Kapitel 1
Paula rannte die Treppe zum Konzertsaalhinauf. Sie war mal wieder zu spät dran. Robert würde schon mit den Fingern trommeln.
Die Klingel schrillte jetzt bereits zum dritten Mal, es wurde wirklich knapp. Unter den stechenden Blicken des Saaldieners schlüpfte sie gerade noch rechtzeitig zur Tür hinein. Geschafft. Sie schaute sich um. Reihe 9, 8, 7, 6. Ja, hier. Reihe 5, Sitz 12, ziemlich genau in der Mitte. Gute Karten, teure Karten, wie immer. Während Cello, Violine und Co. schon plim-plom machten, quetschte sich Paula an beiseite gedrückten Knien vorbei.
»Entschuldigung, danke, ’tschuldigung, danke sehr.«
Schief lächelte sie auf dunkle Anzüge und teure Seidenkostüme hinunter, die sich an ihren Jeans rieben. Na, endlich. Sie ließ sich auf ihren Sitz fallen, zwischen Johannes und Robert.
»Tut mir leid, der Workshop hat länger gedauert, da hab ich den Bus verpasst, und …«
Roberts Blick machte weitere Erklärungen überflüssig. Paula wusste genau, worüber er sich ärgerte. Nicht nur, weil sie zu spät dran war. Oh nein. Er selbst saß da wie aus dem Ei gepellt, wie es sich für einen arrivierten Mittsechziger gehörte. Sie strich sich die feuchten Kringel aus der Stirn – ein brandneuer Afrolook, der nicht ganz altersgemäß war – und beugte sich zu Johannes, um ins Programm zu schauen. Ah ja, nun fiel es ihr wieder ein. Erst zwei Violinkonzerte von Mozart, das Dreier in G-Dur und das Fünfer in A-Dur, dann das Tripelkonzert von Beethoven.
Die Geräuschkulisse, die um das übliche Hüsteln angeschwollen war, verebbte plötzlich. Dann setzte Applaus für den Maestro ein, der zum Dirigentenpult schritt. Er war der Lokalmatador, das merkte man sofort. Sein Ruf war allerdings noch kaum über die Region hinausgedrungen. Dasselbe galt wohl auch für den jungen Geiger, der jetzt erschien und sich linkisch verbeugte. Doch das Raunen, das plötzlich durch die Reihen ging, ließ Paula stutzen. Hatte sie da was verpasst? War der womöglich doch eine Koryphäe? Sie schaute noch mal in Johannes’ Programm. Maximilian Hornbogen. Hornbogen? Nein, da klingelte nichts bei ihr. Na, mal abwarten, was der zu bieten hatte.
Paula liebte Musik. Allerdings nicht nur klassische. Sie mochte alles Mögliche, Jazz, Swing, Chansons, Latin – und, um ehrlich zu sein, auch die Oldies aus ihrer Jugendzeit. Die Songs der Sechziger- und Siebzigerjahre, die Robert so abtat, die aber in gewissen Kreisen inzwischen Kult waren.
Eigentlich war es ein Opfer, dieses Abonnement. Nicht, dass sie ein Snob gewesen wäre, aber manchmal musste sie Sachen über sich ergehen lassen, die sie aus freien Stücken nicht ausgesucht hätte. Wenn sie dann auch noch mittelmäßig gespielt wurden und sie von rechts und links dieses unsägliche ›Er hat sich aber Mühe gegeben!‹ hörte, dann platzte ihr fast der Kragen. Dann musste sie an ihren verstorbenen Patenonkel denken. Das wäre das Schlimmste, so Onkel Paul, was man über einen Künstler sagen konnte. Sein Todesurteil. Und Onkel Paul musste es schließlich wissen, denn er war selbst Sänger und Tänzer gewesen, und zwar nicht hier in der Provinz, sondern im Berlin der Zwanzigerjahre.
Dass Musikhören zu Hause am gemütlichsten war, so bequem aufs Sofa gelümmelt, mit Wein und Knabberzeug, das war klar. Da konnte sie hören, was sie wollte und so oft sie es wollte und so laut sie es wollte. Auf der anderen Seite musste sie zugeben, dass es schon etwas hatte, bestimmteKünstler live zu erleben. Wenn sie nur an das Konzert mit Daniel Barenboim dachte, letztes Jahr in Berlin – einfach hinreißend. Da war gerade sie diejenige gewesen, die am liebsten auf die Bühne gestürmt wäre und den Meister hemmungslos umarmt und mit Rosen überschüttet hätte.
Die Musik hatte nun eingesetzt. Ruckartig brachte sich Maximilian Hornbogen in Positur und warf das dünne blonde Haar zurück. Mit entschlossener Miene setzte er seinen Bogen an.
