Kapitel 15
Robert war zurück und offensichtlich erholt – wenn braungebrannte Haut ein Indiz dafür war. Ansonsten gab er sich maulfauler denn je. Fragte natürlich auch nicht, was sie in seiner Abwesenheit getan hatte, wie es ihr ergangen war. Ob er womöglich jemanden kennengelernt hatte? Vielleicht ein kleiner Urlaubsflirt, als Retourkutsche? Na, und wenn schon.
Gleich am Tage nach seiner Ankunft allerdings entwickelte er eine ungewohnte Geschäftigkeit. Musste dringend in die Stadt, was erledigen. Sie hakte gar nicht erst nach. Sollte er doch machen, was er wollte. Und als er am Abend zurückkam, war er in ganz komischer Stimmung. Wenn der glaubte, dass sie seine Launen mitmachte …
Dann aber bekam er doch noch die Zähne auseinander. Er hatte Johannes im Baumarkt getroffen, und der meinte, sie sollten sich doch alle mal wieder treffen, nach so langer Zeit. Er hätte doch sicherlich viel zu erzählen, von seinem Urlaub.
»Und? Was hast du gesagt?«
»Was soll ich schon gesagt haben? Ja, natürlich. Mir blieb ja wohl nichts anderes übrig.«
Es traf sich gut, dass er eine Unmenge Bildmaterial mitgebracht hatte. Nein, diesmal nicht mit der Sechs-mal-Sechs-Kamera von Paulas Vater, die sie ihm nach dessen Tod geschenkt hatte und die er wie seinen Augapfel hütete. Eine Rarität, diese Kamera, aber das konnten nur wirkliche Kenner sehen. Die diebischen Straßenkinder von Bogotá hatten nur müde abgewinkt, als Robert ihnen provokativ das alte Ding mit seinem ausgeklappten Balg hingehalten hatte. Nein, diesmal hatte er den Camcorder benutzt, den ihm Markus vor einiger Zeit besorgt hatte. Paula war sofort klar gewesen, wie Markus zu diesem Gerät gekommen sein musste, wo er doch ständig pleite war. Aber sie hatte den Mund gehalten.
»Und wie stellst du dir das Ganze vor?«
Nun, ganz einfach. Sie machten einen geselligen Abend, so wie früher, nur eben nicht mit Dias. Aber mit Sangria und Kanapees.
»Ja, spinnst du denn? Sangria, mitten im Winter, bei dieser Eiseskälte?«
Und sie sollte sich in die Küche stellen und für sieben Leute Schnittchen machen? Schnippeln, buttern, belegen, und dann auch noch mit Oliven, Gürkchen, Zwiebelringen, Kapern und Sardellen dekorieren?
»Kommt gar nicht in Frage. Rotwein und Bier, Käsewürfel und Kräcker. Mehr ist nicht drin. Höchstens, wenn du deine Kanapees selbst machst.«
Aber nein, das tat Robert natürlich nicht, das hatte er ja schließlich noch nie gemacht. Und sie gab auch keinen Millimeter nach. Also eine schlichte Einladung nach dem Abendessen. Nur zu einem Umtrunk mit Teneriffa-Impressionen.
Aber bis es mit den Impressionen losgehen konnte, musste Paula so einiges über sich ergehen lassen. Zum Beispiel, dass Johannes jetzt mit Power Walking angefangen hatte. Becca hatte ihm nämlich zu Weihnachten Hanteln geschenkt. Die nahm er jetzt immer auf seinen Märschen mit, das erhöhte den Kalorienverbrauch und steigerte die Muskelkraft. Ob es auch die Manneskraft stärke? Oh Markus. Becca machte beim Power Walking natürlich nicht mit – obwohl ihr das gut täte. Sie hatte nämlich übers Fest kräftig zugelegt. Das stellte wohl auch die gute Charlotte fest, denn die fing gleich von Schönheitsoperationen an. Von Fettabsaugen, Brustvergrößerung, Brustverkleinerung, Botox, Kinnstraffung und Schlupflid-OP. Anscheinend hatte sie eine gründliche Internetrecherche hinter sich. Sie hatte sich von Lukas einen Aufenthalt in einer renommierten Bodensee-Klinik gewünscht, aber der war ja so was von knauserig. Man müsse doch das Geld zusammenhalten, sonst würde man im Ruhestand darben. Dieser Geizhals.
