Der Krammetsvogel

(2008)

 

17. Oktober 1554

 

Äste zerrten an Josefs Kleidern, als seien sie die Verbündeten seiner Verfolger. Dornen zerkratzten ihm Gesicht und Hände. Er hatte den Wald des Bergischen Landes immer geliebt, nun schien jeder Baum, jeder Strauch, jedes Geäst mit seinen Feinden zu sympathisieren und ihn ausliefern zu wollen.

Er strauchelte, fing sich und rannte weiter. Josef lief viel zu schnell, aber er durfte nicht langsamer werden.

Jegliche Strecken während seiner Botengänge bewältigte er im Laufschritt, ohne aus der Puste zu kommen. Diesmal war es anders, er hetzte wie ein ängstliches Tier zwischen den Bäumen hindurch, auf der Suche nach einem Unterschlupf, einer Höhle, in der er sich verstecken konnte. Stolperte er oder schlug mit dem Kopf gegen einen tiefhängenden Ast, würden sie ihn erwischen. Er blickte sich nicht um, denn er vernahm ihre Drohungen und ihr Gelächter, als seien sie sich ihrer Beute gewiss, er hörte das Rascheln des Laubs und das Knacken der Äste, die unter ihren Füßen zerbrachen. Es waren zwei Männer, die ihm aufgelauert, ihn mit Stöcken und Steinen beworfen hatten und nun jagten wie ein Kaninchen, das sie zum Abendessen verspeisen wollten.

Der Umschlag in seinem Felleisen, den er zum Geschmeidler Heinrich bringen musste, wog schwer und Josef wusste, dass die Wegelagerer es auf dessen Inhalt abgesehen hatten.

Meist brachte er Gold und Schmuck einher oder Bares, oft nur ein wichtiges Schreiben, das er von einem Ort in den nächsten trug – schnell, aber noch nie so schnell wie er nun vor den Männern wegrannte. Er hatte Angst. Würden sie ihn verschonen, wenn er ihnen den Umschlag freiwillig gab?

Über seinem Kopf hörte er das vertraute Rufen seiner Freunde. Tschack-tschack-tschack.

Aber die Krammetsvögel hatten ihn zu spät gewarnt.

Hätte er sich früher von Lena losgerissen, dann wären ihm die Männer vielleicht nie begegnet. Doch es fiel ihm jeden Tag schwerer Lena zu verlassen, ihr Bauch, in dem ihr gemeinsames Kind heranwuchs, wölbte sich zusehends – auch wenn er nur einen oder zwei Tage unterwegs gewesen war, glaubte er eine Veränderung auszumachen. Und er fürchtete, bei der Geburt nicht da zu sein.

Josef musste seine Botengänge erledigen, er brauchte den Lohn, um Lena und sich selbst zu ernähren – und bald auch ihr Kind. Oft erhielt er ein Stück Dörrfleisch, einen Laib Brot, einen Korb voll Beeren oder einen Taler. Wenn der Weg besonders lang gewesen war, durfte er auch einen Teller Kohlsuppe mit den Familien am Tisch essen. Doch er aß immer nur die Hälfte und verwahrte den Rest für Lena in einem kleinen Gefäß in seiner Brottasche auf. Sie hatten nicht viel und teilten sich alles, und sei es noch so wenig. Nur Krammetsvögel nahm er nie an.

Schon als Junge war er durch die Wälder gestrolcht und hatte die Vögel beobachtet, und die bunt gefiederten Drosseln, die als Hauptnahrung in den Dörfern galten, waren ihm die liebsten. Ihre Laute spendeten ihm Trost, stundenlang konnte er ihnen zuhören. Obwohl das tschack-tschack-tschack für jeden Anderen gleich klang, hörte Josef mit der Zeit den Unterschied zwischen fröhlichem, ängstlichem und warnendem Gesang heraus. Und so wie er mit Lena die Mahlzeiten teilte, gab er auch ihnen von seinem Brot oder den Beeren ab. Auch nur einen der Vögel zu verspeisen, wäre ihm wie Verrat an seinen Freunden und an Lena vorgekommen. Denn Schwanz und Flügel hatten dieselbe schwarzblaue Farbe wie Lenas Haare, und ähnlich der Krammetsvögel schwarz-weiß gescheckten Bäuche, durchzogen weiß-blonde Strähnen Lenas Haar, die in der Sonne so stark glänzten, dass er glaubte, sie hätten das Blätterwerk des Waldes durchbrochen, als er sie das erste Mal sah. Natürlich war es nur die Kette gewesen, die sie um den Hals trug und von der die Sonnenstrahlen reflektiert wurden. Aber für einen verliebten Burschen, und er hatte sich auf der Stelle in sie verliebt, war die Wahrheit nicht romantisch genug.

