Die Blume

(2011)

 

Durstig. Ausgedorrt. Fast vertrocknet.

Schlaff hingen die Glieder an ihrem Körper herab. Von der Hitze müde und dem Kampf gegen das Verdursten erschöpft, reckte sie ihr Gesicht der hellen Scheibe entgegen, die tagsüber unerschöpflich vom Himmel brannte. Sie folgte nur ihrem Instinkt.

In der Nacht, wenn der Mond die Sonne vertrieb, sich die Dunkelheit über das Land bettete und Kälte brachte, zitterte sie sich in den Schlaf.

Sie wusste nicht, wer sie hierher entführt hatte. Sie ahnte nur, dass sie hier den Tod finden würde. Schon sehr bald.

Am frühen Morgen – jeden frühen Morgen kamen die Krähen und pickten an ihren verdorrten Gliedmaßen herum. Sie spürte die Krallen, das Hacken der Schnäbel, weit entfernt – der Ohnmacht nahe aber nichts an ihr konnte so abgestorben sein, dass sie jegliches Gefühl verlöre. Es schmerzte.

Sie weinte. Still und leise. Tränen besaß sie nicht. Sie fühlte sich allein.

Ein Wispern rücklings ließ sie in der Mittagshitze erstarren.

Voller Verzweiflung über ihr Schicksal hatte sie vergessen, hinter sich zu sehen. Doch nun wollte sie wissen, an welchem Ort sie sterben würde. Kurz vor ihrem Tod wandte sie ihren Kopf. Es fiel ihr schwer, denn sie fürchtete, er könne abbrechen, so pergamentartig und dünn fühlte sich ihre ockerfarben gewordene Haut an.

Das Wispern schwoll zu einem Orkan an:

Wir helfen dir! Reich uns deine Hand!

Hinter ihr. Ein Meer aus Blumen, bunt und vielfältig. Umwerfend schön. Zwischen grünem, saftigem Gras vermehrten sie sich, streckten ihre langen, grünen Hälse und reckten ihre bunten Köpfe dem Himmel entgegen. Große Bäume spendeten ihnen Schatten, wenn die Sonne am höchsten stand. Ein Bachlauf gab ihnen zu trinken.

Sie war nie allein gewesen, nicht einen Moment, in dem sie nicht wusste, ob sie an Einsamkeit, Durst oder der unerträglichen Hitze sterben würde. Wie dumm sie doch gewesen war. Sie hatte sich ihrem Schicksal ergeben und alles um sich herum vergessen, nur weil sie ein Stück abseits heranwuchs. Vielleicht war ihr Samen von einer Krähe hierher getragen worden? Die Einsamkeit und Trockenheit hätte sie überwinden und mit ihresgleichen im Wind tanzen können. Jetzt war es zu spät.

Sie besaß keine Kraft mehr.

Eine Krähe zog an ihr, es schmerzte sehr. Sie zupfte sie aus dem staubigen Boden, schleppte sie ein Stück mit und ließ sie fallen. Sie landete inmitten der saftigen Wiese, umarmt von ihren bunten Schwestern und Brüdern. Es roch gut. Die Luft war feucht und schattig. Ein schöner Tod. Tau, der sich in den Kelchen der großen Tulpenköpfe gesammelt hatte, kippte wie eine warme Dusche über sie. Sie japste gierig danach. Das Wasser durchnässte ihre trockenen Arme, ihren Körper, ihren Blütenkopf und ihre Wurzeln.

 

Eine Woche später.

Sie reckte die neu gewachsenen grünen Blätter gen Himmel und streckte ihren gelben Blütenstaubkopf, der von dunkelroten Blütenhaaren umrankt war, der Sonne entgegen. Sie liebte die Sonne. Sie liebte den Wind, den Schatten und den Morgentau. Auf der rechten Seite hing, direkt neben den abgestorbenen Wurzeln, ein ockerfarbenes Blatt verdorrt an ihrem Körper herunter. Es erinnerte sie an ihre Einsamkeit und daran, dass sie mit wenig Kraftaufwand in die fruchtbare Richtung hätte wachsen können.

Den Krähen winkte sie freundlich zu, auch wenn sie ihr keine Beachtung mehr schenkten. Am Abend und in den frühen Morgenstunden tanzte sie mit ihrer neuen Familie im Wind, wiegte sich im Gras und freute sich über ihr Leben. Nie mehr würde sie vergessen, wie dumm sie gewesen war!