Winterspaziergang

(2002)

 

Meine Augen brannten. Die Buchstaben tanzten. Zu viel und zu lange hatte ich auf den Bildschirm geschaut. Geschrieben, gelöscht, wieder geschrieben. Mein Rücken fühlte sich steif an und mein Nacken schmerzte. Die ersten Sonnenstrahlen im neuen Jahr winkten durchs Fenster und lockten mich nach draußen.

Die Menschenmassen, die drei Monate vor Jahresende aus ihren Bunkern geströmt waren, um rechtzeitig alle Einkäufe vor Weihnachten zu erledigen und ihre Jahresvorräte aufzufüllen, waren wieder von den Straßen verschwunden. Wo immer sie nun auch den Rest des Jahres verbrachten, es war ruhiger in den Einkaufszentren und den Kaufhäusern. Ich hasste diese Zeit, ich hasste Menschen – zumindest wenn zu viele aufeinander trafen. Jetzt könnte ich es wagen.

Frische Luft schadete nicht, wird behauptet. Ich klappte den Laptop zu. Mein Schreibtischsessel ächzte dankbar, als ich mich daraus erhob.

Schnell die dicken Stiefel anziehen, Mantel und Schal überstreifen, bevor ich es mir wieder anders überlegte und mir der innere Schweinehund in den Nacken sprang und mich zurückhielt.

Tür auf. Raus. In die kalte Winterluft.

Ich nahm einen tiefen Atemzug, die Lunge war befriedigt. Ich könnte wieder zurückgehen, aber ich gab mir einen Ruck. Vielleicht sollte ich mir einen Hund anschaffen, der mir täglich bei jedem Wetter meine Faulheit austrieb. Ich ging ein Stück den Bürgersteig entlang, in Richtung Wald. Pfeifend. Gut gelaunt. Der Schnee, gefallen vor wenigen Tagen, drängte sich an Hauswände und Bordsteine. Getränkt von Abgasen, garniert mit Hundekot und Splittsteinchen trug er ein hartes Schicksal, bis die Sonne ihn davon befreite.

Ich ignorierte den Dreck. Meine gute Laune wollte ich mir nicht davon verderben lassen, allerdings beschloss ich, mir nun doch keinen Hund anzuschaffen.

Die Skelette der kahlen Bäume ragten in den blauen Himmel und schienen die Sonne anzubeten. Ich entdeckte eine Amsel, die ihren Schnabel an einem Ast rieb, und übersah die Überreste der vorvorvorvornächtlichen Silvesterfeier. Handelte es sich dabei nur um feuchte Pappe einer Rakete oder das halb verdaute Bier eines Betrunkenen, in das ich soeben hineingetreten war? Ich räusperte mich, schluckte das aufsteigende Frühstück hinunter, streifte meinen Stiefel am einzigen weißen Fleck, den ich im Schnee fand, ab und eilte weiter. Jetzt pfiff ich jedoch nicht mehr. Ich wählte den Weg links in den Wald, Richtung Teich. Auf dem Weg sprang ich nach links, dann nach rechts und wieder nach links, wich Glatteisschollen und undefinierbarem Matsch aus. Tapfer und unermüdlich setzte ich meinen Weg fort. Die Sonne lachte mich an. Später wurde mir klar, dass sie mich auslachte. Tiefer im Wald war der Schnee noch jungfräulich weiß. Seufzend und vorsichtig trat ich darauf, Kindheitserinnerungen wurden wach. Mit einem lauten Aufschrei stürzte ich zu Boden und rutschte den Berg hinunter. Eine Eisfläche hatte sich mit weichen Schneeflocken getarnt, um mich zu Fall zu bringen. So eine Gemeinheit! Ein Baum zeigte sich gnädig und stoppte meine Rutschpartie. Ich schlug mir meine Stirn an. Blut lief mir über das Gesicht. Ich atmete den Schmerz weg und spuckte aus. Doch der seltsame Geschmack auf meiner Zunge verschwand nicht. Es schmeckte nach ... weil es stank nach ... Ein Hund hatte sein frisches Geschäft an dem Baum hinterlassen, und ich war mit der Hand hineingetappt. Hätte ich doch nur meine Handschuhe angezogen. Angeekelt strich ich meine Hand im gefrorenen Nass ab, zerkratzte mir dabei die Handfläche an kleinen Eissplittern, die wie Stecknadeln garstig aufgerichtet standen. Die Natur hegte viele Überraschungen und schien eindeutig gegen mich zu sein. Ich rappelte mich wieder auf. Blut tropfte von meiner Stirn und sickerte in den Schnee. Rot wie Blut, weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz, dachte ich. Passt. Ich hieß nur nicht Schneewittchen, und die sieben Zwerge traf ich sicherlich auch nicht.

Vorsichtig schlidderte ich den Berg hinauf, hangelte mich von einem Baum zum nächsten, um nicht erneut auf dem Glatteis in ein weiteres stinkiges Abenteuer zu rutschen. Kaum hatte ich es geschafft, raste, mit lautem Gekreische, ein Schlitten auf mich zu. Nicht sieben aber immerhin zwei Zwerge undefinierbaren Geschlechts machten kreischend Jagd auf mich. Ich musste ausweichen. Doch wohin? Nach rechts? Nach links? In beiden Fällen würde mich das Eis zu Fall bringen. Blieb ich stehen, dürfte der Schlitten das schaffen, was dem Baum nicht gelungen war.

