Ein Experiment

(2002)

 

Wir trafen uns im Lesesaal – der Arena, wie wir scherzhaft sagten. Professor Dr. Stiller, der Psychologielehrer, hatte uns dorthin bestellt. Ein Experiment, hatte er gesagt, es handele sich nur um ein kleines Experiment.

 

Wir ließen uns für eine Sondereinheit der Polizei ausbilden und absolvierten ein dreimonatiges psychologisches Training. Wir hatten in diesen drei Monaten keinerlei Kontakt nach außen. In zwei Wochen sollten wir das Intensivstudium beenden und durften nach Hause zurückkehren. Ich war froh darüber. Wir hatten viel gelernt und eine Menge Spaß gehabt, aber ich vermisste Anny, meine Frau und Ella, meine Tochter. Ich hatte einmal einen Brief rausschmuggeln können und hoffte, dass er bei ihnen angekommen war. Sie sollten wissen, wie sehr ich sie liebte.

Nur noch zwei Wochen. Ich begrüßte jede Abwechslung, mochte sie noch so seltsam sein. Und Stillers Experimente sorgten stets für Diskussionen oder Lacher.

Wir saßen auf den in Kaskaden aufgereihten Bänken und warteten.

 

Wie üblich ließ er auf sich warten. Er brauchte seinen Auftritt, der Professor. Mit einer halben Stunde Verspätung schritt er wie ein Zirkusdirektor – er trug einen Zylinder – in die Arena. Er zog eine Sackkarre hinter sich her, in der kleine, braune, ausgebeulte Säcke lagen.

»Wir wollen heute die Theorie in die Praxis umsetzen«, erklärte Stiller, »und wagen dafür ein Experiment, das uns eine Antwort auf unsere Fragen geben wird.«

Wir tuschelten, sahen uns untereinander an, zuckten mit den Schultern. Was für Fragen meinte er?

»Bitte kommen Sie zu mir und holen Sie sich eins dieser wundervollen Säckchen!«

 

Ich zögerte. Wir alle zögerten. Doch dann folgten wir seiner Anweisung, gingen die Treppen hinunter, holten uns jeder einen Sack und kehrten auf unsere Plätze zurück. Der Sack selbst schien nicht das Besonderen zu sehen, vielmehr der Inhalt. Ich fühlte die Umrisse einer Pistole.

»Sie haben es vermutlich schon selbst herausgefunden. Öffnen Sie bitte die Säcke und holen Sie die Schusswaffen heraus. Aber Vorsicht!« Er erhob seinen rechten Zeigefinger. »Die Waffen sind geladen.« Dann blickte er zur Eingangstür und nickte.

 

Ein schwarzgekleideter Mann betrat die Arena. Von seinem rechten Auge bis hinunter zum Kinn verlief eine Narbe. Knapp zwei Meter und vollgepackt mit Muskeln, schien er einem amerikanischen Gangsterfilm entsprungen und sollte in diesem Experiment das Klischee des Bösen verkörpern.

»Dies ist ein Verbrecher.«

Einige meiner Kollegen kicherten. Stiller lächelte.

»Er hat vier Menschen ermordet und erhielt dafür die Todesstrafe.« Hinter mir saß Robert, er rief: »Der blinzelt ja gar nicht. Das ist ein Roboter!« Am Anfang des Studiums hatte Stiller ein Experiment durchgeführt, in denen wir zwischen Robotern und realen Wesen unterscheiden sollten. Doch Stiller bediente sich da einer sehr simplen Technik. Außerdem ging es damals um Kaninchen.

Stiller zog ein Messer aus seiner Aktentasche. »Ich beweise Ihnen seine Echtheit.« Er zog dem Unbekannten den Ärmel des schwarzen Pullovers hoch und ritzte mit dem Messer in die Haut. Der Mann verzog keine Miene, nur das rechte Auge zuckte und sein Mund öffnete sich kurz, als wollte er einen Schmerzton daraus entlassen. Blut tropfte aus der Wunde.

