Kapitel 13

 

Dass er so eine Phobie hatte, das fand sie schon skurril. Ein phobischer Psychiater, das musste man sich auf der Zunge zergehen lassen. Nun, wahrscheinlich war so mancher Seelenklempner zu seinem Beruf gekommen, weil er seinen eigenen Problemen auf den Grund gehen wollte. Diesen Verdacht hatte sie schon lange gehabt.

Moritz selbst hatte es ihr nie gesagt. Es war Tommy gewesen. Nicht, dass der Junge petzen wollte, aber als sie den Vorschlag machte, zu dritt in den Zirkus zu gehen, da musste er wohl oder übel mit der Wahrheit herausrücken.

Eine Clownsphobie. Davon hatte sie noch nie gehört. Zuerst konnte sie es gar nicht glauben, sie dachte, Tommy habe das erfunden – vielleicht, weil er sich vor dem Zirkusbesuch drücken wollte. Aber dann hatte sie nachgeschaut, unter Phobien, und siehe da, sie wurde fündig. Coulrophobie: pathologische Angst vor verkleideten Menschen mit grell geschminktem Gesicht. Gehörte zu den zehn häufigsten Phobien. Sogar Johnny Depp litt angeblich darunter. Und irgend so ein Rapper, den sie nicht kannte, hatte sogar eine entsprechende Klausel in seinem Vertrag.

Aber sie würde sich nichts anmerken lassen, sie wusste von nichts, das hatte sie Tommy versprechen müssen. Nur gut, dass Moritz weder an Gynäkophobie noch an Coitophobie litt – seit ihrer Recherche war sie Expertin.

Sie waren jetzt schon über sieben Monate zusammen, es schien wirklich mehr als eine Affäre zu sein. Dass sich so ein fantastischer Mann – er ähnelte Michel Piccoli in dessen besten Jahren – in sie verliebt hatte, das war schon unglaublich. Schließlich war sie kein Teenager mehr.

Vielleicht raffte er sich ja an ihrem Geburtstag auf, ihr einen Antrag zu machen. Am 13. Juli, der diesmal auf einen Freitag fiel. Nein, sie war nicht abergläubisch, schließlich hatte sie sich an einem Freitag, dem 13. zu ihrer Magisterprüfung angemeldet. Und die war ein rauschender Erfolg geworden. Angst vor Freitag, dem 13. war die unaussprechlichste aller Phobien, die sie ausfindig gemacht hatte – das Wort war so abgefahren, dass sie es auswendig lernen musste: Paraskavedekatriaphobie. Da musste mal ein Sprachwissenschaftler ran, das wäre doch interessant.

Aber es kam anders. Moritz war verhindert. Ein angeblich unaufschiebbarer Termin mit seiner Ex. Hätte er das nicht anders regeln können? Nein, hätte er nicht. Hethel konnte nur an diesem Tag. Hethel. So ein blöder Name.

Was tut eine Frau gegen solchen Frust? An ihrem Fünfundvierzigsten? Sie geht shoppen. Roland Moden, Peek & Cloppenburg, Galeria Kaufhof, Karstadt – das waren ihre Stationen. Und genau bei Karstadt passierte es wieder. Diesmal in der Herrenabteilung, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Aber ihr war im Vorbeigehen eine richtig aparte Krawatte ins Auge gesprungen. Die er allerdings nicht verdient hatte.

»Alles viel zu billig. Alles Ramsch. Lass uns in Hamburg schauen, die haben wenigstens Armani und Joop und solche Sachen.«

Sie drehte sich um und starrte in die graugrünen Katzenaugen eines Rotschopfs, der am Arm von Moritz Claussen hing. Dahinter stand Tommy und popelte hingebungsvoll in der Nase.

 

Paula seufzte. Konnte sie das Textfragment, in dem sie Hethel anfangs karikiert hatte, noch verwenden? Was sollte mit Hethel geschehen? Sollte sie sie wirklich umbringen? Nein, damit war das Problem nicht gelöst.

 

Ihm sei klar geworden, dass er Hethel immer noch liebe. Und nicht nur, weil sie die Mutter seines Sohnes war.

»Es tut mir leid, das kannst du mir glauben. Es war wunderschön mit dir, ganz wunderschön, aber …« Aber auf Dauer, nein, das gehe nicht. Ja, er sei verliebt gewesen, wirklich und wahrhaftig, mit Schmetterlingen im Bauch und allem Drum und Dran. Und ja, er habe sie begehrt, sehr sogar. Aber Liebe, richtige Liebe, das sei es nie gewesen. Selbst wenn es Hethel nicht gebe – die Sache mit ihnen beiden habe einfach keine Zukunft. Das würde nie klappen.

