Rot, so rot

(2009)

 

Mia fror, als sie am Bahnsteig auf den Zug wartete. Sie klappte den Kragen ihres Mantels hoch und hielt ihn mit einer Hand geschlossen. Hätte sie zuhause den obersten Knopf angenäht, der in ihrer Manteltasche lag, müsste sie nun nicht wie ein Einarmiger in der Kälte stehen. Sie hasste es, in ihrer Bewegung eingeschränkt zu sein, jedoch nicht so sehr wie zu frieren. Als sie noch vor einem Jahr hier in Remscheid stand und der Bau des Bahnhofs nur langsam voranschritt, hatte sie gehofft, bald gäbe es ein gemütliches Wartehäuschen oder zumindest einen komplett bedachten Bahnhof wie die Hauptbahnhöfe in Essen oder Düsseldorf. Fehlanzeige. Ihre Armbanduhr piepste die volle Stunde – noch fünf Minuten, bis der Zug käme, falls er pünktlich erschien. Aber die Nachtzüge trafen fast nie zu spät ein. Mia schaute die Treppe hinauf, der Bäcker hatte geschlossen, die Bücher im Buchladen tuschelten untereinander über all die Bahnhofsbesucher, von denen sie angefasst, aber nicht mitgenommen worden waren, und erzählten sich ihre eigenen Geschichten untereinander – eine Nacht lang. Mia würde ihnen gerne lauschen, aber dafür blieb keine Zeit. In einem Geschäft hatte eine Lampe gebrannt, als sie daran vorbei gegangen war. Vermutlich vergessen. Auch das Parkhaus leuchtete, als müsse es Hunderten von Menschen den Weg weisen, aber das sah sie von hier aus nicht. Sie ahnte es nur. Trügerischer Schein. Ein Bus durchbrach die Stille der Nacht, als er am Willi-Brand-Platz abfuhr. Vermutlich leer, bis auf den Fahrer, der gelangweilt und einsam seine Strecke abfuhr, bis er irgendwann am frühen Morgen zuhause zu seiner Frau ins warme Bett kroch. Müde und nicht mehr allein. Stolz, sein nächtliches Tageswerk absolviert zu haben. Ihres begann erst.

Vor einer halben Stunde hatten die Absätze ihrer Stiefel der nächtlichen Stille einen fremdartigen Stakkato-Sound verliehen. Sie war gerannt. Nur um den Zug zu erwischen, und nun wartete sie.

Einsam und frierend.

Licht durchbrach das Dickicht der Dunkelheit. Na endlich. Mia atmete auf, ließ den Kragen ihres Mantels los, tastete nach der Waffe in ihrem Halfter, das sie unter dem Mantel versteckt trug, und wandte sich dem stoppenden Zug zu. Die Türen schwangen auf und ein Gemisch aus abgestandenen Gerüchen ergoss sich im gleißenden Neonlicht auf den Bahnsteig. Mia zögerte. Nur kurz, dann rief jemand ihren Namen. Sie ließ die Melancholie auf dem Bahnhof zurück und betrat den Waggon, in den sie bereits in vielen Nächten gestiegen war, um nach Hause zu fahren. Diesmal jedoch würde der Zug seinen Weg nicht fortsetzen, diesmal kam sie auch nicht von der Arbeit. Der Anruf hatte sie vom Geburtstag ihrer besten Freundin geholt. Und Mia war weit entfernt davon, erfreut darüber zu sein, denn eigentlich hatte sie Urlaub und am folgenden Tag einen Trip nach Frankreich geplant.

»Ich wusste, dass du kommen würdest.« Peter grinste frech und Mia hätte ihm am Liebsten einen Tritt verpasst. Doch er war ihr Vorgesetzter, und auch wenn sie ihn für unfähig hielt, besaß sie Anstand genug, ihm ihre Verachtung nicht zu zeigen. Sie fühlte sich ihm überlegen. Er wusste das. Eine schwierige Konstellation.

»Darum hast du mich ja auch angerufen. Was ist los?« Mia folgte Peter durch die leeren Zugabteile. Auf einer Bank lag ein aufgeklapptes Buch. Vergessen.

»Wir haben ihn.«

Für einen Atemzug – vielleicht auch zwei – schwankte Mia, spürte Übelkeit und glaubte, ihre Lebensaufgabe sei beendet.

