Vom Erlangen der Zufriedenheit

(2010)

 

Ich starb als mittelloser Fremder in der Stadt, in der ich Berühmtheit erlangte.

Der Dichter

 

Viele Jahre ließ ich mich verführen von der Leichtigkeit, die mir das Leben schenkte. Geld rann mir wie zu dünn angerührte Farbe durch meine Finger. Ich liebte die Schönheit – vor allem die der Frauen –, ahnte jedoch nicht, was Liebe bedeutete. Liebe. Wahre Liebe. Worte, die aus dem Mund eines Dichters gesprochen wie Honig schmecken müssten. Ich war kein Dichter und leckte die Süße des Honigs nie von meinen Lippen. Meine Leidenschaft galt der Malerei, der ich, mit wachsender Unzufriedenheit, wie der Liebe zu einer Frau verfiel. Lange Jahre ein süßer Ruhm, der am Ende jedoch bitter schmeckte.

 

Als ich am 05. April 1732 das erste Mal die kloakenschwangere Luft von Grasse einatmete, die aus dem Sträßchen de la Font-Neuve durchs Fenster wehte, und meinen Eltern mit einem Schrei meinen Lebenswillen kundgab, galt mein Weg alles andere als vorbestimmt. Die revolutionären Ideen meines Vaters brachten ihn, als ich ein kleiner Bub war, um den guten Ruf, den er sich als Handschuhmacher erarbeitet hatte. Wir flüchteten nach Paris auf der Suche nach Anerkennung und finanzieller Sicherheit, wie ich mit fortschreitendem Alter gewahr wurde. Mit sechs Lenzen interessierten mich weder Geld noch Ruhm, aber das änderte sich.

Als ich alt genug war, weigerte ich mich, bei meinem Onkel, einem Parfumeur in Grasse, der zwischen vielen seines Fachs kaum zu bestehen vermochte, zu arbeiten. Obgleich ich den Wohlgerüchen zugeneigt war, gewann ich der Herstellung der Wässerchen nichts ab.

Lieber jagte ich den jungen Mädchen hinterher, feierte in den Nächten und hoffte am Tage auf Großes, das mir als Talent in die Wiege gebettet worden war. Nicht, dass ich danach suchte oder mit Euphorie daran werkte – an diesem Großen. Ich wartete, malte unbeachtet vor mich hin und ließ mich vom Tag treiben. Ich sprühte vor Energie, wusste sie aber nicht gezielt einzusetzen.

Ein Versuch, mich zu bändigen – mein Vater stellte mich einem Notar vor – schlug fehl. Gesteuert von Größenwahn und Neugier, schritt ich durch die Straßen von Paris.

Die Badenden

 

Ich betätigte mich als Voyeur bei den Badenden Mädchen, wanderte durch den Kleinen Park und die Baumallee entlang.

Der kleine Park

 

Ich tummelte mich am Wasserplatz, beobachtete das heimliche Treffen einer Jungen Frau und ihres gekrönten Liebhabers.

Das Treffen

 

Ich besuchte Schausteller auf dem Jahrmarkt und lauschte den Klängen eines italienischen Gitarrenspielers, der für drei tanzende Mädchen spielte.

Schausteller auf dem Jahrmarkt

 

Ich suchte nach Erfahrungen, die meinen Geist anregten.

Wie unerlässlich mein gottloses Leben in diesen jungen Jahren sein sollte, würden meine Eltern erst später verstehen lernen.

Nachdem König Ludwig am 14. Oktober 1750 – ich erinnere mich daran, wie an meinen Todestag - das Luxembourg zur freien Besichtigung öffnen ließ, wusste ich, welcher Berufung ich nachzugehen gedachte. So wurde ich ein Bewunderer des elf Jahre vor meiner Geburt verstorbenen Antoine Watteaus, der mehr war als ein Maler – er war ein Meister! Seine Bilder besaßen Lebendigkeit, wirkten wie von Menschen nachgestellt, greifbar und detailliert. All mein Ansinnen setzte ich darauf, so malen zu können wie er, denn mit dem Pinsel – in der Tat – wusste ich umzugehen.

In meinem Übermut glaubte ich, der Berühmtheit des flämischen Malers gleichkommen zu können. Ich studierte sein Werk, ich trank es wie Wein, inhalierte seinen Werdegang und verinnerlichte jeden seiner Pinselstriche, bis ich – berauscht von Farben und gefüllt mit Motiven – mehr und mehr sein Werk kopierte. Watteau! Mein toter Mentor, dessen Bilder mich lehrten, mein Schicksal selbst zu führen.