 

Er könnte zu ihr laufen, jetzt, sich dort in Sicherheit wiegen. Doch dann wäre er nie mehr in der Lage von zuhause wegzugehen, denn er wüsste, dass sein ihm Liebstes in ständiger Gefahr schwebe, sobald seine Verfolger herausbekämen, wo er sich verkrochen hatte. Nein, er musste weiter rennen, quer durch den Wald und auf Hilfe hoffen. Ein Schmetterling flatterte an ihm vorbei und verschwand in einer hohlen Eiche, wo er sich auf den Winter vorbereitete. Josef war zu groß, um ihm zu folgen.

 

Lena hatte an einer Eiche gelehnt und ein Lied gesummt, als er sie das erste Mal traf. Ein Schmetterling hatte auf ihrer rechten Hand gesessen.

Erschrocken brach sie ab, als sie Josef näher kommen hörte.

»Lass dich nicht stören«, sagte er rasch. »Darf ich?«, und zeigte auf einen Baumstamm ein Stück von ihr entfernt. Sie nickte nicht, sondern runzelte die Stirn und beäugte ihn misstrauisch. Als der Schmetterling wegflog, sah sie ihm traurig hinterher.

Er packte das Dörrfleisch aus, riss es in der Mitte durch und reichte dem schönen Mädchen eine Hälfte. Als sie zögerte, lächelte er: »Es ist gut!«

Zaghaft nahm sie den Streifen entgegen und verschlang ihn in aller Eile, als befürchte sie, er würde ihr das Fleisch wieder wegnehmen. Josef hatte seins noch nicht einmal zur Hälfte gegessen, darum gab er ihr den Rest auch noch.

Anschließend teilte er das Brot mit ihr. Aus seiner Jackentasche nahm er ein paar Beeren, die er auf dem Weg gepflückt hatte, und legte sie behutsam auf sein Hosenbein. Es dauerte nicht lange, da kamen die Krammetsvögel und pickten die Beeren auf. Als Dankeschön hatten sie ihre Mahlzeit mit einem freudig klingenden

Tschack-tschack-tschack untermalt.

 

Jetzt klang ihr Gesang nicht freudig, sie waren aufgebracht und Josef hörte das Fluchen seiner Verfolger, die sich gegen den Kot wehrten, den die Krammetsvögel auf seine und somit ihre Feinde spritzten.

»Bleib stehen! Wir kriegen dich sowieso«, schrie der eine, und der andere ergänzte: »Wenn nicht jetzt, dann später.«

»Wir wollen doch nur in dein Felleisen gucken.« Die Männer lachten und Josef ahnte, dass die Wegelagerer ihn nicht davon kommen lassen würden. Er lief, als sei der Teufel hinter ihm her, sprang über Büsche, schlug Äste zur Seite, duckte sich unter tiefhängendes Geäst, rannte. Als sich ein Riemen seines Felleisens in einem dornigen Gestrüpp verfing, setzte sein Herz für einen Moment aus. Gleich würden sie ihn packen. Josef zerrte an seinem Rucksack, doch die Dornen drangen tief in das Leder ein und gaben ihn nicht frei. Zum ersten Mal sah Josef seinen Verfolgern ins Gesicht.

Sie blieben stehen, als seien sie sicher, endlich ihr Ziel erreicht zu haben. Es mussten Fremde sein, denn er war ihnen noch nie zuvor begegnet. Vielleicht gingen sie zum Krammetsvogelessen – ein Fest, das er all die Jahre gemieden hatte. Viele Besucher aus den umliegenden Orten strömten dorthin.

Die beiden Männer sahen wie Vagabunden aus, ihre Kleidung war schmutzig. Beide hatten braune Haare, das des Kleineren war lockig. Ihr Gesicht drückte Überraschung und gleichzeitig Freude aus. Doch ihre grünen Augen starrten ihm erbarmungslos und gierig entgegen.

