Kapitel 32

 

Hatte er es nicht geahnt? Die war abgehauen. Er trat aufs Gas, aber auf dem ›Langen Jammer‹, wie die Straße zwischen Borgfeld und Horn-Lehe im Volksmund hieß, war trotz der vier Spuren Geschwindigkeitsbegrenzung, 50 km/h. Das ging so nicht. Schnell kurbelte er das Fenster herunter und setzte das Blaulicht aufs Dach. Gut, dass er das Ding mitgenommen hatte – als ob er es geahnt hätte. Jetzt konnte er auf die Tube drücken. Er flog über den Asphalt, vorbei an grimassierenden Gesichtern und offenen Mündern. Ja, glotztnur, ein Smart mit Blaulicht – was die alle dachten, war ihm im Moment wirklich schnurzegal.

Ausgerechnet jetzt – und offensichtlich überstürzt – zu verreisen, nachdem sie gerade so vornehm umgezogen war, das kam nicht von ungefähr. Das konnte ihm keiner erzählen. Da war was im Busch. Und die eigenartige Reaktion von Blaschke vorhin, die sprach doch Bände. Irgendwie musste da ein Zusammenhang bestehen, zwischen dieser ominösen Talkshow, Blaschkes Ermittlungen und der überstürzten Abreise. Aber was?

Wie viel Vorsprung hatte sie wohl? Wenn sie eine Stunde vor seiner Ankunft weggefahren war und er fast eine Stunde mit der Putzfrau herumgetrödelt hatte, dann machte das zwei Stunden. Das hieß, sie war jetzt höchstwahrscheinlich seit einer Stunde und 15 Minuten auf dem Flughafen, je nachdem, wie schnell das Taxi durch die diversen Nadelöhre des Bremer Stadtverkehrs gekommen war. Wie früh musste man heutzutage vor Abflug da sein? Eine Stunde oder mehr? Strehler hatte keine Ahnung. Seine letzte Flugreise war im Frühjahr 2007 gewesen, als seine Frau unbedingt eine Kreuzfahrt machen wollte. Östliches Mittelmeer. Ihr Geburtstagswunsch zum 40. Geburtstag. Sie hatten von Bremen über München nach Triest fliegen müssen. Das war eine Kugelfuhr gewesen, und teuer obendrein. Der Flughafen lag nämlich vor den Toren Venedigs, und der Taxifahrer war ganz offensichtlich nicht auf dem direktesten Weg zum Triester Hafen gefahren. Strehler hatte eine Stinklaune gehabt, als er an Bord ging.

Er raste über die Erdbeerbrücke auf den Autobahnzubringer. Er fluchte. Kein Wort hatte er Inge geglaubt, als sie über die Windempfindlichkeit des Smart bei höheren Geschwindigkeiten schimpfte. Ihm das weismachen zu wollen, obwohl sie jedes Mal neben ihm saß, wenn so ein Floh ihn auf der Autobahn mit 150 km/h überholte – das war schon dreist. Und dann im selben Atemzug damit anzukommen, wie schön doch ein Mini Cooper wäre. Wieder so ein kleines Ding, bloß wesentlich teurer. Aber der hätte doch viel mehr PS, das wäre was ganz anderes. Als er dann sagte, dass die Schwierigkeiten von ihren nicht ganz so brillanten Fahrkünsten herrühren könnten, war sie natürlich ausgerastet. Doch heute auf der Neuenlander Straße musste er seiner guten Inge Abbitte tun.

Endlich. Da vorn kam die Abbiegung zum Flughafen. Er ordnete sich auf der linken Spur ein. Hatte er da etwa ›Flughafenstadt‹ gelesen? Die waren ja größenwahnsinnig geworden. Oder er hatte sich getäuscht. Nun, zumindest war er richtig, wenngleich die Wegführung völlig anders verlief, als er sie in Erinnerung hatte. Neue Straßennamen, riesige Gewerbeareale, Gebäudekomplexe mit Logos bekannter Bremer Firmen – tatsächlich eine Stadt für sich. Wenigstens war die Strecke gut ausgeschildert, wenngleich das Flughafen-Piktogramm an recht unerwarteten Stellen auftauchte und er über Biegungen und Sträßchen gelotst wurde, die er nie in Erwägung gezogen hätte. Doch schließlich sah er die vertrauten Parkhäuser vor sich. Aber dort wollte er natürlich nicht hinein. Er schoss vorbei, direkt bis zu ›Abflug/Departures‹. Schon von Weitem sah er eine Lücke in der Kurzparkzone. Was für ein Glück, dass er den Smart genommen hatte. Da wäre er mit seinem Opel nie reingekommen, von dem großen BMW ganz zu schweigen. Doch als er dort ankam, musste er feststellen, dass die Lücke selbst für den Smart zu klein war. Das war noch nicht mal ein halber Parkplatz. Aber er musste hier rein, auf Biegen und Brechen. Also tat der Herr Hauptkommissar etwas Gesetzeswidriges. Er stellte den Smart quer. Er hatte nie begreifen können, dass das verboten war, bei dem knappen Parkraum in den Großstädten. Nur in München schien es toleriert zu werden – zumindest hatte er das mal gehört.