»Spinnt der?«, fragte ich Mike. Wir waren in den drei Monaten gute Freunde geworden. Doch seine augenscheinliche Faszination konnte ich nicht nachvollziehen. »Er ist der Prof. Ist eh nur ein billiger Anschauungstrick.«

»Erinnern Sie sich noch an unsere letzten Stunden? Wir sprachen über Mord. Sie sollen«, Stiller riss den Kopf des Mannes an dessen Haaren in den Nacken, »diesen Mann töten.«

Er sah jeden einzelnen von uns an, betrachtete unsere Reaktion. Nun waren wir sein Studienprojekt.

Keiner regte sich.

»Nur zu, erschießen sie ihn. Er ist die Ausgeburt des Bösen, er mordet, wenn er nicht hinter Gittern ist. Er ist gefühllos und ein Schwein.«

Wir antworteten nicht, doch die Luft schien sich aufzuladen. Ich bekam eine Gänsehaut.

»Er hat eine schwangere Frau ermordet. Nur aus Spaß.«

Mike, neben mir, spannte die Muskeln an, die Knöchel seiner rechten Hand, mit der er die Waffe festhielt, zeichneten sich weiß ab.

Stiller lachte. »Sehr schön. Dieser Mann ist wehrlos. Sie wissen nicht, ob er tatsächlich so böse ist, wie ich es Ihnen sage. Sehr gut. Sie erschießen ihn nicht.«

Er ließ den Mann los und nickte ihm zu. Der Verurteilte griff in seine Tasche und hielt anschließend eine große Küchenschabe in der Hand. Ich hoffte, dass er diese nicht in der Kantine gefunden hatte.

Stiller rief: »Tötet den Mann!« Leise fügte er hinzu: »Oder er tötet in 30 Sekunden die Schabe!«

Wir reagierten nicht.

30 Sekunden vergingen. Einige Kollegen stöhnten vor Ekel auf, als der Mann die Aussage umsetzte und den Panzer der Schabe mit einer Hand zerquetschte. Andere schienen unberührt. Ich ekelte mich, konnte aber meine Empfindung gut verstecken.

Stiller musterte uns wieder. »Gut!«, sagte er knapp und nickte dem Schabenmörder erneut zu. Dieses stille Abkommen zwischen dem vermeintlichen Mörder vierer Menschen und unserem Professor erschien mir absurd.

Der Mann entfernte sich, verschwand hinter der Tür, aus der er zuvor gekommen war, und kehrte nur kurze Zeit später zurück. Er hielt eine Taube in der Hand.

Wieder forderte uns Stiller auf, den Mann zu töten oder den Tod der Taube zu akzeptieren. Wir töteten nicht, wir ließen töten. 30 Sekunden. Und der Mann drehte der Taube den Hals um. Er legte den Leichnam auf das Pult, auf dem sich sonst Bücher und Manuskripte stapelten. Behutsam, beinahe zärtlich rückte er Kopf und Flügel der Taube zurecht.

Gleiches Spiel. Stiller nickte, der Mann verschwand, und kam zurück. Er trug einen Welpen im Arm. Einen Golden Retriever, höchstens acht Wochen alt. Er jaulte verängstigt.

»Sie kennen das ja schon. 30 Sekunden.«

Hinter mir schnappte jemand nach Luft. Mein Herz klopfte schneller. Stiller reizte uns, er wollte uns nur auf die Probe stellen. Der Typ, Mörder oder nicht, verurteilt oder nicht, auf jeden Fall Teil dieses Experiments würde den Hund nicht töten.

»Noch 10 Sekunden. Wollen Sie ihn nicht erschießen? Er wird dieses süße Hundebaby töten. Das lassen Sie zu?«

Wir reagierten nicht. Paralysiert und von der Faszination entsetzt, in der Obhut unseres Professors und der Gewissheit, dass alles wohl so sein musste, sagten wir nichts, bewegten wir uns nicht, ließen wir uns nur treiben. Wir Feiglinge.