 

Lenas Augen waren blau und strahlten Warmherzigkeit und Liebe aus. Oh, wie er sie vermisste in diesem Augenblick. So stark, dass es ihm das Herz zerreißen wollte. Es raste schneller als er vorher gerannt war. Mit einem letzten, kräftigen Ruck versuchte er, das Felleisen an sich zu reißen. Vergebens. Der Brief! Er musste ihn dem Geschmeidler Heinrich übergeben. Doch sein Leben war ihm mehr wert als jeglicher Verdienst und mehr noch als sein Ruf, der zuverlässigste Bote im Bergischen Land zu sein. Josef ließ Brief und Felleisen zurück und floh.

Vielleicht würden sie von ihm lassen, wenn sie ihre Beute hatten. Josef blieb nicht stehen, um sich davon zu überzeugen. Die Krammetsvögel – tschack-tschack-tschack –

trieben ihn an. Er durfte nicht langsamer werden. Er durchquerte eine Lichtung, schutzlos, für seine Verfolger sichtbar und das geeignete Ziel, um ihn erneut mit Steinen zu attackieren.

 

Die Hütte, in der Lena viele Jahre lang alleine gelebt hatte, stand am Ende einer solchen Lichtung, dicht gedrängt am Waldrand kuschelte sie sich in die Arme der Fichten. Im Sommer wärmte die Sonne das Holz so stark auf, dass die Hitze darin kaum auszuhalten war, im Winter konnte das offene Feuer die Kälte nicht vertreiben. Lenas Eltern waren am Fieber gestorben, als sie nur zehn Jahre alt gewesen war. Sie hatte den Kontakt zu Nachbarn gemieden und sich all die Jahre alleine durchgeschlagen – bis Josef sie im Wald getroffen hatte.

Er reichte ihr ein paar Beeren, damit auch sie die Krammetsvögel füttern konnte. Sie kicherte und lachte, als die Drosseln ihr die kleinen Früchte aus den Händen pickten. Von diesem Moment an ließ Josef sie nur noch allein, wenn er seine Botengänge erledigen musste. Er zog in ihre kleine Hütte und fortan schien für ihn jeden Tag die Sonne, auch wenn der Regen durchs Dach tropfte. Welches Wetter sie auch hatten, der Gesang der Krammetsvögel weckte sie am Morgen und geleitete sie zu Bett. Obwohl sie nie viel zu essen hatten, streute Lena jeden Tag eine Handvoll Beeren auf das Fenstersims und teilte die Mahlzeit mit ihnen. Die Krammetsvögel hielten sich gerne rund um die Hütte auf und warnten sie vor Strolchen oder wilden Tieren.

Josef brachte schon viele Jahre Geld und Gold von einem Ort zum anderen, doch alle Schätze, die er mit sich getragen hatte, besaßen keinerlei Wert, denn der größte, unbezahlbare Schatz war Lena, die er zuhause zurücklassen musste. Wenn er unterwegs war, sehnte er sich nach ihr und hoffte, sie bald wieder zu sehen.

Er rannte.

 

Josef hoffte zu früh. Er hörte die Freudenschreie, als die Männer den Inhalt seines Felleisens an sich brachten. Doch das Geld reichte ihnen nicht. Sie nahmen die Verfolgung wieder auf, riefen nach ihm, lachten spöttisch, jagten ihn kreuz und quer durch den Wald. Seine Kraft ließ nach. Was trieb die Männer nur an? Sie hatten doch jetzt alles, was er ihnen geben konnte. Entgegen seiner Vorsätze drehte sich Josef um. Er hatte einen guten Vorsprung, er konnte es schaffen. Doch während er nach den Dieben Ausschau hielt, übersah er den Baum, den der letzte Sturm umgeworfen hatte. Mit Wucht prallte Josef dagegen, kippte vornüber und landete im Laub.

 

Lena, wie er sie das erste Mal geküsst hatte, im Laub liegend, das unter ihrem Körper knisterte – nicht so stark wie die Luft um sie herum. Wie er sie liebte.

 

Josef sprang auf, sein Knie schmerzte, seine Hände bluteten. Er achtete nicht auf die lauter werdenden Rufe.

Das tschack-tschack-tschack der Krammetsvögel schwoll bedrohlich an. Sie warnten ihn, sie riefen ihm zu, er solle rennen. Und er rannte. Überrascht stellte er fest, dass er weinte. Mit von Harz und Moos beschmutzten und von Dornen zerkratzten und blutenden Händen wischte er sich durchs Gesicht. Sein Herz verkrampfte sich, die Not beutelte ihn.

