Sinne

(2001)

 

Der Wind bläst mir die Sorgen weg, flüstert mir zärtliche Worte in die Ohren.

Er raubt mir die Sehkraft und treibt mir die Tränen in die Augen. Dankbar halte ich dem Wind mein Gesicht entgegen.

Er weht mir aromatische Essensgerüche in die Nase.

Angeregt durch den Duft, knurrt mein Magen und ruft mir den Geschmack eines köstlichen Mahls in Erinnerung. Ich schlucke. Lächelnd öffne ich den Mund und schmecke den frischen Lufthauch des Windes auf meiner Zunge, würzig und lebendig, kühl und doch wärmend.

Ich seufze, schließe meine Augen, breite die Arme aus, sauge gierig mit all meinen Sinnen die Liebkosungen des Windes auf; fülle meine Lungen, jegliche Pore meines Körpers und meiner Seele mit der Kraft des Windes. Er umarmt mich mit all seiner windigen Macht, hüllt mich ein und hält mich lieblich gefangen. Ich seufze, wohlig und erregt.

Dann plötzlich stürmt es in meinem Inneren. Gefühle, Ängste, brutale Szenen reißen an meinem Gehirn, an meinem Herzen. Dramen, die meine Augen nicht sehen können, meine Nase nicht riechen, meine Zunge nicht schmecken, meine Ohren nicht hören und mein Körper nicht fühlen kann, die nur meine Seele spürt!

Meine Arme klammern sich an meinem Körper fest. Die geöffneten menschlichen Sinne schließen sich wieder, verkümmern in der Angst, zu viel zu erleben. Zu viel aufzunehmen. Mein Magen rebelliert, meine Lunge pocht von zu viel frischer Luft. Nur meine Seele hat alles gespeichert, was ich aufgenommen habe, und darüber hinaus noch viel mehr; das, was mir der Wind verschwiegen hat. Darum krümme ich mich vor Leid, erfüllt von Schreien und Chaos. Spüre Tränen und Kummer, weit entfernt.

Wo ist der Wind, der mich eben noch verführen wollte, mir von Liebe und Glück erzählte, mir mit angenehmen Gerüchen den Hunger lehrte und mich mit seinem Hauch zum Trost streichelte? Wo ist er?

Der Wind hat abgedreht. Eine Träne kullert aus meinem Augenwinkel, und noch eine. Mit all meinen Sinnen erinnere ich mich zurück, an die flüsternden Worte in meinen Ohren, die fortgewehten Sorgen. Ich klimpere mit den Augenlidern die vom schneidenden Wind hervorgerufenen Tränen fort. Fest verschließe ich die Augen vor dem, was ich nicht sehen mag. In meiner Nase vernehme ich jetzt den Gestank von Schweiß, ich höre das ungeduldige Hupen von eiligen Autofahrern, jemand schubst mich zur Seite. Ich öffne meinen Mund, ohne etwas zu sagen schließe ich ihn wieder. Die Luft schmeckt bitter und hinterlässt einen schalen Geschmack.

Ein letztes Mal lecke ich mit der Zunge über meine Lippen, schmecke die würzige Luft des verführenden Windes. Dann ist auch das vorbei.