Candyman Jack
Schön, dass Sie gekommen sind, Pater!
Bitte nehmen Sie doch Platz! Ja, hier.
Ich will mein Gewissen erleichtern, denn ein Ereignis aus meiner Vergangenheit lastet schwer darauf. Lassen Sie mich erzählen, wie es dazu kam, dass ich nun hier in der Todeszelle sitze und auf die Vollstreckung des Urteils warte.
Das Verhängnis begann bereits in meiner Kindheit …
Alle Kinder liebten Mutter Cassandra, obwohl ein finsteres Geheimnis sie umflorte wie ein schwarzer Witwenschleier. Oder gerade deswegen.
Immer wenn sie mit ihrem altersschwachen VW-Bus, der im bunten Hippie-Regenbogenfarben-Design bemalt war, zum Einkaufen in die Stadt fuhr, umschwärmten Kinder das Auto wie Fliegen ein saftiges Stück Fleisch.
Sobald Mutter Cassandra ausstieg waren sie heran, drängten sich an sie und bettelten mit lauter Stimme. Doch die Frau ließ sich nicht beirren, lächelte und hob die Hände zum Zeichen, dass sie leer waren. Aber die Kinder waren hartnäckig. Sie belagerten den Eingang des Einkaufsmarktes, wo Mutter Cassandra Lebensmittel und andere Kleinigkeiten zu besorgen pflegte. Und wenn sie den Laden verließ, die Arme vollgepackt mit überquellenden, braunen Papiertüten, dann warfen sich die Kinder ihr entgegen, sodass sie fast stolperte. Dennoch wurde sie nicht ärgerlich. Stets behielt sie das leicht entrückte, selige Lächeln bei, auch wenn sie tadelte.
Sie stieg in den VW-Bus, noch immer bedrängt von zappelnden Kindern, die sie um eine Süßigkeit anbettelten. Einige saßen sogar auf der steil abfallenden Motorhaube und krallten sich an den Scheibenwischern fest, auf dass Mutter Cass nicht fortführe, ohne sie mit einer Leckerei bedacht zu haben.
Und tatsächlich: der Motor begann zu dröhnen, die Motorhaube vibrierte so stark, dass sogar die Mutigen kreischend von ihr heruntersprangen. Dann fuhr der VW-Bus an. Ganz langsam. Die Kinder liefen neben dem Wagen her. Kleine Hände patschten fordernd gegen das Blech. Als das Fahrzeug sanft beschleunigte, wurden es weniger, die neben ihm herliefen. Schließlich blieb auch der Letzte stehen und alle sahen mit hängenden Köpfen dem Auto nach.
Und stets – sobald die Kinder dachten, Mutter Cassandra würde tatsächlich ausnahmsweise heute keine Süßigkeiten dabei haben – öffnete sich das Wagenfenster, Mutter Cassandras Linke wurde sichtbar, blinkende Goldringe an jedem Finger, die Handfläche nach oben gedreht und darauf: ein in der Sonne bunt schillernder Haufen verführerisch in durchsichtige Plastikfolie eingewickelte Bonbons!
Dieser Anblick ließ die Kinder regelmäßig ausrasten. Sie sprangen ohne Vorsicht auf die Straße, dem VW-Bus hinterdrein, aus dem Mutter Cass eine Spur roter, grüner, gelber und orangefarbener Leckereien fallen ließ.
Jene Bonbons waren damals unsere Leidenschaft, denn sie machten uns glücklich. Und Glück war etwas, das wir Waisenkinder selten erlebten.
Es war eine wilde Zeit. Die Flower-Power-Bewegung klang zwar in den großen Städten wie San Francisco oder New York schon ab, aber zu uns nach Sunnytown, Oklahoma, drangen die Dinge eh immer etwas später. Unser Städtchen schlief in den Siebzigern noch selig im 50er-Jahre-Disneyland-Sinatra-Traum, aus dem es erst später jäh erwachen sollte. Und das Erwachen würde grauenvoll sein.
Aber noch war es nicht so weit. Wir schrieben das Jahr 1978. Bei uns waren die Häuser noch weiß und der Großteil der Bevölkerung war es auch. Und das war gut so, dachten die meisten Leute aus Sunnytown. Es gab zwar am Stadtrand einen Straßenzug mit heruntergekommenen Häusern, deren Besitzer im Zweiten Weltkrieg gefallen waren und lange leer gestanden hatten, ehe man sie günstig an Schwarze verkaufen konnte. Doch dahin ging kein anständiger Bürger. Kontakte zwischen den Rassen waren unerwünscht, wie man unter der Hand sagte.
Morgens öffnete man die Geschäfte, plauderte zwischenzeitlich miteinander – Eisverkäufer hatten lustige Schiffchen auf, der Bäcker zeigte sich mit weißer Schürze, um mit jedem zu plauschen. Die Sonne schien an mindestens 200 Tagen im Jahr. Alle waren freundlich, fröhlich, stets gut gelaunt. Doch unter der Oberfläche brodelte es. Dunkle Triebe suchten ihren Weg nach oben. Man munkelte hinter vorgehaltener Hand von Treffen in Hinterzimmern, wo man nichts trug als schwarzes Leder und wo blutige Ziegenköpfe herumgereicht wurden. Die Schuld trüge die Rockmusik, welche mittels Kurz- und Mittelwellensender auch nach Sunnytown schwappte. Eltern verboten ihren Halbwüchsigen den Kauf von Platten, auf denen schwarz-weiß geschminkte Schock-Rocker mit Plateauschuhen posierten.
Davon abgesehen war es in Sunnytown ruhig. Diebstähle kamen vor, beschränkten sich aber auf Kleinigkeiten, was allgemein als Mutproben abgetan wurde. Den letzten Mord hatte es vor fünfzig Jahren gegeben und so war die Zeitung von Sunnytown, der ›Local Esquire‹, voll von Nichtigkeiten und Tratsch. Der einzige Aufreger der letzten Jahre war der Verkauf von Jim Parks Farm gewesen. Jim Park war ein Sonderling gewesen, stets angetrunken und übellaunig. Einige behaupteten sogar von ihm, dass er auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise für sich und seine Familie einen Schutzraum gebaut habe, tief in die Erde hinab, damit sie den Atomkrieg überleben würden. Böse Zungen kommentierten dies mit der Frage, ob es denn wirklich sinnvoll gewesen wäre, wenn ausgerechnet dieses Genmaterial als Ausgangspunkt für eine neue Menschheit hätte dienen sollen.