 

Meine Mutter, glücklich mein Ziel zu wissen, brachte mich mit meinen ersten Malversuchen zu Francois Boucher, berühmt für seine erotischen und ländlichen Szenen. Doch der zukünftige Hofmaler des Königs Ludwig XV., selbst ein Bewunderer Watteaus, wies uns ab. Voller Trotz und Übermut betrank ich mich in der Nacht und ging am nächsten Morgen ungewaschen und mit dem Atem eines alten Fisches erneut zu Boucher und beschimpfte ihn. Zu spät erkannte ich, welche Chancen ich mir mit meinem naiven Ausbruch hätte verbauen können.

»Deine Ausbildung besteht aus bunten Träumen und den Waden nackter Mädchen. Zu wenig, um ein meisterlicher Maler zu werden, der meine Zeit zu stehlen gedenkt.« Boucher wandte sich von mir ab, ohne meiner Rechtfertigung Gehör zu schenken, die nach dem ersten Wort in einem Schwall meines Mageninhalts endete und sich in der Gosse zwischen Urinlachen wiederfand.

Ich hasste mich. Jedoch nur kurz. Denn ich gehörte zu der Sorte junger Burschen, die sich von Selbstvertrauen nährten und Kritik als die Schwäche des Anderen titulierten. Und so wählte ich den nächstbesten Lehrmeister: Jean Siméon Chardin. Trotz meiner fehlenden Ausbildung nahm er mich auf und erwies sich als geduldiger Lehrer. Ich dankte es ihm nicht mit Fleiß. Ich benahm mich, als gehörte ich zu den großen Meistern, unterwarf mich nicht Chardins geradlinigen Zwängen. Den Pinsel in Dummheit getaucht, malte ich mit Ignoranz. Chardin warf mich nach einem halben Jahr vor die Tür. Meine Wut, die sich in Farbfäusten auf die Leinwände entlud, richtete sich gegen meinen Lehrer. Selbstkritik war mir fremd.

Und doch, meine Kunst vollführte einen Satz, wie das Herz eines Verliebten, wenn er sich einen heimlichen Kuss seiner Mätresse stahl.

Der heimliche Kuss

 

Ich zählte achtzehn Lenze, als mich Francois Boucher aufsuchte. »Ich bin beeindruckt ob deines erworbenen Handwerks. Es ist kein Platz in meiner Werkstatt. Doch ich werde dir einen schaffen.« Er streckte mir seine Hand entgegen – dem Glück sei gedankt, meine Bewunderung für Boucher wog schwerer als mein Stolz – und ich schlug ein.

Die Wippe

 

Es folgten lehrreiche Jahre, von Erfolg gekrönt. Auf der Wippe saß ich stets oben, beim Blinde-Kuh-Spiel holte ich mir den Kuss der Schönsten ab.

Das Blindekuh-Spiel

 

Nach nur einem Jahr schickte mich Boucher nach Rom. Er wollte, dass ich mich am »Prix de Rome« beteiligte. Eine Ehre und Auszeichnung, die ich für mich entschied, obwohl ich – im Gegensatz zu allen anderen Bewerbern – keine akademische Laufbahn vorzuweisen hatte.

Nach kürzester Zeit erwarb ich – meinem Talent sei Dank die nahezu exakte Fertigkeit meines Lehrmeisters, der mir daraufhin seine Aufträge vermittelte. Doch auch diese Zeit verstrich und als ich glaubte bei Boucher ausgelernt zu haben, nahm ich mein beim Rompreis erworbenes Stipendiat wahr und besuchte die Akademie.

Ich stellte schnell fest, dass ich nur einen kleinen Maler unter vielen Meistern darstellte. Doch ich verdrängte diese Tatsache mit Stolz und einem derben Humor, der mich in die Herzen der jungen Damen und an den Stammtisch der Herren brachte. Ich wollte der Beste sein, probierte mich an Kreide, Kohle, Pinsel. Lob und Aufträge blieben nicht fern. Freunde, so glaubte ich, besaß ich zahlreiche. Oberflächlich, verantwortungslos, ewig gut gelaunt, so lebte ich, und jeder aus meinem Umkreis liebte mich dafür.