Und dann ging’s los: Blick auf die graubraune Landefläche vom Flugzeug aus. Blick auf graubraune Areale vom Mietwagen aus. Blick auf einen Betonklotz von Hotel, auch graubraun. Südliche Urbanisationszone, noch im Aufbau begriffen. Hätte Robert vorher gefragt, dann hätte Paula ihn ins Orotava-Tal geschickt. Dort gab es wenigstens üppige Vegetation. Aber plötzlich ein Schwenk von Graubraun zu Bunt. Hibiskusblüten, Papageienblumen, Weihnachtssterne – oh nein, nicht schon wieder! – und sogar ein paar Bananenbäume. Und noch ein Drachenbaum. Aha, Robert war also doch im Norden gewesen.
»Und wo bleiben deine Urlaubsbekanntschaften, Brüderchen?«
»Wenn ich denn welche gemacht hätte, würde ich sie dir ganz bestimmt nicht zeigen, Markus.«
»Na ja, da wirst du dir bestimmt ein paar Abzüge gegönnt haben, für die Brieftasche. Du solltest mal seinen Anzug filzen, Paula.«
Robert kommentierte das nicht und ließ seine Planten-un-Blomen-Schau weiterlaufen, von Kandelaber-Euphorbien über andere Wolfsmilchgewächse bis hin zu Tajenastren, ja, ganz seltene Pflanzen, die kamen nur in den Cañadas vor. Madre mia. Hoffentlich schliefen die Gäste nicht ein.
Paula war kein Fan von solchen Urlaubsshows. Sie selbst war eine Niete im Fotografieren, entweder verwackelte ihr alles oder sie hatte die Finger vor der Linse. Erst seit sie eine kleine Digitalkamera besaß, hatte sie Spaß daran bekommen. Und die kleine Digitalkamera besaß sie natürlich seit Simon – beziehungsweise wegen Simon. Aber dessen Fotos würde sie jetzt entsorgen.
Als alle gegangen waren, hatte sich Robert schnell zurückgezogen. Er lag bestimmt schon schnarchend im Bett – allerdings nicht im Ehebett. Er hatte sich auch nach seiner Rückkehr demonstrativ im Gästezimmer einquartiert.
Paula stand mal wieder allein da mit dem ganzen Krempel. Gläser, Teller, Löffel, Gabeln in die Spülmaschine, die essbaren Reste in die Originalbehälter zurück oder in Frischhaltetütchen – na ja, wie immer eben.
Aber dass Robert sich noch nicht mal um die technische Gerätschaft gekümmert hatte, das war doch der Gipfel. Mit spitzen Fingern transportierte sie die kostbaren Teile in sein Arbeitszimmer. Vorsicht, Paula, Vorsicht. Aber obwohl sie die Sachen wie rohe Eier absetzte, verrutschte die schweinslederne Schreibunterlage und fiel zu Boden.
Und mit ihr ein dicker brauner DIN-A4-Umschlag.
Du solltest seinen Anzug filzen, hatte Markus vorhin gesagt.
Detektiv Rockford in seinem Wohnwagen am Strand von Malibu. Paula hatte diese Serie mit Begeisterung gesehen, damals, in den Siebzigerjahren. Sie war überhaupt ein großer Krimi-Fan, und wenn ein Detektiv so gutaussehend daherkam wie James Garner als Jim Rockford, dann ließ sie keine Folge aus. Aber die Serien heutzutage konnten an die alten nicht herantippen. ›Magnum‹ beispielsweise, mit sexy Tom Selleck, oder ›Die Straßen von San Francisco‹, da war Michael Douglas noch ein ganz junger Spund. Oder ›Die Zwei‹, das unnachahmliche Gespann aus englischem Hochadel und flapsigem Glücksritter aus der Bronx – Lord Brett Sinclair alias Roger Moore und Danny Wilde alias Tony Curtis.