Definitiv wahr ist jedoch, dass Jim im Jahr 1971 durch einen ›tragischen Unglücksfall‹, bei dem Alkohol und seine Jagdflinte eine nicht geringe Rolle spielten, seine Frau und seine beiden Töchter ›verloren‹ hatte. Er war der Bruder des hiesigen Sheriffs. Dies trug hilfreich dazu bei, dass Jim seine Farm schnell an Leute von außerhalb verkaufen konnte. Dass das Verwandtschaftsverhältnis dazu beigetragen habe, dass der tragische Unfall der Familie Park ebenso schnell in den Aktenordnern verschwand, ist hingegen ein unbestätigtes Gerücht. Ein Hoch auf das amerikanische Waffenrecht, das jedem Deppen erlaubt, eine Waffe zu besitzen!
Die Farm wurde von Hippies aus San Francisco gekauft. Sie wollten dort ein Leben nahe der Natur führen. ›Back to Nature‹ hatten sie mit weißer Farbe auf die Hauswand der Farm gepinselt. Die Leute von Sunnytown schüttelten die Köpfe und runzelten die Stirn, wenn sie den bunten Haufen in die Stadt zum Einkaufen fahren sahen: Männer mit langen Haaren, wilden, ungestutzten Bärten, und Frauen mit Stirnbändern, die Wangen statt mit Schminke mit ›Peace‹-Zeichen bemalt. Man hielt sie für Spinner, aber harmlos. Ihre Drogen bauten sie irgendwo auf dem Farmland in einer Scheune an, die sie ›Red Barn‹ nannten. Ab und an umwehte ein süßlicher Geruch das Farmhaus, wenn die Hippies wieder mal ein Sit-In abhielten. Doch am Haschisch störte sich der lokale Sheriff nicht. Dass hier ein Aufschlag auf den Kaufpreis der Farm eine Rolle gespielt haben soll, entspringt ebenfalls unbestätigten Quellen.
Waren es anfangs noch sechs Hippies, so verließen sie nach und nach die Kommune, bis nur noch eine Frau übrig blieb: Mutter Cassandra.
Wenn sie an manchen Tagen auf einem Weizenhügel am Eingang zur Farm stand, das lange blonde Haar im Winde wehend, der selbstgestrickte Rock wie eine Glocke, in der Hand eine Harke, so wirkte sie wie der fleischgewordene Traum eines jeden Flower-Power-Anhängers. Manch ein Bürger verglich sie mit Johanna von Orléans, manch einer mit einer Amazone. Dabei war sie beileibe keine Schönheit. Ihr Gesicht wurde durch eine Hakennase verunziert und es zeigten sich bereits tiefe Falten, zu tief für eine Frau von knapp vierzig Jahren, was zu Spekulationen über ihren Lebensstil Anlass gab.
Aber sie liebte Kinder. Und da sie nun allein auf Jim Parks Farm war, bat sie den Sheriff um Hilfe. Die Farm allein zu bewirtschaften war unmöglich, das sah Sheriff Potthead ein. Und er arrangierte einen Deal, von dem alle etwas haben sollten.
Am Rand von Sunnytown lag die Residenz ›Wineyard Mansion‹. Das Herrenhaus hatte man im frühen 18ten Jahrhundert erbaut, als noch die Sklaverei den Weißen die Möglichkeit zur ertragreichen und kostengünstigen Bewirtschaftung einer Plantage bot. Rund um Wineyard Mansion hatten einst Schwarze sich den Buckel beim Baumwolle-Pflücken krumm geschuftet, von sadistischen Aufsehern ausgepeitscht und manche gar bei Verfehlungen am Baum im Vorgarten aufgeknüpft, den wir Kinder fürchteten. Besonders nachts. In seinen Blättern schien es zu wispern und zu stöhnen.
Das Herrenhaus war nach dem Sezessionskrieg verkauft worden. Doch auch die Käufer hatten kein Glück im neuen Haus. Gerüchteweise starben Kinder im Säuglingsalter und Frauen im Kindbett. Nach dem Zweiten Weltkrieg verhökerte man schnellstmöglich das inzwischen heruntergekommene Gebäude. Käufer war eine Institution, die sich ›Child Care Holding‹ nannte und ein Schild am Eingang zur Allee aufstellen ließ, worauf zwei Hände sich schützend um einen Kinderkopf legen. Anfangs ließ ich mich davon noch blenden.Verlogenes Pack!
Ich kam mit knapp vier Jahren in das Waisenhaus ›Wineyard Mansion‹. Meine Eltern hatten sich im Drogenrausch gegenseitig das Gehirn mit einer Smith&Wesson herausgeballert. Klar, dass ich auch heute noch kein Freund von liberalen Waffengesetzen bin. Im Gegenteil. So lange bei uns noch jeder die Möglichkeit hat, sich mit Flinten, Pistolen und sogar Schnellfeuergewehren einzudecken, sind solche Tragödien immer wieder an der Tagesordnung. Ich verabscheue die National Rifle Association, welche das Recht auf das Tragen von Waffen immer wieder verteidigt. Kein Wunder, dass das lauter Arschlöcher sind, wenn schon im Namen ihres Vereins ein ›Ass‹ vorkommt.
Bald lernte ich hart zu werden, um zu überleben. Das Waisenhaus macht dich flink, erfinderisch und stählt deinen Körper. Aber es zermürbt deine Seele. Doch dafür hatten wir Mutter Cass und ihre Bonbons.
Und so sah der Deal aus: der Sheriff und die Aufseher von ›Wineyard Mansion‹ erhielten von Mutter Cass einen Teil der Ernteerlöse, dafür schickten diese die älteren Kinder zum Arbeiten auf die Jim-Park-Farm. Der Deal für uns: rote, grüne, gelbe und orangefarbene Bonbons!
Lacht nicht! Die Bonbons hatten es in sich!
Vielleicht waren wir einfacher zufriedenzustellen, als die Kinder heute. Aber uns erschien es wie der Himmel auf Erden. Wir bekamen Süßigkeiten und waren weg von den sadistischen Aufsehern von ›Child Care‹, die wir für wiedergeborene Sklaventreiber hielten.
Und wie diese Bonbons schmeckten! Und ihre Wirkung auf uns! Fast unbeschreiblich.
Nach der Arbeit auf den Weizenfeldern, wo wir Unkraut jäteten, den Boden bewässerten und sonstige Farmarbeit leisteten, mussten wir in einer Linie vor Mutter Cass antreten, die auf der Veranda des Farmhauses stand, die Taschen voller Leckereien.
Sodann erhielt jedes Kind von ihr ein Lächeln und ein Bonbon.
Wir wollten es immer aushalten, bis wir zuhause waren, aber meist schafften wir es nicht. Nervös griffen wir in die Hosentaschen, zupften an der Folie herum und zogen die süße Perle dann hervor. Sie schimmerte halbtransparent und die Sonne schuf blendende Reflexe, als das Bonbon auf der Hand lag. Es erschien uns wie ein Geschenk des Himmels und mit zittrigen Fingerspitzen drehten wir an den zugezwirbelten Folienenden. Und dann lag es vor uns – der Lohn unserer Tagesarbeit, das Ziel der Anstrengungen. DAS Bonbon.