Elegant bewegte ich mich wie Tarzan, sprang hoch und hielt mich an einem herunterhängenden Ast fest. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften – und das waren deutlich weniger als ich erhofft hatte –, zog ich mich nach oben. Geschafft, das wäre doch gelacht! Der Schlitten sauste unter mir weg, ich winkte den Zwergen nach. Schön, so eine lachende Kinderschar. Ich lächelte noch, als es krachte und der Ast abbrach. Mit wenig angenehmen Geräuschen landete ich auf dem glatten Boden. Es brach noch etwas. Leider war es weder Eis und noch ein Ast. Diesmal war es mein rechter Arm. Der Schrei, der sich aus meinem Hals befreien wollte, blieb darin stecken, als ich den Hund sah, der auf mich zurannte. Zähnefletschend. Ich atmete auf. Er stürzte sich nicht auf mich, skalpierte mich nicht und riss mir auch nicht den linken Arm ab. Er schnupperte an mir. Und hob dann sein Bein. Wärme breitete sich über meine Hose aus. Endlich kam der Besitzer des dahergelaufenen Köters. Er half mir nicht. Er blickte mich abschätzend an, pfiff seinen Hund zu sich und verschwand.

Ich stank. Nach Kot, Urin, Blut. Mein Körper schmerzte, wie sehnte ich mich nach Nackenschmerzen. Meine Stirn – blutverkrustet. Mein gebrochener Arm – ein Fremdkörper.

Neue Eindrücke für ein neues Buch. Sparzieren gehen, an der frischen Luft. Das hat was.

Ich ruhte mich aus. Ich konnte nicht mehr. Der Boden war kalt und nass. Eine Amsel schimpfte über mir, es machte – wie nicht anders zu erwarten, die Natur hatte sich gegen mich verschworen „plitsch“. Die Amsel hatte ihre Geschäfte erledigt und mich intensiv mit einbezogen. Ich spürte leichte Wärme auf dem Kopf. Diesmal kein Blut. Ich tastete nicht danach.

Unter Schmerzen stemmte ich mich hoch. Ich musste zurück. Ich musste in ein Krankenhaus.

Und ich beschloss: Ich hasste Hunde, ich hasste ihre Besitzer, ich hasste Kinder und Zwerge sowieso. Ab sofort hasste ich Amseln und Vögel im Allgemeinen. Ich hasste Schnee, Bäume. Alles.

Mein Gleichgewicht ließ zu wünschen übrig, ich wankte und torkelte über das Eis. Ein Pärchen kam mir entgegen, ich stammelte etwas und wunderte mich über meine fragwürdige Aussprache, die ich selbst nicht verstand.

Der Mann zog seine Freundin auf die andere Seite, weg von mir und schob sie voran. Nur weg von mir. Jaja. Lauft nur.

Warum hatte ich mein Handy zu Hause liegen gelassen? Nur weil ich einmal die Natur genießen wollte, ohne Zwang und ohne ständig erreichbar zu sein? So ein Quatsch!

Wie ein Betrunkener, der junge Mann hatte durchaus recht, rutschte ich aus dem Wald hinaus und auf dem Bürgersteig nach Hause, achtete weder auf matschige Silvesterknaller, noch auf andere ekelerregende Ablagerungen, eilte heimwärts, so schnell es ging. Ein Taxi! Meine Rettung. Mit der unverletzten Hand winkte ich es zu mir. Es hielt an. Das musste mein Glückstag sein.

»Guter Mann,« sagte der Fahrer, »mit den Schuhen kommen Sie bei mir nicht rein!« Er fuhr weg. Ließ mich stehen mit all meinen Schmerzen, der verletzten Kopfwunde und den dreckigen Schuhen, die besät mit Dingen waren, deren Namen ich nicht in den Mund nehmen wollte, um mich nicht auch noch zu übergeben.

Toller Plan. Ich wollte doch nur einmal frische Luft schnappen. Ich wollte nur mal eben rausgehen, etwas anderes sehen, neue Impressionen aufsaugen.

Ich schaffte es nach Hause. Zog mich aus, presste dabei den gebrochenen Arm  gegen meinen Bauch. Diese Schmerzen. Meine Kleidung warf ich in den Müll. Alles. Ich wollte es nicht mehr sehen. Ich duschte, zog mir frische Kleidung an und rief mir ein Taxi. Ich war ein Held.

»Kenne ich Sie nicht?«, fragte der Fahrer.

Doch. Doch. Aber ich antwortete ihm nicht, dass er mich eine Stunde vorher, wegen meiner dreckigen Schuhe beinahe hatte, verbluten und verrecken lassen.

Ich gab ihm kein Trinkgeld.

 

Im Krankenhaus wurde ich freundlich behandelt. Ich bin Privatpatient. Und ein bisschen berühmt. Die Krankenschwester bat um ein Autogramm und erzählte mir, wie toll sie mein letztes Buch gefunden hat.

Ich lächle sie an und genieße den Geruch von Infektionsmittel. Ich liebe das Gefühl des Gipses um meinen Arm, der nur noch pocht.

Zurück zuhause verdunkle ich die Zimmer und sperre die Sonne aus. Die kann einen anderen auslachen. Ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch, tippe mit einer Hand. Mein Metier.

Sollen doch andere die Natur genießen. Ich nicht!