Lena, werde ich dich je wiedersehen?

 

Sie neigte den Kopf immer ein bisschen zur Seite, wenn sie ihn zum Abschied anlächelte und ihm zuwinkte. Heute hatte sie nicht nur gewunken, sondern die andere Hand auf ihrem Bauch liegen gehabt und gelacht, als er schon ein Stück entfernt war. Josef hatte sich umgedreht und sie hatte ihm zugerufen: »Es tritt, unser Baby tritt so fest, als wolle es bald heraus. Beeile dich!« Ihr Lachen hatte ihn den Weg über begleitet und ihn beschwingt, aber auch mit Sorge weiter gehen lassen, denn er wollte zurück sein, bevor das Baby kam.

 

»Jetzt haben wir dich!«

Er spürte eine Hand, die seine Jacke streifte. Die Wegelagerer hatten ihn erreicht. Wie hatten sie das geschafft? Er war nicht stehen geblieben, aber langsamer geworden. Die Erschöpfung legte sich über seine Glieder, noch einmal zog er an und rannte so schnell ihn die Füße trugen. Er hatte nur ein Ziel vor Augen. Lena.

Das tschack-tschack-tschack seiner Verbündeten begleitete ihn. Sie waren aufgebracht, wütend und in Sorge um ihren Freund.

Diesmal erkannte Josef den Baumstamm früh genug, er sprang darüber. Doch er knickte mit dem Fuß um, schrie vor Schmerz und Überraschung auf – hinter dem Stamm lag ein totes Kitz. Beinahe wäre er darauf gefallen. Er ahnte, dass er bald ebenso dort liegen würde – mit verdrehtem Hals, die Augen starr in den Himmel gerichtet.

Er humpelte stark und kam noch langsamer voran. Die Schmerzen waren unerträglich. Schlimmer die Angst, die Gewissheit, dass sie so lange nicht von ihm lassen würden, bis er nicht mehr fähig war, sie zu verraten.

Tschack-tschack-tschack.

Josef wünschte sich Flügel.

Tschack-tschack-tschack.

Flügel, mit denen er empor fliegen und dieser Hetzjagd entkommen könnte.

Oh, ihr Krammetsvögel, helft mir doch! Aber sie waren machtlos gegen die Gier und den Hass der Männer, die Josef verfolgten.

Sie kreischten, warnten den Wald und hofften auf Rettung.

Tschack-tschack-tschack.

Josef schrie um Hilfe – aber niemand kam und stand ihm zur Seite.

Der Schmerz in seinem Fuß zog sich über die gesamte rechte Körperseite, aber er lief weiter. Sie kamen näher. Bliebe er jetzt stehen, welche Chance ließen sie ihm?

Ein Sonnenstrahl stahl sich durch das Blätterdach des Waldes und strich über sein Gesicht. Hoffnung.

 

Die Sonne hatte durchs Fenster geschienen, als Lena ihm mitteilte, sie sei guter Hoffnung. Ein halbes Jahr war dies nun her, es war eine schöne Zeit, in der ihr Leib praller und Lena jeden Tag schöner wurde. Doch seine Sorge um sie wuchs von Tag zu Tag. Wenn er doch nur immer bei ihr bleiben könnte.

 

Mit einem Aufschrei stürzte Josef zu Boden, ein Stein hatte ihn zwischen den Schulterblättern getroffen.

Tschack-tschack-tschack.

Die Krammetsvögel kreischten vor Wut und Angst und warfen ihren Kot auf die Übeltäter ab, doch die ließen sich von ihrem Plan nicht abbringen, sie fluchten nur und reckten ihre Fäuste gen Himmel. »Zu euch kommen wir später. Ihr werdet verspeist, einer nach dem anderen.« Der Größere lachte. »Und nun zu dir!« Er riss Josef wieder auf die Beine, dabei kam er so unglücklich auf seinem verletzten Fuß auf, dass ihm die Tränen in die Augen schossen.

»Ihr habt doch das Geld, lasst mich gehen!«, flehte er.

»Damit du uns an die Kellnerei verrätst?« Der Mann lachte.  Er warf Josef in den Dreck wie einen abgenagten Knochen und trat ihm in die Seite.