In einer flinken Bewegung wurde es gepackt und in den Mund geworfen, auf dass kein anderer es von der Handfläche wegschnappte. Wir standen im Kreis und konnten die Reaktionen der anderen in ihren Gesichtern lesen. Und man wusste, man selbst empfindet genauso.
Eine Explosion von Süße, gepaart mit künstlichen Aromen. Erst auf der Zungenfläche, dann ausbreitend bis nach hinten in den Gaumen und nach vorn zur Zungenspitze. Es folgte das Gefühl von angenehmer Taubheit in der Mundhöhle. Und schließlich kamen die Halluzinationen. Farbige Kaleidoskope zerplatzten vor unseren Augen. Unbelebte Dinge wirkten belebt. Geräusche verwandelten sich in optische Reize. Wir waren glücklich, fühlten uns unbesiegbar. Heute weiß ich, wie LSD wirkt. Aber als Zehnjähriger im Jahr 1978 war mir das kein Begriff.
Wir fragten Mutter Cass eines Tages, woher sie diese ganz besonderen Bonbons bekam und sie antwortete, dass der Besitzer der Farm bei seinen seltenen Besuchen die Leckerli aus der Fremde mitbrachte.
Große Augen mussten wir gemacht haben, als wir von einem Besitzer der Farm hörten. Bislang hatten wir gedacht, dass Mutter Cass die Besitzerin sei. Wir teilten ihr das mit und sie lachte.
»Nein«, sagte sie. So viel Geld habe sie nicht. Mr. Jack besitzt die Farm, ist aber ständig auf Reisen, um mal hier, mal dort eine Firma zu gründen oder eine andere Art von Unternehmen aufzubauen. Er ist ein ›Global Player‹.
Ab und an besuchte er Mutter Cass, wovon wir Kinder allerdings nichts mitbekamen, da diese Besuche in der Nacht stattfanden, ein Zeitpunkt also, wo wir schon längst in unseren Betten lagen, unsere fiebrigen Köpfe hin und her wälzten und nach einer kühlen Stelle des Kopfkissens suchten.
Doch Mr. Jack hatte noch eine andere Funktion als die des ›Candyman‹. Er war es auch, der uns für Fehler bestrafte.
Vergaß ein Kind ein Feld zu bewässern oder zerbrach es ein Werkzeug oder dergleichen mehr, dann musste es sich bei Mutter Cass im Farmhaus melden. Dort trat man ein in eine Art Wohnhöhle, die Fenster mit schweren Teppichen verhangen, die Luft von unbekannten Düften geschwängert. Auch ich musste wegen einer zerbrochenen Harke hinein und weiß noch genau, wie alles aussah.
Ich erkannte durch das Netz der Fliegentür, dass Mutter Cass auf ihrem Schaukelstuhl saß und eine Pfeife rauchte. Ich klopfte an den Türrahmen.
»Komm rein!«, knarrte ihre tiefe Stimme.
Ich öffnete die Tür und tat einige Schritte ins Zimmer. Da erschrak ich, als ich eine Bewegung rechts von mir wahrnahm. Ich blickte hinüber und erkannte meine Reflektion in einem mannshohen Spiegel: ein Zehnjähriger mit verstrubbelten, braunen Haaren, einer Stupsnase und Unmengen von Sommersprossen drumherum. Die Knie zerschunden, vernarbt vom Arbeiten auf der Erde, beim Käfersammeln und Unkrautrupfen im Weizenfeld, die Hände rau und schmutzig.
Das Wippen des Schaukelstuhls erzeugte ein periodisches Quietschen auf den Holzbrettern. Mutter Cass lächelte ihr seliges Lächeln und winkte mich näher heran. Dabei tat sie einen tiefen Zug aus der Pfeife. Das ließ die Glut im Pfeifenkopf aufglühen. Es knisterte der Tabak und die Glut beleuchtete Teile ihres Gesichts mit einem roten Schein. Die Falten wirkten nun tiefer als im Sonnenlicht. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft.
Als ich direkt vor ihr stand, hörte sie zu wippen auf. Das Quietschen erstarb. Sie nahm die Pfeife aus dem Mund, beugte sich ein wenig zu mich herab.
»Was hast du auf dem Herzen, Marcus?«, fragte sie.
Ich trat verlegen von einem Bein auf das andere. Schließlich flüsterte ich: »Hab was angestellt, Miss!«
Wieder tat sie einen tiefen Atemzug, der rote Schein ließ einen Glutpunkt in ihrem rechten Auge aufflammen. »So. Hast du.«
Beide schwiegen wir, bis Mutter Cass nachbohrte: »Was?«
»Hab ne Harke zerbrochen. Es tut mir aufrichtig leid, Miss Cassandra!«
Mutter Cass sagte einen Moment lang nichts. Es roch süßlich ringsum, was wohl der besondere Tabak war, der in der Pfeife schwelte. Mir wurde ganz schwummrig davon.
Dann stöhnte Mutter Cass und erhob sich ächzend aus dem Schaukelstuhl.
»Dass ihr Kinder das nie kapiert!«
Dabei sah sie mich vorwurfsvoll an.
»Ihr dürft hier arbeiten, dürft aber nichts kaputt machen! Ist das so schwer zu verstehen?«
Ich schwieg und sah zu Boden.
Da ich nichts sagte, fuhr sie fort: »Ich gebe euch Bonbons in Hülle und Fülle! Ist das der Dank, den ich dafür kriege: Ihr macht meine Werkzeuge kaputt?«
Es gelang Mutter Cass problemlos mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Noch heute bin ich ein Mensch, der bei jeder Gelegenheit Angst davor hat, etwas falsch gemacht zu haben. Dieses Gefühl verfolgt mich, sitzt tief in mir, im Mark meiner Seele.
Mutter Cass stand vor mir, hoch aufragend wie ein Riese. Sie sog die Luft tief ein, ehe ihr Finger zu mir herabstieß.
»Du bekommst für dein Vergehen einen Strich auf der Strafe-Tafel!«
Kaum waren die Worte verhallt, schritt die Frau wortlos an mir vorbei und trat hinter den Schaukelstuhl. Auf einer Kommode stand eine große, schwarze Kreidetafel. Ein Dutzend Namen standen darauf. Die Namen aller Waisenkinder, die auf der Jim-Park-Farm für Mutter Cass arbeiteten. Vor der Tafel lag ein breites Kreidestück. Diese nahm die Frau in die knotigen Finger und zog einen breiten Strich von oben nach unten rechts neben meinem Namen. Es waren bereits drei weitere dort.
»Du hast vier Striche, Marcus!«, mahnte sie. »Noch drei weitere und du musst dich beim Farmbesitzer Mr. Jack melden!«
Sie sah mich eindringlich an. »Weißt du, was das bedeutet?«
Ich schüttelte den Kopf.