Paula atmete tief durch. Was der junge Geiger da geigte, das war erstaunlich gut. Sehr gut sogar. Da gab es wirklich nichts zu kritteln. Paula entspannte sich. Sie schloss die Augen und ließ sich von Mozarts und Maximilian Hornbogens Behändigkeit vereinnahmen.
Pause. Die dezent transpirierenden Abonnenten – Paula hatte eine feine Nase – drängelten ins Foyer, um sich bei einem Gläschen Sekt abzukühlen. Und natürlich, um zu sehen und gesehen zu werden. Und um mit geistreichen Kommentaren zu glänzen.
»… bei Weitem besser als die Gottzky in der vergangenen Saison, seine Strichführung ist einfach genial …«
»Na, ich weiß nicht, er setzt vielleicht doch ein bisschen zu schroff auf an manchen Stellen …«
»Aber, aber, da ist doch Verve dahinter, das Feuer der Jugend – und wenn man bedenkt, dass er erst am Anfang seiner Karriere steht …«
Paula seufzte.
»… kein einziger Aussetzer, brillant durchgestanden. Und das ohne Noten. Was für eine Gedächtnisakrobatik! Die Verbannung von Pult und Noten – das heißt Entblößung. Keine Notenpultbarriere. Das heißt direktes musikalisches Kommunizieren.«
Guter Gott, das war ja der Steinkötter. Prof. Dr. Steinkötter von der Musikhochschule. Genauer gesagt, von der Hochschule für Künste. Steinkötter galt als der Musikpapst der Stadt, einer, der keine Gelegenheit ausließ, mit seiner fachlichen Omnipotenz zu protzen. Aber was hieß da Papst – der Gott der Bremer Musikwelt.
Paula wandte sich ab. Musste der sich immer so aufspielen?
»Was halten Sie von Hornbogens austariertem Klangensemble?«, ging es hinter ihrem Rücken weiter.
Austariertes Klangensemble. Sie verdrehte die Augen.
»Na, Paula, was machst du denn für ein Gesicht? Als ob du Kröten geschluckt hättest. Gefällt es dir mal wieder nicht?«, fragte Robert.
»Doch, doch, mir gefällt’s. Das ist es nicht.«
»Was denn sonst?«
»Hat nichts mit der Musik zu tun.«
»Dann bin ich aber beruhigt.« Robert verzog die Mundwinkel. »Nicht wahr, Johannes? Nicht wahr, Becca?«
Johannes legte den Arm um Paula. »Schön, dass du doch noch gekommen bist. Wir sehen uns viel zu selten in letzter Zeit. Übrigens, du schaust blendend aus.« Er drückte sie kurz an sich. »Wartet, ich hol euch beiden Hübschen was zu trinken. Wie wär’s mit einem Sekt?«
Becca nickte, doch Paula schüttelte den Kopf. Nein, bloß nicht dieses süßliche Gesöff, dashier immer so warm und abgestanden war. Außerdem hatte sie jetzt wirklich Durst.
»Ach, bring mir doch lieber ein Pils.«
»Musst du dich hier wie ein Bierkutscher aufführen? Deine Aufmachung ist ja schon danach.«
»Jetzt hab dich nicht so, Robert. Jeans und Blazer sind doch heute in.« Von dem verwaschenen T-Shirt mit dem Aufdruck: ›1964‹ sprach Johannes vorsichtshalber nicht.
»Wahrscheinlich sollte ich noch dankbar sein, dass sie nicht in Turnschuhen gekommen ist.«
»Ach, hört doch auf, es ist genug.« Becca hakte sich bei Paula unter. »Hol uns endlich was zu trinken, Johannes. Komm, sei ein Schatz. Wir verdursten hier sonst noch.«
Wieder hörte Paula, wie Steinkötter sich hinter ihr aufplusterte.
Sie blickte zu ihm hinüber. Ja, genau. Das war die andere Sache, die sie immer wieder auf die Palme brachte. Leute wie er. Die alles kommentieren mussten. Die alles besser wussten. Auch wenn sie es selbst nicht annähernd so gutkonnten. Nach dem Eunuchenprinzip: Aber wir wissen, wie’s geht.
Paula hatte es übrigens neulich am eigenen Leib zu spüren bekommen, allerdings in anderem Zusammenhang. Als sie nämlich Robert die Kurzgeschichte zeigte, die sie im Workshop geschrieben hatte. Sein ganzer Kommentar war »schlechter Stil«, obwohl er selbst hundsmiserabel schrieb. Er hatte bei seinen Publikationen immer einen seiner Studenten einspannen müssen, damit das Zeug lesbar wurde. »Schlechter Stil, Paula, ganz schlechter Stil.« Mecker, mecker. Dieser Erbsenzähler. Und über den pfiffigen Inhalt kein Wort. Na ja, es war das erste und letzte Mal, dass sie ihm was zu lesen gegeben hatte.