 

Paula brach der kalte Schweiß aus, und das in dem überhitzten Zimmer. Wo blieb ihre kritische Distanz?

 

»Ladendiebstahl? Was soll das? Damit willst du mich erpressen?« Er lachte schallend. »Nicht nur, dass das Ganze ewig her ist und überhaupt nicht zu beweisen – du hast doch gar keine Ahnung, was da wirklich abgelaufen ist.«

Und dann kam tatsächlich jene abstruse Erklärung mit all den psychologischen Details und unverständlichen Fachtermini, die sie vorausgesehen hatte. Ja, klar. Eine Art Konfrontationstherapie. Um Tommys latente Veranlagung zur Kleptomanie zu bekämpfen.

Raffiniert. Aber auch sie verstand sich auf Plotting und Komplott. Doch dazu mussten erst die Schwachstellen erkundet werden.

Ha! Da war doch diese panische Angst vor Clowns.

Sie begann, das Thema Coulrophobie genauer unter die Lupe zu nehmen. Material gab es reichlich. »Schminke macht maskenhaft. Masken bauen Barrieren auf. Sie sind undurchdringlich, man weiß nicht, was dahinter lauert, ob Gutes oder Böses.« Es gab Killer-Clowns. Clowns erschienen als bestialische Mörder, in Romanen, in Filmen. Bei Stephen King beispielsweise. Und was war mit Masken bei Raubüberfällen? Die passten doch auch in dieses Schema.

 

Natürlich legte er wortlos auf, kaum, dass er ihre Stimme erkannt hatte. Aber so einfach kam er ihr nicht davon. Sie würde zu ihm fahren.

Paula zog ihren Anorak an und ging zur Garage, um das Auto herauszufahren. Jetzt stand doch schon wieder dieser blöde Camaro vor ihrer Einfahrt. Der war ihr in letzter Zeit öfter aufgefallen. Wer fuhr denn heute noch so ein altes Ding? Zuhälter-Auto hatte Markus die Karre mal genannt, in den Siebzigern und Achtzigern war sie Kult gewesen. Aber da saß ja einer drin. Sie klopfte an die Scheibe.

»Merken Sie nicht, dass Sie meine Einfahrt blockieren?«

»Oh, Entschuldigung.« Zigarettenrauch quoll ihr entgegen, so dick, dass sie den Mann kaum erkennen konnte. »Ich fahr ja schon weg.«

Und blitzschnell war die Scheibe wieder zu.

 

»Halt, warten Sie, lassen Sie mich mit rein. Ich muss zu Sternberg.«

Schnell schlüpfte Paula durch die Haustür und eilte in den dritten Stock. Sie läutete Sturm. Nichts. Dieser Feigling. Wieder drückte sie auf die Klingel. Sie würde den Finger erst wegnehmen, wenn er aufmachte.

»Paula! Was willst du?«

Gerade mal eine Handbreit hatte Simon die Tür geöffnet. Aber schon klemmte sie den Fuß dazwischen.

»Lass mich rein. Oder möchtest du, dass das ganze Treppenhaus mithört?«

Widerwillig gab er nach. Er war allein, das traf sich gut.

»Also, du bist doch das letzte Schwein. Weißt du, dass ich dich verklagen könnte? Wegen übler Nachrede?«

»Na, dann tu’s doch.«

»Ja, ich werde es auch tun. Gleich nachher rufe ich Lukas an. Das wird ein Kinderspiel für ihn sein. Schließlich können es alle bezeugen.«

»Wer soll was bezeugen?«

»Markus und Becca und Jule und … und natürlich Nikki, ja, ganz besonders Nikki.«

»Habe ich etwa mit Markus gesprochen? Oder mit Becca und Jule? Die habe ich allesamt seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

»Aber Nikki.«

»Warst du dabei? Und woher soll ich wissen, was Nikki wem erzählt? Meine Liebe, da bist du auf dem Holzweg.«

»Aber offenbar weißt du ganz genau, wovon ich rede. Also hast du’s auch gesagt.«

»Du hast schon eine ganz spezielle Logik. Doch mit der kommst du nicht weit.«

»Und was ist mit dem blöden Weihnachtsstern und der toten Taube und der toten Katze?«

»Hä? Weihnachtssterne und tote Tauben und Katzen? Was soll das jetzt?«

»Als ob ich dir das erklären müsste.«

»Spinnst du jetzt ganz? Dich kann man ja wirklich nicht mehr ernst nehmen.«

»Ich denke doch. Du wirst dich noch wundern!«

 

Sie musste dahinter kommen, woher diese Clownsphobie rührte. Aber wie? Der Kontakt zu Moritz war seit seinen offenen Worten – sie vertrug doch offene Worte, oder nicht? – gänzlich abgerissen. Also blieb nur noch Tommy. Sie konnte ihn nach der Schule abfangen, seinen Stundenplan hatte sie noch immer im Kopf.