Mutter Cassandra zog an der Pfeife und blies den Rauch an die Decke. Lange sah sie mich an und ich glaubte einen Hauch von Mitleid in ihren Augen zu sehen, ehe ein kaltes Funkeln dies überdeckte.
»Mr. Jack ist viel unterwegs. Er kommt nur alle paar Monate hier vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sollte aber ein Kind zu viele Sünden haben, dann melde ich es Mr. Jack, indem ich mit Nadeln einen Zettel an der Vogelscheuche anhefte. Mr. Jack spürt das sofort und macht sich auf den Weg. Er schreibt mir einen Tag und eine Uhrzeit auf, an welchem er das Kind zu sprechen wünscht … und bestraft es dann.«
Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. Mir schlotterten die Knie. Um ein Haar hätte ich mir in die Hose gemacht. Ich hatte noch viele Fragen: Wo ist der Treffpunkt? Wie sieht die Bestrafung genau aus? Muss man vielleicht Geld zahlen? Schlägt Mr. Jack die Kinder mit einem Stock, so wie Mr. Basket in der Schule die Aufsässigen bestraft?
Doch meine Mundhöhle war trockener als die Wüste und so blieb mir nur übrig zu nicken. Mutter Cass nahm es als Zeichen, dass ich verstanden habe und setzte sich wieder auf den Schaukelstuhl.
»Frag nicht nach der Art der Bestrafung! Glaub mir, du willst es nicht wissen. Frag nicht!«
Nach diesen Worten blickte die Frau über mich hinweg auf einen Punkt in der Ferne. Damit war mir klar: die Unterredung war beendet. Ich durfte gehen.
Mit zitternden Beinen wankte ich aus der Wohnhöhle hinaus in das Sonnenlicht, inständig hoffend, dass ich niemals sieben Striche auf der Kreidetafel haben würde.
Mary-Sue hatte nicht so viel Glück.
An einem Abend im Herbst tauchte sie mit verweintem Gesicht aus den Weizenfeldern auf. Wir wussten sofort, was los war. In ihren Händen hielt sie einen zerbrochenen Wassereimer.
»Ich wollte es nicht. Ich bin gestolpert und dann …«
Sie brach in Tränen aus, fiel auf die Knie und barg ihr Gesicht in den Händen. Ich eilte zu ihr und strich ihr über das blonde Haar.
»Es wird schon nicht so schlimm werden«, sagte ich in ruhigem Tonfall.
Auch mein Freund Peter kam herbei. Er nahm ihre Hand, die von Schwielen auf der Innenseite übersät war. »Keine Sorge!«, munterte er Mary-Sue auf. »Der Eimer kostet nicht die Welt!«
Mary-Sue blickte hoch. Ihr Gesicht war eine Fratze der Angst mit verheulten Augen und Schmutz auf den Wangen.
»Aber es ist mein siebter Strich!«, jammerte sie.
Peter und ich schwiegen betroffen. Noch nie hatten wir mitbekommen, dass ein Kind zu Mr. Jack musste. Die Großen sprachen davon und erzählten sich Gruselgeschichten darüber. Sie sagten, dass die Kinder nie mehr zurückgekommen seien. Man habe ihre toten Leiber mit verrenkten Gliedern meilenweit entfernt in vertrockneten Flussbetten liegend oder auf hohen Bäumen zwischen Ästen eingekeilt gefunden. Wenn man aber genauer nachfragte, hatte niemand die toten, bestraften Kinder persönlich gekannt. Immer waren es Nachrichten, die man von Freunden der Freunde bekommen habe.
»Also ich sag nichts. Du, Peter?«
»Nö, kein Ding. Wir verpfeifen dich nicht, Mary-Sue! Ehrenwort!«
»Schmeiß den Eimer einfach weg ins Weizenfeld!«, riet ich ihr.
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Das geht nicht! Wir müssen doch unsere Werkzeuge abends bei ihr am Geräteschuppen abliefern, habt ihr das vergessen?«
Wir schwiegen betreten.
Dann seufzte Mary-Sue. Ihre Tränen waren versiegt. In ihrem Blick lag etwas, das mich frösteln machte, da ich es als etwas gänzlich Untypisches für Mary-Sue erkannte. Es war der Hauch einer Ahnung davon, wie es sein kann, wenn man erwachsen ist und Dinge tun muss, die man eigentlich gar nicht will.
»Ich gehe jetzt zu Mutter Cassandra. Für seine Sünden muss man geradestehen, sagt sie immer! Und das mache ich jetzt!«
Ich wollte sie halten, wollte ihr sagen, dass es keine Sünde ist, wenn man stolpert und einen Wassereimer fallen lässt. Doch alles, was ich hätte sagen können, wäre bedeutungslos gewesen in diesem Universum, das alle Jim-Park-Farm nannten. Hier galten andere Gesetze. Wer waren wir, dass wir wagten, daran zu rütteln? Wir waren nur die Kinder vom ›Wineyard Mansion‹ … Waisenkinder. Keiner stand hinter uns, um uns zu stützen. Wir hatten nur uns. Und das konnte oft sehr einsam sein. So wie hier im Fall von Mary-Sue.
Und genau das wusste auch Mary-Sue. Niemals würden wir uns gegen Mutter Cassandra stellen. Unsere Komplizenschaft war recht einfach als halbherziger Versuch zu durchschauen. Von Mutter Cass hart ins Gebet genommen, hätte ein jeder den anderen verpetzt, das war klar.
Alles nur für eine Handvoll Bonbons extra.
Als ich Mary-Sue nachblickte, wie sie mit hängenden Schultern den geplatzten Wassereimer hinter sich durch den Staub zog, gefror in mir etwas zu Eis. Ich befürchtete, dass ich Mary-Sue nie wiedersehen würde, hoffte aber, mich zu irren. Aber dass ich Mary-Sue später in jenem grauenvollen Zustand wiedersehen würde, das konnte ich nicht ahnen. Und hätte ich es gewusst, ich hätte sie an diesem Abend nicht zu Mutter Cassandra gehen lassen. Ich wäre mit ihr losgelaufen, weiter und immer weiter die Straße entlang. Fort von Sunnytown. Fort von Mutter Cassandra. Fort von dem eigenen schlechten Gewissen. Und vor allem fort von Candyman Jack.
Am nächsten Morgen betrat Mutter Cassandra mit steinernem Blick den Hof der Farm. Sie trug die Hände in den Rocktaschen vergraben und eilte ins Weizenfeld, wo ein Weg zur Roten Scheune führte. Dieser Feldweg kam auf halber Strecke an der Vogelscheuche vorbei. Mutter Cass musste noch einige Minuten durch den Weizen laufen, aber dann erreichte sie die Konstruktion aus alten Kleidern, worunter ein Holzgestell als Skelett fungierte.