Der Weiblichkeit nach wie vor zugeneigt, verführte ich die Frauen in den Nächten, während mich die Farben an den Tagen in Besitz nahmen. Letzteres oftmals bis zur Ohnmacht. Ich war besessen von der Malerei. Kein Alkohol berauschte mich mehr, keine Frau zog mich so in den Bann, kein Prunk begeisterte mich wie das Leben, das ich malte – ein Leben voller Farben, Kitsch, Verlogenheit und Liebe. Etwas anderes gab es für mich nicht und doch hatte ich nichts davon.

Ich komme nicht umhin zuzugeben, dass mein zurück erworbenes Selbstbewusstsein unerschütterlich blieb. Wie ein Felsen ragte ich zwischen meinen Kollegen auf. Aufträge kamen nunmehr vom Hochadel, ich sonnte mich in Erfolg und Ruhm und lebte ihn in meinen Bildern aus. Mäzene, die meine Kunst jahrelang finanzierten, fand ich schnell. Sie sandten mich in die Welt hinaus, wo Auftraggeber auf mein Können warteten. Nie scheute ich mich, Aufträge abzulehnen, wenn sie nicht meinem Lebensstil entsprachen. Die Leute bewunderten meine Selbstgefälligkeit.

Ich ging mit Pinsel und Kreide gleichermaßen perfekt um, kopierte die Werke großer Künstler, widmete mich der Landschaftsmalerei und fand Gefallen an der griechischen Mythologie.

Doch so wie ich das Leben ausnutzte, um geliebt zu werden, nutzte ich die Malerei nur aus, um Ruhm zu ernten. Ich fühlte mich nie befriedigt – oberflächliches Glück gepaart mit Einsamkeit.

Ich stürzte mich noch tiefer in die Kunst, obwohl dies kaum möglich zu sein schien. Mich ergriff eine Unruhe, wenn ich nicht Eins mit Farbe, Pinsel und Untergrund werden konnte, ich verzehrte mich danach, wenn es der Tag nicht zuließ, zu malen. So trug ich stets einen Skizzenblock bei mir, sodass keine Zeit ohne zu malen verstrich. Ich verliebte mich in meine eigenen Bilder, in die frivolen Momente, die neckischen Spielchen, die Farben und die Details – besonders in diese.

Das Malen wurde nicht nur zu meinem Beruf, sondern zu meiner Profession und meiner täglichen Droge. Hätte ich meine Arme verloren, so hätte ich »auch mit dem Arsch gemalt«. Ich liebte die Frauen im Allgemeinen, aber die Malerei zählte zu meinem größten Schatz, für den ich alles aufgegeben hätte – sogar mich selbst.

Das Leben – eine junge Frau auf der Schaukel sitzend – verführte und hinterging gleichermaßen. Nur aus dem Höhenflug betrachtet, musste ich eines Tages abstürzen.

Die Schaukel

 

Ich heiratete 1769 – meine gute Frau Marie-Anne, die mir im September des gleichen Jahres eine Tochter schenkte.

Ich liebte meine Frau, aber nicht nur sie allein und niemals mit dieser Inbrunst, die mir die Malerei gab. Und ich liebte ihre Schwester. Marguerite. Sie war neun, als ich Marie-Anne ehelichte. Marguerite, zierlich und bezaubernd. Meine Inspiration. Ich malte sie facettenreich über die Jahre hinweg, bot ihre Erscheinung doch so viele Möglichkeiten, ihr Antlitz zu verewigen. Ich erkannte in ihr nicht nur eine jungfräuliche Schönheit, sondern auch ein neues malerisches Talent, das es zu fördern galt.

Inspiration

 

Doch zunächst stürzte ich in ein tiefes Loch, in das mich die Comtesse du Barry stieß. Sie lehnte die vier Gemälde, die sie in Auftrag gegeben und denen ich viel Zeit und Schweiß gewidmet hatte, ab. Sie passten nicht mehr in ihr Etablissement. Unfassbar! Ein Dolch in meinem Herzen hätte mir nicht mehr Schmerzen zufügen können.

Ich spürte eine Müdigkeit in mir und eine Sehnsucht, die ich nicht in Farbe auszudrücken vermochte. Dieses bunte, sorgenlose Leben, die gesellschaftliche Verlogenheit, begannen mich zu langweilen.