Josef krümmte sich, wollte nicht schreien, wollte den Männern diese Genugtuung nicht geben und biss die Zähne zusammen. Doch gegen die Tränen, die über sein Gesicht liefen, konnte er nichts anrichten.

»Och, sieh mal«, wie Wölfe schlichen sie um ihn herum. »Er heult. Du hast auch allen Grund dazu.«

Der Größere trat Josef mit der Schuhspitze in den Rücken. »Schämen solltest du dich, schämen, dass du für das reiche Pack arbeitest.«

»Genau«, meinte der Kleinere und stupste Josef mit einem Fuß an, als wolle er ausprobieren, ob er noch lebte. Es mussten Brüder sein. Sie sahen sich ähnlich.

»Auf mit dir!«, forderte der Größere.

Josef blieb liegen, Bauch und Rücken schmerzten so stark, dass er nicht wusste, wie er hätte stehen sollen.

»Hoch mit dir, habe ich gesagt!« Gewaltsam zerrte er Josef auf die Beine. »Ich will dir in die Augen sehen.«

Josef schloss die Augen. Ein Reflex. Aber sein Gegenüber sah darin einen Widerstand und schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. »Sieh mich an!«

Josef folgte. Doch er sah durch den Mann hindurch, er wollte ihn nicht in Erinnerung behalten, wenn sein letztes Stündlein geschlagen hatte – und er ahnte, dass diese Stunde längst fortgeschritten war. Vielmehr wollte er Lenas Antlitz bewahren. Nur an sie dachte er!

Die beiden Männer umkreisten. Josef sah sie nicht an, er starrte geradeaus. Dann hieb der größere, der von Nahem betrachtet der Jüngere zu sein schien, mit einem kräftigen Schlag gegen Josefs Schulter. Josef wankte und fiel direkt in die Arme des Kleineren, der ihn zurückschubste. Sie hieben und boxten auf ihn ein, sodass Josef hin und her geschubst wurde.

Die Männer lachten. »Ein Tänzchen gefällig?«

 

So oft hatte er mit Lena bei Sonnenuntergang auf ihrer Lichtung getanzt – zu wenig, wie sich jetzt herausstellte. Viel zu wenig.

Oh, Lena! Wäre er doch niemals von ihr gegangen.

 

Josef spürte einen Schlag in den Magen – er krümmte sich unter Schmerzen zusammen. Es folgte ein Tritt in die Lenden und ein Boxhieb in die Nieren. Er ging zu Boden.

Bei alldem gab er keinen Ton von sich.

»Schrei endlich!« Einer der beiden Männer – Josef hatte es aufgegeben, sie auseinanderzuhalten, sie hatten für ihn keine Gesichter mehr, sie waren nur noch bösartige Schatten, die ihn verfolgten – trat mit so viel Wut zu, dass Josef sich auf die Zunge biss, um den Schrei zu unterdrücken. Er schmeckte Blut.

Tiraden von Beschimpfungen prasselten auf ihn hernieder, begleitet von Tritten und Schlägen. Längst war er nicht mehr fähig zu schreien. Sie würden ihn töten.

 

Es fiel ihm jeden Tag schwerer, Lena zu verlassen.

Nun würde er sie nie wieder sehen.

Nie wieder in ihre blauen Augen sehen, über ihr Haar streicheln, mit ihr auf der Lichtung tanzen – und er würde nicht bei der Geburt ihres Kindes dabei sein.

 

»Das ist dafür, dass du mehr hattest als wir.«

Sie hatten nie viel, aber sie teilten alles miteinander.

Sein Körper war nur noch eine schmerzende, breiige Masse.

Und als er glaubte, der Schmerz tötete ihn – Lenas Gesicht schwebte wie ein Geist über ihm – hob einer der Männer einen großen Stein auf.

 

Tschack-tschack-tschack.

Die Krammetsvögel kreischten. Sie hackten mit ihren Schnäbeln auf die Männer ein, doch die ließen sich von ihrem Plan nicht abbringen.

»Flieht!«, schrie Josef. Sie sollten nicht sterben müssen.

Die Krammetsvögel waren seine Freunde.