Am Morgen des nächsten Tages trat Mutter Cass erneut den Weg zur Scheuche an und kam mit dem Zettel in der Hand zurück. Sie winkte Mary-Sue zu sich, wechselte ein paar Worte mit dem Mädchen, dann verschwand sie wieder im Haus.
Sofort eilten wir zu unserer Freundin. Alle umstanden Mary-Sue im Kreis und bestürmten sie mit Fragen. »Wann?« und »Wo?«, wollten wir Kinder wissen.
»Morgen Abend, kurz vor Sonnenuntergang, im Weizenfeld bei der Vogelscheuche«, war Mary-Sues Antwort. Sie wirkte gar nicht mehr ängstlich, seltsam ruhig, so als stünde die Strafe jemand anderem bevor, aber nicht ihr. Heute weiß ich, dass das ein Selbstschutz ihrer Seele war.
In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ich träumte von Candyman Jack, aber in meinen Träumen war er anders als sonst. Während ich ihn bislang als einen Zuckerwatteverkäufer erträumt hatte, mit lustiger buntgestreifter Kleidung, einem charmanten gezwirbelten Oberlippenbart und lachenden Augen, so erschien er mir nun als eine Mischung aus Henker und Sensenmann mit zwei Sicheln statt Händen.
Auch den anderen musste es so ergangen sein, denn es machten Gerüchte die Runde, dass Mr. Jack gar kein Mensch sei, sondern ein Dämon. Er wohne im Auge des Sturms und könne daher schnell von einem Ort zum anderen reisen.
Während des folgenden Tages fiel es mir schwer, mich auf die Arbeit im Feld zu konzentrieren. Meinem Freund Peter ging es ähnlich. Er hielt sich in der Furche neben mir auf, sammelte Käfer, die er in einen Beutel steckte. Ich riss Unkraut heraus, das sich an den Weizenhalmen emporzuranken wusste und jenen als Schmarotzer die Nährstoffe entzog.
»Was meinst du, was heute Abend passiert?«, fragte ich Peter während einer Pause.
Er wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn, blinzelte in die Sonne und streckte seinen braungebrannten Rücken durch, sodass die Wirbel knackten. Seine langen Haare hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. Er zog Schleim hoch und spie ihn neben sich aus.
»Weiß nich. Vielleicht gar nix. Is vielleicht nur eine leere Drohung von der Alten.«
»Glaub ich nicht.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso denkst du das?«
»Hm, nur so ne Idee. Machen die Erwachsenen oft. Glaub mir. Um Kinder zu erschrecken.«
»Das verstehe ich nicht.«
Er sah mich ernst an: »Die Erwachsenen glauben, dass man Kinder mit Angst erziehen muss, damit sie besser gehorchen. Die jagen ihr bloß einen gehörigen Schrecken ein und fertig.«
Ich war baff. Niemals vorher und niemals nachher hatte ich Peter so lang am Stück reden hören. Heute bewundere ich ihn für seine Weitsicht, aber damals verstand ich ihn nicht.
Alle Kinder warteten am Ausgang der Jim-Park-Farm, nachdem die Sonne untergegangen war. Wir warteten auf Mary-Sue. Sie war vor einer halben Stunde ins Feld zum Treffpunkt gegangen und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Die schrecklichsten Gerüchte machten die Runde.
»Ich-ich habe Mr.-Mr. Jack b-b-beim Roten Schuppen stehen s-s-sehen!«, behauptete Stotter-Charlie, aber alle wussten, dass er sich nur wichtigmachen wollte.
»Mutter Cass hat eine Peitsche bei der Vogelscheuche abgelegt!«, sagte Louise. Doch Louise log immer.
Schließlich kam Bewegung in das Weizenfeld. Die Ähren wogten und es raschelte. Dann tauchte Mary-Sue zwischen den Halmen auf, die sie mit den Händen nach links und rechts drückte.
Sie schwankte nicht, sie taumelte nicht. Nein, sie ging geradewegs auf uns zu. Als ich in ihren Augen zu lesen suchte, was vorgefallen war, erfasste mich ein Grauen, das auch heute noch seine Spuren in meiner Seele zeigt.
Mary-Sue war eine andere geworden. Hätte sie nicht von den Kleidern, den Haaren und dem Körperbau ausgesehen wie immer, hätte ich sie an ihrem Gesicht nicht wieder erkannt. Es war der Ausdruck ihrer Miene und der Blick ihrer Augen. Etwas war darin, das mit der alten Mary-Sue nichts mehr zu tun hatte. Die Mary-Sue, die wir Kinder gekannt hatten – das zeigte sich alsbald – war weg. Geblieben war eine kindliche Hülle. Nie erzählte sie uns, was Candyman Jack mit ihr gemacht hatte.
Wie sie mit leerem Blick an uns vorbeilief, mit wippenden Zöpfen und in blauer Latzhose, und langsam in Richtung Abendsonne schritt, da wusste ich, dass wir Mary-Sue verloren hatten. Aber es sollte noch schlimmer kommen …
Zwei Wochen später bekam ich meinen siebten Strich.
Ich arbeitete mit einer Harke am Feld, als es geschah. In einem unvorsichtigen Moment schlug ich zu stark gegen den Boden. Doch das war es nicht, was die Harke zerstörte, sondern der Stein, der unter einer Schicht Erde verborgen lag und den ich daher für einen Dreckbatzen gehalten hatte. Der Stock der Harke brach.
Wie benommen lief ich zu Mutter Cassandra, die beiden zerbrochenen Teile in der Hand. Alle ›Sünden‹ waren Kleinigkeiten, die mir aus Unvorsichtigkeit passiert waren. Aber jedes Mal hatte mir Mutter Cass ein schlechtes Gewissen eingeredet, als hätte ich ein Tier sadistisch umgebracht oder etwas ähnlich Verwerfliches. Und so trat ich ihr auch an diesem Abend mit schwarzem Herzen und voller finsterer Gedanken entgegen.
Sie saß wieder in ihrem Schaukelstuhl. Das Quietschen machte mich wahnsinnig. Mutter Cass schien das wahrzunehmen und zu genießen. Sie lächelte ihr Seligenlächeln und da wusste ich, dass sie es genoss mich so zu sehen. Doch ab und an zuckte es rund um ihre Mundwinkel, gerade so, als ob ihr Seligenlächeln erste Risse von Fragilität aufzuweisen begann und bald wie alte Schminke abzublättern drohte.
Ich legte schweigend die beiden Teile der Harke vor ihr auf den Boden und wartete ab, was passierte. Mutter Cass sah mich stumm an. Ihre Pfeife glühte im Mundwinkel auf, als sie den Rauch tief inhalierte. Roter Schein beleuchtete ihre linke Gesichtshälfte, während die rechte im Schatten verblieb. Die Frau blies den Rauch an die Zimmerdecke, wo er in bizarren Formen waberte und schließlich langsam in die Vorhänge einsickerte.