Lesende Frau

 

Ich suchte die Ruhe in der Betrachtung an dem Schönsten, was die Schöpfung zutage brachte: Der Frau, lesend, dann verspielt, betörend, beim Klavierspiel oder in der Musikstunde. Und ich malte die Sehnsucht, die mich ergriff, wenn ich an Zufriedenheit dachte, denn Zufriedenheit war es, die mir all die Jahre fehlte. Doch ich wusste nicht, wo sie zu finden war.

Die Musikstunde

 

Anfang der siebziger Jahre reiste ich nach Italien und hoffte auf neue Aufträge und auf Besinnung. Meine Erlebnisse in Tivoli sind nicht von Belang. Auf dem Heimweg führte mein Weg nach Paris über Wien, Prag und Deutschland.

Deutschland. Ein Traum. Kraft und Hoffnung spürte ich, als meiner Bitte stattgegeben wurde und ich Schloss Sanssouci betreten durfte. Ein unbekanntes Kapitel in meinem Leben, von dem ich niemandem erzählte. Ich musste die Chance ergreifen, Antoine Watteaus Werk, welches Schloss Sanssouci in Teilen schmückte, zu betrachten. Meine Bewunderung für seine Kunst war auch nach Jahren unerschütterlich geblieben.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie ein Schmierfink unter all den von Meisterhand verzierten Decken.

Nicht allein der Anblick der Werke Antoine Watteaus war es, der mich beeindruckte.

Der preußische König Friedrich II hörte von meinem Besuch und lud mich zum Verweilen ein.

Der König und ich – wir führten fruchtbare Gespräche, philosophierten über Malerei, diskutieren über Kunst. Seine Untertanen nannten ihn den »ollen Fritz« – die einen liebten ihn, die anderen hassten ihn. Er teilte seine Nation. Doch ich erkannte in ihm nicht nur einen Liebhaber jeglicher Künste – seine Begeisterung über Watteaus Gemälde erschien mir noch größer als meine eigene Bewunderung, und er musizierte und malte selbst, veranstaltete Lesungen und musikalische Abende – ich sah in ihm einen ehrlichen Mann, einen starken Feldherrn, er spielte nicht mit dem Leben, er kämpfte dafür – nicht für seines, sondern für das der Anderen. Er vermittelte Toleranz und nicht die Arroganz eines reichen Königs. In nur wenigen Tagen zerstörte er mein selbstgefälliges Weltbild. Ich dankte es ihm mit stiller Verehrung.

Am Ende ersehnte ich einen Auftrag des bedeutsamen Mannes, der seit dem Tod seines Hofmalers Antoine Pesen mit keinem Nachfolger ausreichend zufrieden gewesen war. Meine Hoffnung starb bei meiner Abreise.

Mein Herz wog schwer, als ich Schloss Sanssouci verließ, von Leere und Frustration, auf der einen Seite –  obwohl der König meine Kunst lobte, malen durfte ich ihn nicht – und auf der anderen gefüllt mit neuen Erkenntnissen, die mich in meinem Lebenswandel und meiner Arbeit nachhaltig beeinflussen sollten. Später.

Bei meiner Rückkehr stellte ich schnell fest, dass die Umsetzung all des von König Friedrich gelehrten Großmutes mit meinem bisherigen Leben kaum vereinbar zu sein schien. Seine Worte hallten in meinen Erinnerungen, doch mit der Zeit wurde dieses Echo leise, dann still.

Ich versuchte mich auf das Häusliche zu konzentrieren, meine Frau, meine Tochter Henriette-Rosalie und auf meine Schwägerin Marguerite, die 1777 zu uns zog. Ich vergötterte sie wegen ihrer Schönheit und ihrer Anmut. Sie war das Gegenteil ihrer Schwester. Marie-Anne bewegte sich wie ein Bursche, sie lachte wie ein Mann und jegliche Weiblichkeiten lagen ihr fern. Nicht selten wurde ich gefragt, meist unter Einflüssen des Alkohols, warum ich sie ehelichte. Es war nicht ein Grund allein: Ich wusste, sie würde mir treu bleiben. Vor allem aber trug sie mein Kind aus. Obwohl ich als Egozentriker mein Ansehen genoss, verbot es mir der Anstand, ein uneheliches Kind in die Welt setzen zu lassen. Mit meiner Heirat erkannte ich Henriette-Rosalie an – und das bereute ich nie.