Ich schämte mich, doch ich unternahm nichts, ich verließ auch nicht den Raum, als der schwarzgekleidete Mann dem Jaulen des Welpen ein Ende bereitete.

Die Atmosphäre im Raum, eben noch spannungsgeladen, schien kurz vor der Explosion. Doch wir warteten ab. Wieder bettete der Mann den Welpen liebevoll auf das Pult, direkt neben der Taube. Er tötete gern. Er mochte den Anblick der Toten. Ein Verrückter. Verrückter als Stiller? Ich glaubte nicht.

»Nun, meine Damen, meine Herren. Sie überraschen mich. Warten wir ab, wie Sie nun reagieren werden.« Er nickte, der Mann reagierte. Das Spiel begann von vorne, der Einsatz würde höher sein müssen.

Diesmal brauchte der Mann einige Minuten, bis er zurückkehrte. Warum haute der Typ nicht ab, wenn er zum Tode verurteilt worden war? Er war skrupellos, könnte uns alle umnieten und sich den Weg freischießen. Doch das schien nicht sein Ziel zu sein. Er liebte den Tod. Meine Analyse erschreckte mich nicht. Der Mann war auch die Spielfigur von Stiller geworden und ich fragte mich, ob nicht Stiller derjenige war, der in diesem seltsamen Spiel getötet werden sollte.

Ein Experiment. Aber diesmal experimentierte Stille mit allen Anwesenden. Und darüber hinaus.

Der Mann, der zumindest ein erwiesener Kakerlaken-, Tauben-, und Hundemörder war, trug ein Bündel über der Schulter – einen Jutesack, aus dem ein Schwall Haare im Takt seines Schrittes hin- und herwippte. Blonde, lange Haare. Lockig.

Mike lachte. »Stiller ist ein Fuchs.«

»Er ist verrückt, Mike!«

Der Mann nahm das Bündel, das im Jutesack steckte, von seiner Schulter und wiegte es im Arm. Es war eindeutig ein Mensch.

Mein Mund wurde trocken. Meine Augen brannten. Das Atmen viel mir schwer.

Stiller würde frühzeitig abbrechen. Experimente hin oder her. Aber das ging zu weit. Er testete uns nur. Das war sicher. Was für ein Spinner. Ich schüttelte den Kopf, betrachtete meine Waffe. Sie war noch nicht durchgeladen. Dann sah ich auf. Der Mann hatte den Sack heruntergezogen. Mein Kiefermuskel ließ abrupt nach, mein Bizeps spannte sich an, ich umklammerte die Waffe. Sehr lustig, Stiller, sehr lustig!

Es war ein Mädchen, sie trug ein rosa geblümtes Nachthemd. Nackte Füße, die Haare zerzaust vom Schlaf. Ihre Augen zeigten Angst und Verzweiflung. Schreien konnte sie nicht, denn ihr Mund war mit silberfarbenem Klebeband zugeklebt. Sie weinte. Natürlich weinte sie. Hatte Stiller sie nicht eingeweiht?

Scheiße, Mann!

Ich sprang auf. »Was soll das, Stiller?«

»Mensch, setz dich!«, sagte Mike. »Das ist doch nur ein Fake.«

Das Mädchen zeigte auf mich. Sie strampelte mit den Beinen, doch der Mann hielt sie fest. »Setzen Sie sich!«, befahl Stiller und seine Stimme klang seltsam kalt, aber er lächelte mich an.

»Sie haben es in der Hand. Töten Sie den Mann, er ist ein Mörder. Das wissen Sie  alle. Oder er tötet das Mädchen.«

Keiner glaubte daran. Oder warteten nur alle fasziniert auf den nächsten Mord, der in der Arena geschehen sollte? Auf den Mord, der dieses Experiment in die Idee eines Irren verwandelte und sie alle zum Mittäter machte? Auf einen Mord, den sie  verhindern sollten?! Sie waren die Guten, die für das Gesetz eintraten. Oder nicht?