Mir kam es wie Minuten vor, ehe das Quietschen erstarb und sich Mutter Cass stöhnend erhob. Sie murmelte etwas wie: »Marcus, Marcus. Jetzt also auch du« und schlurfte in ihren Filzpantoffeln hinter zur Kreidetafel. Sie vollführte den letzten Strich sehr langsam, die Kreide kratzte mit einem hässlichen hohen Knirschen, dann war es vollbracht.
»Sieben Striche! Du weißt, was das heißt, Marcus?«
Sie stand vor mir, den bunten Faltenrock voller Essensreste – oder war es Erbrochenes? Sie stank bestialisch. In den letzten Wochen hatte sie sich gehen lassen. Wir sahen sie kaum noch vor dem Haus und wenn ja, waren ihre Haare verfilzt und ihre Kleidung übersät von dunklen Flecken. Eine Urinfahne umwehte Mutter Cass.
So auch jetzt. Mir wurde übel. Ich wandte mich ab. Mutter Cassandra wertete das als ein Verstehen ihrer Frage. Sie presste die Lippen zusammen.
Schließlich flüsterte sie: »Ich werde Mr. Jack Bescheid geben. Melde dich morgen Abend wieder bei mir!«
Ich nickte und verließ die Wohnhöhle.
Draußen stand Peter, der mich in den Arm nahm. Und obwohl ich zitterte wie Espenlaub und obgleich ich mir sicher war, dass Mr. Jack mir körperlich überlegen war, beschloss ich, dem Candyman einen Kampf zu liefern.
Mutter Cassandra begab sich am nächsten Morgen mit einem Zettel und Nadeln auf den Feldweg hin zur Vogelscheuche. Wir sahen sie den ganzen Tag nicht.
Ich versuchte meine Gedanken abzulenken, indem ich krampfhaft an die Arbeit dachte. Als dies auch nicht fruchtete, phantasierte ich mich weg. Ich stellte mir vor, wie mein Leben verlaufen wäre, gäbe es in den USA nicht das Recht auf Waffenbesitz für jedermann.
Meine Eltern hätten sich nicht im Rausch das Gehirn weg gepustet.
Und wenn ich beispielsweise als Sohn von Reichen aufgewachsen wäre, hätte ich nun gemütlich drei Monate lang in den Ferien nichts tun und das Leben genießen können. So aber war ich in dieses verfluchte ›Wineyard Mansion‹ gezwungen und arbeitete auf der Farm einer Durchgeknallten, die immer lächelte, nicht mehr auf sich achtete und Kinder dafür bestraft, dass sie Dinge kaputt machten. Hey, das passiert schon mal! Was ist daran so schlimm?
Als hätte sie meine rebellischen Gedanken gelesen, tauchte Mutter Cassandra zwischen den Ähren auf, das Haar wie eine Aureole im warmen Wind. Sie lächelte, griff in ihre Rocktasche und holte ein Bonbon heraus. Sie wickelte es auf und schob es mir in den Mund.
Ich war zu erstaunt, um zu reagieren und ließ es mit mir geschehen. Dann streichelte mir die Frau über den Kopf und verschwand in den wogenden Ährenfeldern so plötzlich wie sie gekommen war.
Eine Explosion von Geschmack füllte meinen Mund aus und sogleich begann das Kopfkino. Und ich war glücklich. Eigentlich war Mutter Cass gar nicht böse, wie ich mir vorhin eingebildet hatte. Natürlich musste ich für meine Sünden aufkommen. Und Mr. Jack gehörte schließlich die Farm und ich musste mich vor ihm rechtfertigen. Das war schon alles richtig so. Aber mein Taschenmesser würde ich dennoch mitnehmen.
Am Abend kehrte Mutter Cass aus dem Weizenfeld zurück. Sie trug den Zettel wieder bei sich und lächelte mir im Vorübergehen zu.
Bevor ich mich zu ihr aufmachen konnte, hielt mich Peter am Arm fest. »Du gehst nicht ohne mich zu Mr. Jack, das ist klar.« Er sah mir geradewegs in die Augen. Sie waren absolut klar und ungetrübt. Offensichtlich hatte er heute kein Bonbon gegessen.
»Das machen wir, mein Freund. Danke, dass du es mit mir zusammen durchstehst.«
»Ehrensache, Alter.«
Wir nickten uns zu. Jungs brauchen nicht mehr Worte, um sich Unterstützung zuzusichern. Peter hielt seine Hand hin und ich schlug ein. Es wunderte mich, wie bedingungslos er mir half und war insgeheim aufrichtig dankbar dafür.
Ich ging zum Farmhaus, trat auf die Veranda und an die Fliegentür. Sie war angelehnt. Schon von Weitem hörte ich Mutter Cass singen. Sie sang ein Lied, dessen Text ich nicht verstand. Die Laute klangen, als würden sie nicht für menschliche Kehlköpfe gedacht sein. Gerade so, als würde Mutter Cass versuchen eine Sprache zu sprechen, die voller tiefkehliger Hauch- und abartig breit ausgesprochener Zischlaute war, was zusammen den menschlichen Stimmapparat auf das Äußerste beanspruchte. Ich konnte sie im Dunkeln nicht sehen und das war gut so. Ihre furchteinflößenden Gesichtsverzerrungen bei den seltsamen Lauten mochte ich mir nicht einmal vorstellen.
Als sie mich sah, beendete sie ihren Gesang und winkte mich heran. Ich öffnete die Tür und trat ein. Nun begann das Quietschen des Schaukelstuhls und das Aufglühen der Pfeife.
»Marcus. Morgen Abend vor Sonnenuntergang möchte dich Mr. Jack im Weizenfeld treffen. Er wartet bei der Vogelscheuche. Du kannst nun gehen«, sagte Mutter Cassandra kurz angebunden.
Ich hatte eine Standpauke erwartet. Irgendeine Drohung, ein beschwörendes Verängstigen, ein Aufzählen meiner Verfehlungen, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber Mutter Cass wusste, dass dies alles nicht mehr nötig war. Die Erzählungen der Kinder, die Andeutungen, die sie selbst immer wieder gemacht hatte, und die verstreichenden Stunden bis zum Zeitpunkt des Treffens – all das würde dafür sorgen, dass ich bis morgen Abend nur noch ein zitterndes Nervenbündel sein würde.
Doch sie hatte nicht mit der Kraft gerechnet, die eine Freundschaft ausstrahlen kann. Mich erwartete draußen jemand. Ich war nicht allein. Peter stand im Dunkeln vor der Tür des Farmhauses, die Fäuste keck in die Hüften gestemmt und ein schiefes Grinsen auf den Lippen.