Im Gegensatz zu meiner Zuneigung und einer besonderen Förderung, die ich Marguerite zuteil werden ließ. Schon bald sollte die schöne, begabte Schwester meiner Frau mir einen Tritt verpassen, der mir – bereits am Boden liegend – den Rest geben sollte. Ich hatte nichts anderes verdient. Vielleicht.

Nach vielen Jahren der Reisen und des oberflächlichen Lebens, das ich nicht nur malte, sondern selbst liebte, fand ich nur noch Lust daran, Familienszenen in Farbe zu verewigen. Sie vermittelten meine Standfestigkeit, dabei fühlte ich mich eingeengt, hilflos und unfähig meines Werkes.

1780 wurde mein Sohn geboren – gab es eine bessere Bestätigung für meine Häuslichkeit? Alexandre-Evariste wurde später Maler wie ich. Er sollte nie meine Berühmtheit erlangen, doch er erhielt etwas, das ich nie fand: Zufriedenheit – und er liebte seine Frau wie kein anderer. Ich neidete es ihm, wir stritten viel. Seine Bilder erschienen mir nie gut genug, sein Talent nie ausreichend.

Verlogen führte ich mich auf, eifersüchtig und dumm. Ich bereue es ja, aber es war das Leben um mich herum, das mir nichts anderes zeigte als diese unbeschränkte Frivolität. Armut wurde verdrängt, Krieg, Nöte, Tote… niemand wollte Hässlichkeit sehen. Oberflächliche Leichtigkeit präsentierte ich in meinen Bildern – ich konnte nicht anders.

Die Sonne wanderte, nur ich blieb stehen.

Aufträge, die ich dringend benötigte, um meine Familie zu ernähren und meinen Lebensstandard zu gewährleisten, blieben aus.

1788 starb meine liebe Tochter. Ich sehe sie noch mit ihrem ersten Liebesbrief in der Hand. Es sollte ihr einziger gewesen sein.

Der Liebesbrief

 

Ein Jahr später begann die Revolution – der Beginn von vielem, auch meines Endes. Die Kunst veränderte sich, doch statt das Bewährte als das zu betrachten, was es war Meisterwerke einer Epoche wurden meine Bilder verbannt. Der Streit mit meinem längst verlorenen Sohn eskalierte und er warf meine Kupferstiche ins Feuer. »Ich habe dem guten Geschmack ein Brandopfer dargebracht«, sagte er mit fester Überzeugung. Kritik, Schelte, alles ertrug ich; mein Sohn ahnte es nicht, er drehte den Dolch um, den mir einst die Comtesse du Barry ins Herz gestoßen hatte. Marguerite wandte sich von mir ab, als ich sie um Geld bat.

Freunde? Ich fand sie nicht mehr.

 

Aus Verzweiflung übernahm ich die Verwaltung im Louvre und bezog dort eine Wohnung, gemeinsam mit meiner Frau. Bilder wünschte niemand mehr von mir. Ich verlor meine Familie – meine Schwägerin, meinen Sohn, meine Auftraggeber. Es war nicht der Tod, der sie mir nahm, sondern mein Verhalten. Hätte ich noch Geld und mein Ansehen gehabt, wäre ich mit der Sonne gegangen, dann … ja dann gäbe es meine Kupferstiche noch, mein Sohn hätte mir meine Strenge verziehen und Marguerite – meine Schöne – wäre mir weiterhin zugetan. Aber es gelang mir nur, mich und Marie-Anne, die mir stets die Treue gehalten hatte, zu ernähren. So lebten wir und trauerten dem vergangenen Ruhm und den Reichtümern nach.

Ich wurde zu einem verbitterten Künstler, für den sich niemand mehr interessierte. 1800 legte ich aus gesundheitlichen Gründen all meine Ämter nieder, durfte jedoch weiter im Louvre leben, bis mich 1805 Napoleon mit einer kleinen Rente der Wohnung verwies. Ich hatte ausgedient. Meine Bilder, meine gesellschaftliche Stellung, mein Wort – nutzlos.

 

Jean Honoré Fragonard - Selbstportrait

 

 

Mein Name ist Jean-Honoré Fragonard. Ich starb in Armut am 22. August 1806 in Paris mit der Erkenntnis, dass ich Zufriedenheit nie empfunden hatte – bis zu dem Moment, als mein letzter Atemzug aus meiner Lunge entwich.

 

 

(Anmerkung: Bei den kursiv geschriebenen Wörtern handelt es sich um die Originaltitel der von Fragonard gemalten Bilder.)