»Hier, eure Getränke.«
Johannes hatte lange gebraucht, um die Gläser heil an all den Grüppchen vorbeizujonglieren. Allzu lange, denn die Pausenklingel schrillte nun schon zum dritten Mal. Paula stürzte ihr Bier in zwei Zügen hinunter.
Der Maestro stand bereits wieder am Pult, und zu Hornbogen hatten sich nun eine füllige Pianistin und ein noch fülligerer Cellist gesellt. Hoffentlich verhunzten die drei das Tripelkonzertnicht.
Aber nein, das taten sie nicht. Weder beim Allegro, noch beim Largo, noch beim Rondo. Und zugegeben, hier im großen Saal war die Akustik wirklich gut. Seit dem Umbau vor etlichen Jahren war sie sogar noch besser geworden. Im kleinen Saal allerdings bekam man nach wie vor das Rattern und Quietschen der Straßenbahn mitgeliefert.
Paula lächelte vor sich hin. Doch da schien sie die Einzige zu sein – um sie herum nur ernste Gesichter. Ach ja, das war’s mal wieder. Beethoven war eben doch eine ernste Angelegenheit. E-Musik. Todernst, wie der Name schon sagte. Der gute Ludwig musste sich doch im Grabe umdrehen. Dabei legten sich die drei da vorn so ins Zeug. Man sah doch, dass sie mit Spaß an der Freud dabei waren.
Aber sie bekamen ihren Applaus. Der Beifall war sogar richtig frenetisch, trotz der Grabesmienen vorhin. Trio und Dirigent fassten sich an den Händen und verbeugten sich tief. Sie strahlten.
Paula stand auf und ließ sich mit den anderen hinausschieben, das Leitmotiv des ersten Satzes nicht nur im Kopf.
»Musst du jetzt auch noch pfeifen?«
»Warum nicht? Was stört dich denn daran? Denkst du, die Komponisten haben nie gepfiffen? Was glaubst du denn, wie die überhaupt komponiert haben?«
Ohne auf Roberts Antwort zu warten, wandte sie sich ab. Sie ging zu Becca und Johannes hinüber, die bereits an der Garderobe standen.
»Sagt mal, hättet ihr nicht Lust, mit ins ›Hofbräuhaus‹ rüberzugehen?«
Die beiden nickten. Ja, eine prima Idee. Und flugs packten sie Robert am Arm und zogen ihn mit sich fort.
Im ›Hofbräuhaus‹ war es brechend voll, und es dauerte, bis die Männer vier Plätze gesichtet hatten. Plätze mit Pferdefuß allerdings, wie sich sehr schnell herausstellte. Der Pferdefuß hieß natürlich Prof. Dr. Steinkötter nebst Ehefrau Irmel. Paula wand sich. Ganz anders natürlich Robert.
»Ach, lieber Steinkötter! Gnädige Frau! Das ist aber schön, Sie hier zu treffen. War das nicht ein gelungenes Konzert? War das nicht beeindruckend, was der junge Hornbogen da geboten hat?«
Blablabla. So würde das nun endlos weitergehen. Vergebens versuchte Paula, Robert auf einen Vierertisch in der hintersten Ecke aufmerksam zu machen, wo gerade gezahlt wurde. Aber nein, er schüttelte ihre zupfenden Finger ab und zwang sie alle entschlossen an den Steinkötter-Tisch.
Und es wurde schlimm. Die Steinkötters, die nicht nur über Sachverstand, sondern auch über viel Geld – ererbtes Geld – verfügten, konnten es natürlich nicht bei der Diskussion der Hornbogenschen Qualitäten belassen.
Mitnichten. Waren sie doch eben aus Sydney zurückgekommen, wo sie den fantastischen Quasimodo gehört hatten. Ja, und vorher hatten sie Georges Pimpernelle mit den New Yorker Philharmonikern erleben dürfen. Mit Beethovens Neunter, grandios, unbeschreiblich grandios. Aber abgesehen davon, der Höhepunkt war vor drei Monaten gewesen, das Konzert mit Laura Bezell in der Royal Albert Hall, ja, das hatte bei Weitem alles übertroffen. Was, sie hatten nicht davon gehört? Die Londoner unter dem Dirigentenstab einer Frau? Das war an ihnen vorbeigegangen? Dieser Mega-Event? Nicht zu glauben.
Wie immer in solchen Situationen fing Paula zu schwitzen an. Sie spürte Tröpfchen auf der Stirn, ihr linkes Auge zuckte. Der Jeansbund klebte nun an ihrer Taille, und das pinkfarbene T-Shirt zeigte wahrscheinlich schon dunkle Flecken unter dem BH-freien Busen.
»Bin gleich zurück.«
Sie zwängte sich an der echauffierten Irmel Steinkötter und Johannes vorbei und verschwand in Richtung Ausgang. Allerdings nicht, um sich frisch zu machen. Paulas Abgang war ein endgültiger.