»Hey, Dude! Alles klar?«
Ich konnte nicht antworten. Die Rührung und die Angst schnürten mir die Kehle zu. Ich war hin- und hergerissen zwischen zwei Gefühlen. Mir war klar, dass ich durch Peter in einer besonderen Situation war. Mary-Sue hatte keine derartige Freundin gehabt. Und ich hoffte inständig, dass wir beide mit Mr. Jack zurechtkommen würden.
Daher versuchte ich zu lächeln, obgleich es mir schwer fiel. »Ich muss morgen Abend vor Sonnenuntergang zu Mr. Jack.«
»Ich lass dich nicht allein! Morgen Abend wird Mr. Jack dich nicht bestrafen!« Peter grinste schief und zog ein Bowie-Messer hinter seinem Rücken hervor. »Besser, als dein Frosch-Messerlein, eh?«
Am nächsten Tag verfolgte ich ängstlich, wie die Sonne über den Himmel wanderte. Sobald die Schatten länger wurden, regte sich in mir ein nie gekanntes Grauen. Wie ein sich windender Wurm, der sich in meine Eingeweide bohrte. Meine Seele wurde genauso beschattet wie die Landschaft der Weizenfelder ringsum. Und mit der Finsternis, die sich über die Ähren senkte, wurde es eiskalt in mir. Auch der Gedanke an Peter wollte nicht so recht das Feuer der Hoffnung entzünden. Aber selbst eine winzige Flamme vermag in einem Eissturm zu wärmen.
So machte ich mich auf in die Weizenfelder zum Treffen mit Mr. Jack. Ich lief den Hauptweg entlang, vorbei an den Pumpstationen, die wie bullige Tiere auf der Erde hockten. Den Hauptbewässerungskanal ließ ich links von mir, überquerte den Platz mit der Mühle und näherte mich dem aufgegebenen Landarbeiterhaus. Dort saß im Schatten ein kleiner Junge mit langen Haaren und nacktem Oberkörper, braun gebrannt. Peter!
»Bereit?« Er grinste.
»Bereit.« Ich nickte ihm zu und wir gingen schweigend nebeneinander den Hauptweg entlang, links und rechts die wippenden Weizenstengel. Am Horizont türmten sich Wolkenberge zu hohen Massivketten auf, die jederzeit in sich zusammenbrechen konnten.
»Was hälst du davon, wenn wir erstmal nen Happen gemeinsam essen?«, fragte Peter und holte hinter seinem Rücken ein Bündel hervor. Es war ein Stofftuch.
Ich lächelte und sagte ihm »Dankeschön.«
Dann setzten wir uns an den Rand des Feldes, wo der Bewässerungsgraben verlief und ließen die Füße ins Wasser hängen. Peter legte das Stofftuch zwischen uns und packte es aus. Zwei Brötchen lagen darin, dick beschmiert mit Butter und belegt mit einer Scheibe Salami. Ich hätte weinen können vor Glück und hoffte, dass Peter nicht die Freudentränen in meinen Augen bemerkt hatte.
»Was willst du machen, wenn du Mr. Jack triffst?«, fragte er mich zwischen zwei Bissen.
Ich schluckte und zuckte mit den Achseln. »Weiß nich.«
Peter sah mich ernst an. »Egal, was passiert: Du darfst dich nicht einschüchtern lassen! Du hast nichts Böses getan.«
Nervös kaute ich auf meinem Bissen herum, länger als nötig. »Ich weiß nicht, irgendwie hab ich doch was Falsches gemacht.«
»Aber wenn er dich schlagen will, greife ich an!« Peters Stimme klang absolut ruhig. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass er es ernst meinte. Es tat gut.
Peter zwinkerte mir zu und sagte: »Damit wir die Sache etwas entspannter angehen können«. Und er holte aus seiner Hosentasche etwas hervor, das er in seiner geschlossenen Faust hielt. Er hielt sie mir entgegen, grinste und öffnete die Finger. Auf der Handfläche lagen zwei warme, verklebte Bonbons.
Ich pickte mir eines davon, wickelte die Folie auf und nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger. Peter hielt seines ebenfalls auf dieselbe Art und hob die Hand zur untergehenden Sonne.
»Also dafür bin ich diesem Candyman Jack echt dankbar.«
Ich lächelte schüchtern.
»Aber das ist auch schon alles!«, meinte Peter und steckte sich das Bonbon in den Mund.
Ich tat es ihm gleich und genoss die Geschmacksexplosion.
Die Sonne wanderte bedenklich tief über den Himmel.
»Wir sollten aufbrechen«, meinte ich.
Peter nickte. Wir erhoben uns und liefen weiter, der Dunkelheit entgegen, die sich uns entgegen wölbte. In der Wolkenfront vor uns zuckten Blitze.
Nach einiger Zeit erkannte ich eine Figur im Feld. Es war die Vogelscheuche. Wir Kinder nannten sie alle Bob, da sie uns an einen bekannten Fernsehkomödianten erinnerte. Bob stand so weit im Feld, dass ich ihn nur als schwarzen Punkt erkennen konnte. Es war inzwischen so finster geworden, dass ich mir nicht einmal sicher war, dass ich die Entfernung zur Vogelscheuche richtig einschätzen konnte.
Ein Wind kam auf, der uns die Haare durcheinanderwirbelte. Er fuhr in das Weizenfeld und wühlte die Ähren wie die Wogen eines Meeres auf. Peter nickte mit dem Kopf in Richtung Feld und wir schlugen uns hinein. Da geschah etwas Seltsames: während ich noch Peter in das Weizenfeld abbiegen sah, erkannte ich einen zweiten Peter, der noch auf dem Hauptweg stand, mir zunickte und dann ebenfalls abwanderte. Der erste Peter schien langsamer zu sein als der zweite, denn der nachfolgende Peter vereinte sich wieder mit dem Vorausgehenden und wurden eins. Die Bonbons begannen also zu wirken.
Ich schüttelte den Kopf, hatte Schwierigkeiten klar zu sehen. Doch dann lief ich Peter nach und meine Wahrnehmung wurde etwas weniger verworren. Mir erschien das Wandern durch die Halme wie in Zeitlupe. Blitze zuckten am Himmel wie geisterhafte Hände, deren dürre Energiefinger zu Krallen gespreizt waren, die auf uns herab drohten. Die Stengel des Weizens bewegten sich hin und her im Wind. Mir kam es so vor, als würden sie leben und sich uns in den Weg stellen. Peter bahnte den Weg, schlug mit den bloßen Händen die Halme nach links und rechts weg. Ich überholte ihn. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich an der Spitze sein sollte. Es war meine Schuld, dass wir nun hier draußen waren, also sollte ich auch vorausgehen. Dies sagte ich ihm auch und er ließ mich gewähren.
Ich hatte das Gefühl, dass meine Stimme anders klang. Härter, tiefer. Nicht mehr wie die eines Zehnjährigen. Erwachsen. Das machte mich stark. Fühlte mich glücklich. Grinste selig.