Aber was Paula jetzt in Händen hielt, das fand sie überhaupt nicht mehr komisch. Dieser hundsgemeine Kerl. Dieses fiese Schwein. Der eine wie der andere. Klar, es war dieser Knilch in dem Camaro gewesen. Dass sie so blauäugig hatte sein können, ausgerechnet sie – also nein.
Zwei Dinge machten ihr ganz besonders zu schaffen. Das eine war die Sache mit dem Stalker. Da schlich der doch wochenlang mit seinem dämlichen Hund um sie herum und sie merkte es nicht. Die anonymen Anrufe, der blöde Weihnachtsstern. Und dann – natürlich, sie war ja selbst schuld, sie hatte es ja provoziert – diese toten Viecher. Die sie mitsamt dem Weihnachtsstern Simon in die Schuhe geschoben hatte. Aber das tat jetzt auch nichts mehr zur Sache, schließlich hatte Simon auch so genug Dreck am Stecken.
Das andere war gravierender.
Am 6. Januar verließ Zielperson 1 um 21.32 Uhr ihr Haus und fuhr auf direktem Wege in die Eislebener Straße 240. Dort wohnt Zielperson 2 im dritten Stock. Zielperson 1 betrat das Gebäude um 21.55 Uhr. Um Mitternacht die Observierung eingestellt.
Observierung am 7. Januar um 6.30 Uhr vor dem Haus in Oberneuland wieder aufgenommen. Um 6.38 holte Zielperson 1 die Zeitung herein. Ansonsten keine Vorkommnisse.
Wie Recherchen ergeben haben, ist Zielperson 2 in diesem Zeitraum spurlos verschwunden. Eine Vermisstenanzeige liegt der Polizei vor.
Es erfolgten zwei Besuche von Hauptkommissar S. bei Zielperson 1, und zwar am 12. Januar in der Zeit von 14.01 Uhr bis 14.35 Uhr und am 24. Januar in der Zeit von 11.10 Uhr bis 11.48 Uhr.
»Also das war’s dann. Das lasse ich mir doch nicht bieten. Mich zu bespitzeln, das ist ja wohl das Letzte. Ich ziehe aus.«
»Das trifft sich gut. Glaubst du etwa, ich wollte noch länger mit dir unter einem Dach wohnen? Nach allem, was ich da gelesen habe?«
»Wieso? Du hast es jetzt doch schwarz auf weiß, dass die Sache zwischen Simon und mir zu Ende ist. Dass Simon weg ist.«
»Eben.«
»Was soll das denn heißen?«
»Nun, du musst doch zugeben, dass Simons Verschwinden nach deinem Besuch ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen ist. Und wenn ich daran denke, wie wütend du auf ihn warst, nachdem er dich hat sitzen lassen …«
»Und deshalb bringe ich ihn um?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«
»Na, du machst mir Spaß. Was wolltest du eigentlich mit diesen schönen Unterlagen machen? Einrahmen vielleicht?«
»Was heißt hier ›wolltest‹? Wo sind die Unterlagen überhaupt?«
Paula stand auf. »Also, ich packe jetzt. Ich ziehe erst mal zu Jule. Und wehe, du lässt mir das Konto sperren.«
»Das hatte ich nicht vor. Aber wenn du glaubst, dass es von den Unterlagen keine Kopie gibt, bist du auf dem Holzweg. Gerade du müsstest doch wissen, wie das heute mit den elektronischen Medien geht.«
Natürlich wusste Paula das. Und sie wusste auch, wo dieser unsägliche Mensch seine Detektei hatte. Vielleicht sollte sie ihn mal anheuern, falls Robert doch noch Schwierigkeiten machte.