 

Jetzt stand er bei ›Abflug‹, aber den Abflug gab es doppelt: zum einen bei Terminal eins, zum anderen bei Terminal drei. Wohin, um Himmels willen? Strehler stürzte ins Gebäude, in die neu und nobel gestaltete Halle. Vor ihm die Großstädte der Welt auf dem Serviertablett, dahinter die Abflugzeiten und die Nummern der jeweiligen Check-in-Schalter. Doch plötzlich verschwammen die Buchstaben und Zahlen. Bodo Strehler, reiß dich zusammen. Er schaute auf die Uhr, er schaute auf die Anzeigetafeln. An drei Stellen blinkte es, und eine Destination konnte er gerade noch erhaschen, bevor sie am oberen Rand ins Jenseits rutschte. Amsterdam. Die KLM-Maschine war also weg. London, Frankfurt und Paris standen kurz vor dem Start.

Auf welchem Wege kam man von Bremen aus nach Samarkand? Wohl kaum über Paris. Das würde er vom Gefühl her ausschließen wollen. Aber die anderen? London und Amsterdam waren auch keine wirklichen Optionen, doch wer weiß, wie günstig die Verbindungen waren. Frankfurt – Taschkent? Ja, das konnte er sich am ehesten vorstellen.

Außer Amsterdam lauter Lufthansaflüge. Und nur die KLM war hier im Terminal eins. Er rannte zum Check-in-Counter und zückte seinen Dienstausweis.

»Sagen Sie, ist in der Maschine nach Amsterdam eine Paula Assmann?«

Die junge Blonde in der strengen Kostümjacke blätterte ihre Listen durch, langsam und gründlich. So langsam, dass man sie für eine Analphabetin hätte halten können. Strehler trat von einem Bein aufs andere. Nun fing auch noch seine Blase an zu drücken.

»Nein, tut mir leid, eine Paula Assmann habe ich nicht hier.«

»Wo ist denn der Lufthansaschalter?«

»Der ist in Terminal drei, ganz am anderen Ende.«

Der Weg war weit, viel zu weit. Wo waren denn bloß die WCs? Nirgends was zu sehen. Im ersten Stock gab es auf jeden Fall welche, das wusste er noch. Bevor er hier lange herumsuchte, lief er besser nach oben. Oder noch besser, er fuhr – mit der Rolltreppe. Da konnte er die Beine zusammenklemmen. Gott sei Dank, da drüben war es ja, wie er sich’s gedacht hatte. Ziemlich ärgerlich, aber was sollte er machen? Er konnte schließlich nicht in die Hose pinkeln.

Das Ganze kostete ihn mehr als fünf Minuten. Dann hetzte er wieder hinunterund durch die ganze Halle. Als er endlich am Terminal drei anlangte, war es für die Maschine nach London der Anzeigetafel nachschon zu spät.

»Hat bei Ihnen«, Strehler keuchte, er bekam kaum Luft, »hat bei Ihnen eine Paula Assmann eingecheckt?« Wieder wedelte er mit seinem Dienstausweis herum. »Nach London oder Frankfurt oder Paris?«

Die Antwort des Blauuniformierten kam wie aus der Pistole geschossen. Ja, Paula Assmann war in dem Flieger nach London. Und der war soeben auf Startposition eins gerollt und hob jeden Moment ab.

»Oh nein.« Strehlers Schultern rutschten eine Etage nach unten. Ausgerechnet der London-Flug. Bis er die britischen Kollegen um Amtshilfe bitten konnte, war die über alle Berge. Das heißt – er konnte ja gar nicht um Amtshilfe bitten. Paula Assmann ging ihn offiziell nichts mehr an. Der Chef würde toben, wenn er das erführe. Und was, mein lieber Strehler, haben Sie diesmal zu bieten? Wo sind die konkreten Fakten? Oder ist das wieder nur Ihre meisterliche Intuition?

So ein verdammter Mist. Er rang sich ein halbherziges Dankeschön ab und marschierte Richtung Ausgang. Plötzlich blieb er stehen. Da stimmte doch was nicht. Das war doch … Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte zum Check-in zurück.