»30 Sekunden!«

»Das ist doch Wahnsinn!«

Ich hatte mich nicht hingesetzt, sah die Anderen an, die nur fasziniert auf das Schauspiel starrten. Ich glaubte nicht an ein Spiel.

28 Sekunden.

»Sie können alles ändern. Sie können es beenden, Frank.«

Alle schauten mich erwartungsvoll an.

27 Sekunden

»Jeder von Ihnen kann das Schicksal ändern.«

26 Sekunden

Alle sahen wieder zu Stiller. Apathisch. Fasziniert.

25 Sekunden

Totenstille. Nur das Schluchzen des kleinen Mädchens.

24 Sekunden

um dem ein Ende zu setzen oder

23 Sekunden

Stiller sie alle auslachte, und behauptete,

22 Sekunden

alles sei nur ein Fake. So wie Mike glaubte.

21 Sekunden

Ich hörte meinen Atem. Viel zu laut.

20 Sekunden

Schweiß tropfte von meiner Stirn.

19 Sekunden

Ich lud die Waffe durch. Mike berührte mich am Arm.

18 Sekunden

»Es passiert nichts, bleib ruhig!«

17 Sekunden

»Was sagt dir das?«

16 Sekunden

»Sie reagieren emotional. Das ist verständlich.«

15 Sekunden

»Lass sie runter! Sofort!«

14 Sekunden

»Nur ein Experiment, vergessen Sie das alle nicht.«

13 Sekunden

Ich konnte Stillers Stimme nicht mehr hören.

12 Sekunden

Der schwarze Mann blieb regungslos.

11 Sekunden

Ich würgte, musste mich übergeben.

10 Sekunden

Mike versuchte, mich zu beruhigen.

9 Sekunden

»Stiller, hören Sie auf mit dem Mist!«

8 Sekunden

»Wenn Sie ihn nicht töten, wird er das Mädchen töten!«

7 Sekunden

»Und das wäre doch schade, Frank!«

6 Sekunden

Keiner meiner Kollegen schien daran zu glauben, dass

5 Sekunden

Stiller und der Mann in schwarz ernst machten.

4 Sekunden

Ich zielte auf sein Bein, drückte ab.

3 Sekunden

Er schrie, zückte ein Messer.

2 Sekunden

Ritzte in ihren Hals.

1 Sekunde

Ich zielte und drückte ab.

0 Sekunden

Treffer.

Der Mann fiel wie ein Baum um. Sie riss er mit sich, doch sie befreite sich, rappelte sich hoch, lief schluchzend auf mich zu und in meine Arme. Mein Baby.

»Ist Mama zu Hause, geht es ihr gut?«, flüsterte ich Ella ins Ohr. Sie nickt. »Ich glaub ja. Sie hat das nicht gemerkt, Daddy.«

»Ich bring dich Heim.«

»Ihr Seminar ist noch nicht beendet, Frank.«

»Doch, Stiller. Das ist es. An dieser Stelle ist alles beendet.«

»Es war doch nur ein Experiment. Regen Sie sich nicht auf. Er hat es verdient.«

»Ich bin nicht hier, um darüber zu richten.« Ich hob Ella hoch. »Er hat es vielleicht verdient, sie aber nicht.«

Als ich ging, versuchte Mike, sich mir in den Weg zu stellen. »Stiller hätte es nie zugelassen.«

»Du bist naiv, Mike. Du und all die anderen. Viel Spaß. Ich bin raus!«

Keiner hielt mich auf, keiner verfolgte mich.

 

Ich zeigte Stiller und meine Kollegen an. Die Anzeige wurde aufgenommen, doch der Staatsanwalt teilte mir schon eine Woche später per Brief mit, dass es nicht zur Klage käme. Diese Experimente waren vom Land genehmigt. Der Mann hatte seine Strafe erhalten. Kollateralschäden wurden geduldet.

Ich war machtlos.

Dabei war ich der Einzige des Experiments, der nicht machtlos gehandelt hatte. Ich hatte bestanden, alle Anderen waren durchgefallen.

Stolz spürte ich jedoch nicht.