Sie jagte den Bahnsteigmörder seit vier Jahren. Nur einmal war es ihr gelungen, so nah an ihn heranzukommen, dass sie ihn mit der Hand hatte berühren können. Aber es war nicht ihre Falle, sondern seine gewesen, in die sie getappt war.

»Was macht dich so sicher, dass er es ist?«

»Er trug die Trophäen seiner Opfer in einem Koffer bei sich.«

»Und die hat er dir einfach so gezeigt, oder was?«

»Natürlich nicht. Ein paar Jugendliche haben ihn angemacht und wollten seinen Koffer stehlen, daraufhin ist er ausgerastet. Es gab eine Schlägerei. Der Schaffner hat die Polizei gerufen.«

»Die öffnen den Koffer, zählen eins und eins zusammen, Mister Murder ergibt sich und alle sind glücklich?« Mia runzelte die Stirn. »Das klingt mir zu einfach.«

Peter tänzelte nervös um sie herum. »Aber du weißt doch selbst, dass der Zufall oft die schwersten Fälle löst.«

»Aber nicht diesen hier.«

Sie hatten den hintersten Waggon erreicht. Warum befanden sich die Täter immer im letzten Zugabteil?

Die Kollegen führten drei junge Männer ab, von denen einer über seine blutende Nase jammerte und ein Zweiter sich über schlechte Behandlung beschwerte. Nur der Dritte blieb stumm, sein Kiefer war gebrochen, er sah übel zugerichtet aus und würde zuerst auf der Krankenstation landen. Wer immer der Besitzer des Koffers war, er hatte es mit drei halbstarken Schlägern aufgenommen. Ob er tatsächlich gewonnen hatte, blieb fraglich – zumindest aus seiner Sicht.

Auf der vorletzten Bank, bewacht von Horst und Stephan, den beiden Kollegen, die so oft in ihren Nachtschichten vor Mia am Tatort gewesen waren, hockte ein in sich zusammengesunkener Mann. Mia schätzte ihn auf Mitte vierzig, die Schläfen grau meliert. Als sie näher trat, sah er auf. Markante Gesichtszüge, tiefblaue Augen, die sie naiv und verständnislos ansahen. Das sollte der Mann sein, der auf vierzehn Bahnhöfen in NRW gemordet und der sie eine Woche lang in einem Heizungskeller gefangen gehalten hatte?

Ihr Instinkt lachte sie aus, und Mia lachte mit.

»Ich will alleine mit ihm sprechen.« Sie schickte die beiden Beamten weg und deutete auch Peter, Abstand zu halten. Wenn dieser Mann der Bahnsteigmörder war, dann gehörte er ihr. Allein.

»So sehen wir uns also endlich. Kein Entrinnen, kein Gelabere, keine Ausreden. Wie fühlt sich das an, Arschloch?«

Der Bahnsteigmörder hatte sie eingesperrt und verhöhnt. Damit hatte sie zu leben gelernt. Aber er hatte in dieser einen Woche, in der er sie handlungsunfähig gemacht hatte, ihre Schwester getötet. Eine Schuld, die schwer auf ihren Schultern lastete und ein Vergehen, das sie niemals verzeihen würde. Sicher nicht.

Er sah sie an, und als er ihr antwortete, zweifelte sie an ihrem Instinkt. Seine Stimme war die des Bahnsteigmörders. Ihre Knie zitterten und sie musste der Versuchung widerstehen, ihre Waffe zu ziehen und ihn zu erschießen. Notwehr. Die Kollegen hätten die Wahrheit gewusst, aber geschwiegen. Der Mann hatte nichts anderes als den Tod verdient.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich weiß gar nicht, was das alles soll. Ich habe mich doch nur gewehrt.« Er weinte wie ein kleines Kind.

Mia rührte sich nicht. Irgendetwas stimmte an seiner Aussage und der Situation nicht. Aber sie konnte die Zusammenhänge nicht ineinanderfügen. Noch nicht.