»Woher wussten Sie so schnell, dass Frau Assmann in der Maschine ist? Die Kollegin bei der KLM musste ewig lange in ihren Listen suchen.«

»Nun, Sie sind bereits der Zweite, der nach Frau Assmann fragt. Beziehungsweise nach Frau Assmy. Vor etwa fünf Minuten war schon mal ein Herr da. Aber der konnte sie auch nicht mehr erreichen. Da ist die Maschine nämlich bereits Richtung Startbahn gerollt.«

 

Strehler saß regungslos in dem verqueren Smart, an dessen Windschutzscheibe nun ein Knöllchen prangte. Aber das interessierte ihn nicht die Bohne. Ihn interessierte nur eins: War das dieser blöde Blaschke gewesen? Und wenn ja, wie war der auf die Idee mit dem Flughafen gekommen? Auch über die Putzfrau? Und was zum Teufel hatte sich vorher abgespielt?

Komisch nur, dass der Lufthansa-Mensch ›Assmann, beziehungsweise Assmy‹ gesagt hatte. Würde Blaschke den Namen Paola Assmy überhaupt kennen? Wenn er ferngesehen hatte, ja. Wenn nicht … Wer konnte es dann gewesen sein? Er war sich mehr und mehr sicher: Alles musste mit dieser Talkshow zusammenhängen. Irgendwie. Nur wie? Wortfetzen geisterten in seinem Kopf herum. Wenn er die nur noch zusammenkriegen würde. Morbide Fantasie? Unmoral?

Strehler startete den Wagen. Oh, hätte man ihn nur machen lassen! Dann wäre alles nicht so weit gekommen. Automatisch fuhr er den Richtungspfeilen nach, so lange, bis er an eine Ampel kam. Geradeaus hieß es ›City‹, rechts war ein Autobahnschild. Er wollte jetzt nicht durch die Stadt, nicht bei dem ganzen Weihnachtstrubel, den er sowieso hasste. Nein, er wollte auf dem gleichen Weg zurück, wie er gekommen war. Über den Autobahnzubringer zur Erdbeerbrücke, das war auch der kürzeste Weg zum Präsidium. Autobahnzubringer – das hieß Richtung Autobahn.

Schlüsselroman. Alter Ego. Jetzt hatte er’s. Paula Assmann selbst war die Hyänenfrau.

Es begann leicht zu schneien. Er stellte die Scheibenwischer an. Herrgott nochmal, war das eine Schmiere, da konnte man ja kaum was erkennen. Typisch Inge – zu faul, mal neue Wischblätter zu besorgen. Außerdem wurde nun auch noch das Knöllchen zermalmt, das er vergessen hatte. Auch das noch.Aber er mochte jetzt nicht aussteigen. Irgendwie würde es schon gehen. Bei so einem Wetter blieb man am besten zu Hause. Hm. Wetter. Trekkingtour. Samarkand. Im Dezember. Ob das stimmte? Die Temperaturen waren dort jetzt eher niedriger als hier in Bremen. Usbekistan war schließlich nicht Mallorca. Das Ganze war doch abwegig.

Eine Finte? Vielleicht wollte die Assmann ganz woanders hin und hatte ihrer harmlosen Putzfrau einen Bären aufgebunden. Ja, das war’s. Das musste es sein. Sonst wäre sie bestimmt in dem Flieger nach Frankfurt gewesen, und nicht in dem nach London. Die hatte sie alle zum Narren gehalten.

A 1 Osnabrück – Hamburg, A 27 Bremerhaven – Cuxhaven, A 281, was war denn das? Wo um alles in der Welt musste er hin? Strehler hatte auf einmal die Orientierung verloren. Und nein, er wollte nicht auf die Autobahn, in keine dieser Richtungen. Er hatte genug von Wind und Wetter und Tempo in dem kleinen, wackeligen Smart. Er wollte nur noch zurück auf die Neuenlander Straße, und dann alles wie gehabt. Für einen Moment schoss ihm die törichte Idee durch den Kopf, das kurze Stück rückwärts zu fahren, aber dafür müsste er wieder das Blaulicht in Gang setzen. Aber selbst mit Blaulicht war das nicht okay. Und wehe, wenn dann noch ein Kollege kam. WomöglichBlaschke. Nein, es half alles nichts, Augen zu und durch.

Als er die Augen wieder aufmachte, war er auf der B 75, aber leider in der falschen Richtung. Auf dem Weg nach Delmenhorst. Schiet, Schiet, Schiet. Wie hatte das nur passieren können? Das war ja die reinste Himmelfahrt. Oder Höllenfahrt. Und über ihm das entnervende Motorengeräusch der Flugzeuge. Es dröhnte höhnisch in seinem Kopf, es dröhnte das kleine Auto voll. Er stellte das Radio an. ›Bremen Eins. Der Nachmittag‹: »Und mit dem folgenden Song grüßt Petra aus Findorff ihren lieben Freund Peter in Huckelriede.«

 

 

Über den Wolken

muss die Freiheit wohl grenzenlos sein

alle Ängste, alle Sorgen, sagt man,

blieben darunter verborgen und dann

würde, was uns groß und wichtig erscheint,

plötzlich nichtig und klein.

 

 

E N D E