nicht mehr zum Ende bringen sollte.

 

»Nichts Hohes erreicht ein Künstler, der nicht an sich selber zweifelt.«

 

Dieser Raum war ausgefüllt mit seiner Kreativität – gelebt auf Papieren, Bildern, Manuskripten, Büchern und Modellen.

Als er glaubte, alles um sich herum, auch das Vergessene, wie Sauerstoff in sich aufgenommen zu haben, zog er eine Schublade auf und einen goldgerahmten Handspiegel hervor, dessen Verwendung er bis heute als nutzlos erachtet hatte.

Er starrte sein Ebenbild an und nickte sich zu. Den Spiegel legte er links von sich auf den Tisch und schob dafür ein paar Skizzenbücher so weit zur Seite, dass sie von der Tischkante fielen und zu Boden polterten.

Doch Leonardo lächelte, drehte sich zu seinem Gemälde um, dem er noch einen Namen geben musste, aber vermutlich nie den passenden finden würde. Dann zeichnete er.

Sich selbst.

 

Als er sein Selbstporträt nicht als gelungen, aber als für seinen Zweck brauchbar erachtete, schlief er, den Rest des Tages, die ganze Nacht und den nachfolgenden Tag, bis der Vollmond ins Zimmer leuchtete.

Leonardo wusste, diese Nacht würde es sich entscheiden. Vorher stärkte er sich an einer reichhaltigen Mahlzeit.

Sein Herz raste im Rhythmus seines Pulses – oh, er liebte dieses Gefühl der schlagenden Einheit, die durch seinen Körper pochte.

Noch einmal blickte er in den Spiegel. Er lächelte wieder. Verschmitzt, spitzbübisch, heiter und glücklich, doch auch voller Schmerz und Sehnsucht. Sein Gesicht erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen.

Diesen Zwiespalt wollte er in sein Gemälde, seinen innigsten Schatz, sein Werk, einbringen; flossen die Wege und Seen zu Beginn noch einheitlich über das Bild, veränderte er nun den Hintergrund auf der rechten Seite – farblich stimmig, geografisch surreal. Er arbeitete wie im Rausch. Tagelang. Zum Vergleich blickte er auf sein skizziertes Selbstporträt. Das namenlose Bild wurde zu seiner Profession all seiner Kunst. Das Meisterwerk.

 

»Das Schöne, das sterblich ist, vergeht, aber nicht das Kunstwerk.«

 

Für die Menschheit sollte dieses Bild ein Rätsel und sein geheimnisvolles Vermächtnis sein. Nie würde er es aus den Händen geben und es bis zu seinem Tod bei sich tragen. Jeder glaubte, er hätte Lisa del Giocondo porträtiert, doch vor seinen eigenen Augen sah er sie: seine Mutter.

Auf ihrem Herzen ließ er einen Sonnenstrahl erscheinen. Dort, hoffte er, einen Platz als ihr Sohn innegehabt zu haben.

Mona Lisa