Seine Stimme. Es war die Stimme, die ihr durch einen Lautsprecher vier Tage lang den Zustand ihrer Schwester mitgeteilt hatte – bis er ihr live erzählt hatte, dass er sie nun erdrosselte. Mia war eine faire Polizistin, aber sie hatte sich geschworen, wenn sie ihn fand, würde sie ihn töten. Und sie wusste, dass sie ihn eines Tages aus seinem Versteck jagen würde. Nur das hielt sie am Leben. Aber verdammt! Das war nicht der Typ, der so viele Menschen auf dem Gewissen hatte, nur die Stimme …

Konnten zwei Stimmen identisch bis zum Verwechseln sein? »Haben Sie einen Bruder oder Onkel? Lebt ihr Vater noch?« Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust wie zuletzt, als sie das erste Mal den Schrei ihrer Schwester gehört und gewusst hatte, dass sie Louise nicht aus seinen Fängen retten konnte. Vorher hatte er seine Opfer nie entführt, nur bei Mia und Louise hatte er eine Ausnahme gemacht, weil er mit Mia spielen, ihr seine Macht demonstrieren wollte. Es war ihm gelungen.

Der Mann schüttelte den Kopf, sein Blick wirkte mit einem Mal gehetzt. Kreisend. Über Mias Schulter hinweg, dann auf den Boden, zum linken Fenster, dann zum rechten.

Fluchtgefahr.

Nein!

Mia glaubte, darin Angst zu sehen. Angst aufgeflogen zu sein? Die Furcht, die sich in seinen Augen zeigte, galt jemandem. Sich selbst? Mia?

Sie drehte sich kurz um und entdeckte Peter, der sich mit Horst und Stephan unterhielt. Routine.

Mia setzte sich dem Mann gegenüber, dessen Stimme der des Bahnsteigmörders glich, der ihr aber nicht wie ein Serienkiller vorkam. Da war nichts in seinen Augen, wie sie es bei anderen Tätern entdeckt hatte. Außerdem müsste sie intuitiv Hass verspüren und sie wusste, wäre er der Gesuchte, hätte sie längst instinktiv zur Waffe gegriffen. Aber sie fühlte Mitleid und war verwirrt.

Inszenierung. Dieses Wort sprang durch ihr Gehirn und kickte jeden klaren Gedanken zur Seite.

»Wie ist Ihr Name?«

Eine Antwort erhielt sie nicht.

Mia rückte ein Stück näher und flüsterte: »Sie hatten einen Koffer dabei, was war da drin?«

»Das weiß ich nicht.«

Sein Blick huschte unruhig über den Boden.

»Warum hatten Sie ihn dann bei sich?«

»Das sollte ich doch.«

Na bitte.

»Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie den Koffer mitnehmen sollen?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»Verstehe.« Mia starrte einige Sekunden aus dem Fenster und erkannte nichts außer der Nacht, die sich wie ein Schaulustiger gegen die Scheibe presste.

»Peter!« Ihr Chef sah zu ihr, schickte die beiden Kollegen aus dem Waggon und eilte dann zu ihr, sein Gesicht mit einem Lächeln verunstaltet. Wie er sich freute, wenn sie ihn brauchte. Idiot!

»Das ist er nicht. Wer ist auf die Idee gekommen zu glauben, dieser Kerl wäre der Bahnsteigmörder?« Peter zog Mia hoch und zur Seite. Eine Geste, die ihr fremd war. Er berührte sie sonst nie.

»Aber wieso hätte er dann den Koffer mit sich schleppen sollen?«

»Eben. Wieso sollte der Mörder den Koffer mit seinen Trophäen mit sich herumtragen? Dafür ist der doch viel zu clever. Das ist eine Falle, eine Ablenkung. Aber der Mann«, sie nickte in die Richtung des Verdächtigen, »ist es nicht.«

»Was sagt dir das?«

Sie sah ihn an und zog ihre rechte Augenbraue hoch.

»Intuition. Schon klar.« Peter kannte sie gut – zumindest was diesen Teil ihrer Arbeit betraf.

»Habt ihr vor mir mit ihm gesprochen?«, fragte Mia.

»Nein. Der Bahnsteigmörder ist dein Fall und wird es wohl bis zur Pensionierung bleiben.«

»Ich hatte nicht vor, mit 38 die Marke abzugeben. Wo ist der Koffer?«

»Bist du dir sicher, dass du dir den Inhalt ansehen willst?«

»Sicher bin ich mir nicht, aber hier stimmt was nicht, und der Inhalt des Koffers scheint mir zurzeit die einzige richtige Spur zu sein.«

Peter wandte sich einem Fenster zu, winkte dem auf dem Bahnsteig stehenden Kollegen zu; wortlos setzte sich dieser in Bewegung in Richtung Mannschaftswagen. Keine Minute später stellte er den Koffer vor Peter und Mia ab, nickte und verließ das Abteil. Mia runzelte die Stirn. Sie tastete nach ihrer Waffe. Ihr Herz schlug ein bisschen zu schnell und ihre Hände zitterten. Sie hatte zuletzt so einen Koffer gesehen, als sie die Wohnung ihrer Oma ausgeräumt hatte. Alt und verschlissen, mit Messingbeschlägen und Schnappschlössern. Nicht antik, aber mit einer abenteuerlichen Vergangenheit. Wenn er sprechen könnte, hätte sie ihn verhört – nicht nur, um den wahren Täter herauszufinden.