Mit letzter Kraft rief er: »Ihr Krammetsvögel, seht das Leid!«, er spie Blut und röchelte. »Seht das Unrecht, das mir angetan.« Dann hustete er. »Seid meine Zeugen. Rächt meinen Tod.«

Und leise, sodass nur er selbst es hörte: »Lena.« »Halts Maul!« Der Größere trat ihn mit dem Stiefel ins Gesicht. Sein Bruder schlug Josef mit dem Stein auf den Schädel. Einmal, zweimal … -------------------------

 

Das tschack-tschack-tschack der Krammetsvögel ging in ein nicht enden wollendes Wehklagen über. Steine flogen durch die Lüfte, doch die beiden Männer trafen keine der Drosseln, die in sicherer Entfernung auf etwas zu warten schienen.

Die Männer wandten sich lachend von ihrer Tat ab, das Geld in der Tasche und die Gier gestillt, nun trollten sie sich und machten sich auf den Weg zum großen Krammetsvogelessen, wo sie das Geld des Geschmeidlers Heinrich ausgeben würden, für das Josef elendig hatte sterben müssen.

Die Männer blickten nicht einmal zurück.

 

Es war nur ein Lüftchen, Josefs letzter Atem, der emporstieg zu den Krammetsvögeln. Eine weitere bunt gefiederte Drossel hatte sich zu dem wartenden Schwarm gesellt.

Leise und traurig begrüßten sie ihr neues Mitglied, während sie den Ort verließen, um ihre Aufgabe zu erledigen.

Sie flogen nach Bergisch Born – dorthin wo ihre Artgenossen knusprig gebraten auf den Tellern der zahlreichen Gäste lagen, doch sie scheuten nicht den Ort. Die Rache trieb sie an.

Tschack-tschack-tschack.

 

Keine zwei Stunden später verspeisten die beiden Mörder zahlreiche gebratene Vögel. Und während der Größere genüsslich das Fleisch vom Knochen zupfte, flüsterte er seinem Bruder zu: »Die verraten uns nicht mehr.«

Der Kleinere lachte und sagte ein bisschen zu laut: »Und die Leiche werden sie auch keinem mehr zeigen.«

»Benötigen Sie noch etwas?«, fragte der Wirt, er hatte die Worte der Männer vernommen, und er ahnte nichts Gutes.

Als wollte der Himmel seine Vermutung unterstreichen, schwoll ein lautes Rauschen an, und die Luft vibrierte: Hunderte von lebenden Krammetsvögeln suchten das jährliche Fest heim.

Tschack-tschack-tschack.

Sie griffen nicht alle Besucher an, sie attackierten nur die beiden Männer, die Josef für ein bisschen Bares getötet hatten und nicht von ihm ließen, als sie das Geld schon hatten. Der Wirt, ein gläubiger Mann, sah darin ein Zeichen Gottes und schickte seinen Burschen zur Kellnerei.

Erst als die Männer, das Gesicht blutüberströmt und mit Kot bespritzt, schrien: »Ja, wir waren es, wir haben den Boten getötet!« und daraufhin festgenommen wurden, ließen die rachsüchtigen Vögel von ihnen ab. Doch sie flogen nicht von dannen, sondern wiesen den Versammelten den Weg zu Josefs Leichnam, sodass er eine würdige Ruhestätte bekam und ihm ewig gedacht wurde.

 

Nur einer der Krammetsvögel war zurückgeblieben und hatte einen anderen Weg gewählt. Er war zu Lenas Hütte geflogen, hatte sich auf das Fenstersims gesetzt und an den Beeren herumgepickt, die für ihn und seine Freunde bereitlagen. Im Inneren der Hütte hörte er den ersten Schrei eines Babys – Josefs und Lenas Sohn.

Tränen, wie gläserne Perlen, ließen die Beeren wie Rubine wirken.

Niemand hatte zuvor gewusst, dass Krammetsvögel weinen konnten.

 

*****

 

An diese Tat erinnert noch heute ein Kreuz, das in der Nähe des Jakobswegs (an der früheren Heerstraße Köln-Lennep-Dortmund) bei der Remscheider Eschbachtalsperre steht und die Inschrift trägt: »Bitte für die Seele des Herrn Josef Waizels, dessen Überfall dieses Kreuz gesetzt ist, zum Gedächtnis an den 17. Oktober im Jahre des Herrn 1554.«

 

Zahlreiche Sagen ranken sich um den Mord. Mit »Der Krammetsvogel« reihe ich eine weitere Geschichte über das Verbrechen an Josef Waizel an.