Allerdings – wenn Moritz irgendwann ein Unfall zustieß und die Polizei herausbekam, dass sie Tommy ausgehorcht hatte, dann würde sie im Handumdrehen verdächtig.

Was wusste sie von Moritz? Das einzig Unnormale, das ihr einfiel, war dieser Herzinfarkt, den er mal erwähnt hatte, ohne näher darauf einzugehen.

So ein Herzinfarkt kam doch nicht aus heiterem Himmel, nicht mit Mitte 30. Immerhin hatte sie aus ihm herauskitzeln können, dass es so etwa zehn Jahre her war. Was war damals geschehen?

Vielleicht sollte sie Hethel in die Mangel nehmen. Dazu müsste sie allerdings in den sauren Apfel beißen und dieses unsägliche Lass-uns-Freunde-bleiben-Spiel mitspielen.

 

Die besten Ideen kamen ihr morgens, so zwischen fünf und sechs. Das ging zwar auf Kosten ihres Schönheitsschlafes, aber das war ihr im Moment egal. Hauptsache, die Handlung kam voran. Und so zimmerte Paula an der Freundschaft zu Hethel. Und Hethel machte mit.

 

Gestern waren wir im Theater, stell dir vor! Mein grünes Samtkleid hab ich angehabt, du kennst es doch, das, was mir Frau Unstrut verkauft hat. Es würde fantastisch zu meinen Haaren passen, hat sie gesagt. Rot-grün, das sind doch Komplimentierfarben. Solches Haar hätte sie noch nie gesehen, hat sie gesagt, wirklich nicht. Ich hab es erst letzte Woche kürzen lassen. Das Kleid. Alle haben mich bewundert, stell dir das mal vor! Und Moritz, der hatte die todschicke Armani-Krawatte um, weißt du, die, die ich neulich für ihn ausgesucht habe, neulich, als wir in Hamburg waren. In dem teuren Herrengeschäft in der Mönckebergstraße, links neben der Parfümerie.

 

Es half alles nichts – Paulas Heldin musste dieses seichte Geschwätz über sich ergehen lassen, auch wenn es noch so schwerfiel. Nur so konnte die Intrige gesponnen werden.

 

Endlich. Endlich kam Hethel auf den Punkt. Sie hatte es doch geahnt, dass die sich mal verplappern würde. Natürlich hatte sie Hethel das Stichwort gegeben: Zirkus. Genauer gesagt, dass der ›Cirque du Soleil‹ nach Bremen komme, mit seinem nagelneuen Programm. ›Alegria‹. So hochgelobt, dass man sich das einfach nicht entgehen lassen dürfe. Besonders die Clownsnummern sollten phänomenal sein.

Das sei nichts für Hethel? Ach nein? Na, so was. Aber warum denn nicht?

Nun, der gute Moritz war tatsächlich in einen Banküberfall geraten. Damals, in der Sparkassenfiliale im Steintor. Die beiden Kerle mit den Clownsmasken – das hatte doch groß und breit in der Zeitung gestanden. Ja, und der eine hatte Moritz die Pistole an die Schläfe gehalten, während der andere das Geld einsackte. Und als die beiden schließlich türmen wollten, löste sich ein Schuss und die Kugel verfehlte Moritz um Haaresbreite. Und Moritz sackte zusammen. Aber nicht, weil er getroffen worden war, sondern weil er einen Herzinfarkt bekommen hatte. Drei Wochen hatte er im Krankenhaus gelegen, und dann monatelang bei einem Kollegen auf der Couch. Der konnte ihm auch ganz gut helfen, aber das mit den Clowns hatte er nicht in den Griff gekriegt. Das heißt, das wäre sogar fast schiefgegangen. Als der Kollege nämlich eine besondere Therapie ausprobierte.

Konfrontationstherapie?

Ja, genau, und da hatte Moritz noch mal einen Herzanfall bekommen, aber nur einen leichten. Also, deshalb würden sie auch nie in den Zirkus gehen. Schade. Ob sie beide vielleicht miteinander hin könnten, zu ›Alegria‹? Ohne Moritz?

 

Paulas Plan war jetzt klar. Der Plan hieß Halloween. Halloween Horror Nights. Die Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November.