»Mach du den Koffer auf«, sagte sie zu Peter und blieb hinter ihm stehen. Er sah sie einen Moment an, zögerte. Dann kniete sich ihr Chef auf den Boden und zog sich die Jacke aus, als stünde ihm eine außergewöhnliche Anstrengung bevor. Seine Pistole steckte im Halfter, auf der linken Seite. Er tastete danach. Eine Geste, die Mia nur zu bekannt erschien. Sie lächelte. Nur kurz.

Der angebliche Bahnsteigmörder starrte aus dem Fenster, wiegte sich im Takt einer Melodie, die nur er hörte.

Die Schlösser klappten lautstark auf. Mit einem Mal stand der Verdächtige auf, sein Gesicht von Wut gezeichnet, spuckte Schimpfwörter aus wie ein aktiver Vulkan Lava. Er ballte die Fäuste, sein Kopf zuckte unkontrolliert. Nur Sekunden. Gleichzeitig öffnete Peter den Deckel des Koffers. Der Koffer war voller roter Haarsträhnen. Der Bahnsteigmörder tötete nur rothaarige Frauen, aber Louises Haare hatten einen besonderen Ton gehabt, der ins goldorange ging. Mia erkannte es sofort.

Sie zog die Waffe und schoss.

Stillstand.

Frisches Blut tränkte die Haare der toten Frauen, die der Täter als Andenken mit sich genommen hatte. Immer und immer wieder hatte er sie nach seinen Morden glatt gestrichen, gekämmt, vielleicht liebkost. Mia spürte das Abendessen in ihrem Magen rebellieren. Lasagne. Der vermeintliche Bahnsteigmörder fiel auf die Bank zurück, er presste die Hände gegen die Brust, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.

Mia achtete nicht auf ihn, sie fuhr mit den Fingerspitzen über Peters Waffe. Ein paar wenige Haare klebten am Griff, unbeachtet. Für sein Haar zu lang und auch nicht schwarz, sondern goldorange. Das Haar ihrer Schwester. Peter starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an: »Bist du verrückt geworden?«

Seine Stimme klang verändert.

»Er ist dein Bruder, oder? War er nicht krank? Hast du das nicht immer erzählt? Dein Bruder sei unzurechnungsfähig und ein dummer Tölpel, der alles für dich macht, wenn du ihm nur versprichst, ihn lieb zu haben? Der würde sogar für dich töten, hast du gesagt. Aber das musste er gar nicht!« Sie trat ihm in die Seite. »Du mieses Schwein. Du hast ihn nur benutzt. Ist er dir jetzt lästig geworden?«

Obwohl mit dem Blut, das aus der Wunde floss, auch sein Leben aus seinem Körper wich, tastete er nach seiner Waffe. Doch Mia, das hätte er wissen müssen, war schneller und schoss ein zweites Mal auf Peter. »Nur für dich, weißt du«, presste er hervor. Die Stimme.

Ihr Instinkt hatte sie so viele Jahre lang verlassen, zu sehr hatte sie ihm – trotz ihrer Überlegenheit vertraut. Wie dumm sie doch gewesen war! Erst als Mia die wenigen Haarsträhnen ihrer Schwester auf seiner Waffe entdeckte hatte, die dort kleben geblieben sein mussten, nachdem er seiner Trophäe die nötige Pflege hatte zukommen lassen, hatte sie Peters wahres Gesicht erkannt.

 

Sie trat zurück auf den Bahnsteig, den einstigen Zopf ihrer Schwester, den sie aus dem Wirrwarr roter Haare gezogen hatte, hielt sie fest umklammert, die Hand verdeckt in ihrer Manteltasche, dort wo der Knopf ruhte, der an ihrem Mantelkragen fehlte.

Jetzt fror sie nicht mehr.