Plötzlich fiel ich in der Vorwärtsbewegung ins Leere und stützte mich mit beiden Händen auf dem Boden ab. Vor mir ragte Bob in die Höhe.
Die Vogelscheuche bestand aus einem Holzkreuz, das man in die Erde gerammt hatte. Über die Querstange hatte Mutter Cass ein altes Hemd mitsamt Sakko gezogen. In der Dunkelheit konnten wir nicht genau erkennen, ob noch Peters Klatschmohn im Knopfloch steckte, den er gestern hineingesteckt hatte, vermuteten es aber. Bobs Kopf war ein ausrangiertes Kissen, auf das man ein Gesicht gemalt hatte. Ein langer Schal verdeckte den Mund und flatterte wie eine Fahne im Wind. Auf der verspiegelten Sonnenbrille flogen die dunklen Wolken vorüber. Mir war so, als könnte ich sie von der Oberfläche pflücken.
Peter erschien nun ebenfalls auf der kleinen Lichtung. Ich sprach ihn über das Tosen des Windes und das Brüllen des Donners hinweg an, der über die Landschaft rollte.
»Bleib du im Weizenfeld! Sobald Mr. Jack hier ist, ist es mir lieber, wenn ich dich als Rückversicherung im Verborgenen hab!«
Das verstand Peter, zog sein Bowie-Messer und zog sich in den Schutz der Halme zurück. Er wandte sich noch einmal um. »Wenn er kommt, pfeife ich.« Dann verschwand sein Kopf zwischen den Weizenstengeln.
Ich stand mit dem Rücken an die Vogelscheuche gelehnt und bemühte mich, nicht vor Angst in die Hose zu machen. Ich horchte angestrengt. Da war das Kreischen der Elemente, das Heulen des Windes, der wie ein von den Ketten befreiter Hund umherjagte und die Ähren peitschte. Der Donner krachte. Der Weizen raschelte ununterbrochen, wisperte sich Geschichten zu.
Ich spähte umher. Der Weizen war höher als mein Kopf, also konnte ich nicht sehen, was sich ringsum ereignete. Aber über mir tobte ein Kampf zwischen den Wolkenmassen, die sich über- und untereinander schoben, dabei grummelten und Blitze aussandten.
Die Weizenhalme wirbelten wild umher, während der Sturm näherkam und das Heulen lauter wurde. Plötzlich ertönte ein Pfiff.
Mir wurde heiß und kalt. Ich kreiselte herum, da ich glaubte, ein Geräusch vernommen zu haben. In meiner Tasche suchte ich das Messer, fand es und ließ es aufklappen. Ich starrte auf die Stelle im Weizenfeld, wo der Rhythmus der wogenden Ähren von etwas unterbrochen wurde, das sich darin aufhielt.
Es kam näher.
Ich starrte auf den Punkt, wo das Etwas auf die Lichtung stoßen musste und wartete mit bangem Herzen. Schon meinte ich, dass man meinen Herzschlag hören müsste. Es wurde dunkler um mich her. Mit dem Rücken suchte ich die Vogelscheuche, fand sie, was mir ein Gefühl von Sicherheit vermittelte.
Jetzt war es heran. Mit einem lauten Rascheln teilte sich die letzte Weizenhalmreihe und – ein junges Reh starrte mir mit großen Augen entgegen. Es wirkte genauso verdutzt wie ich, zögerte einen Moment, drehte die kleinen Ohren und sprang an mir vorbei. So schnell wie es aufgetaucht war, verschwand es auch wieder im Weizenfeld.
Ich blinzelte. War das eben echt gewesen? Peter hatte es auch gesehen, sein Pfiff vorhin hatte mich warnen sollen.
Da gefror ich innerlich zu Eis, als ich spürte, wie sich etwas an meinem Rücken bewegte. Ein vorsichtiges Gleiten, als ob jemand die Vogelscheuche aus dem Boden ziehen würde.
Oh nein, das war es nicht! Ganz und gar nicht!
Als ich begriff, wurde mir schlecht und ich fiel nach vorne auf die Knie. Ich erbrach mich vor Angst. Und als ich mich umdrehte, tat Candyman Jack seinen ersten Schritt, nachdem er von dem Gestell der Vogelscheuche herabgestiegen war.
Die ganze Zeit war er hier gewesen und hatte gewartet.
Hatte uns belauscht.
Ich fühlte mich unsäglich dumm, schämte mich in Grund und Boden und begann unkontrolliert zu zittern. Schweiß brach mir aus. Jeden Moment könnte ich einen Nervenzusammenbruch erleiden.
Er sagte nichts, sondern sah mich nur durch seine runden Spiegelgläser an. Der Schal als Fahne im Wind, der Mantel flatterte hinterdrein. Hohe Reitstiefel. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Hände in den Ärmeln verborgen.
»Hallo Marcus.«
Seine ersten Worte trafen mich wie Pfeile. Die Stimme, süßlich-klebrig, von einem Timbre, das schwer einzuordnen war. Ein Akzent war mehr zu ahnen, denn tatsächlich herauszuhören. Der Rhythmus der Worte unbeschreibbar anders. Gänzlich anders.
In den Worten lag keine Drohung, kein Vorwurf, ja nicht einmal eine Verärgerung. Sie waren kalt. Ja, ich denke, das trifft es am ehesten. So kalt, wie wenn man tote Dinge anfasst.
»Komm zu mir.«
Er breitete die Arme aus, der Mantel schwang zu den Seiten auf und gab den Blick frei auf Mr. Jacks Innenseite. Dort war es schwarz. Und diese Schwärze schien mich anzuziehen wie ein Schwarzes Loch. Hypnotisiert wankte ich auf Candyman Jack zu.
Und ich wäre sicher auch in die Umarmung seines Mantels gestolpert, wäre da nicht in diesem Moment ein kleiner Schatten aus dem Weizenfeld hervorgesprungen. Ich atmete durch.
Peter baute sich vor Mr. Jack auf.
»Lass ihn in Ruhe, du Drecksack!«, bellte er gegen das Tosen des Sturms. Er schwang sein Bowie-Messer hin und her, baute damit eine unsichtbare Barrikade zwischen uns und Mr. Jack.
Nach hinten gewandt, rief er mir zu: »Hau ab, Marcus! Ich kümmere mich um ihn!«
Ich stolperte mit offenem Mund rückwärts, wollte meinen Freund nicht im Stich lassen und schüttelte daher den Kopf. Zog mein Taschenmesser.
Peter sah es und wurde zornig: »Vergiss es, lass mich das machen! Du musst das hier überleben, um darüber zu schreiben. Damit niemals wieder Kinder so etwas erleben müssen!«
Da fiel die große Faust von Mr. Jack auf Peters Rücken herab. Er schrie auf und fiel zu Boden. Seine Hände krallten sich an den Schollen fest, aber dennoch wurde er Zentimeter für Zentimeter nach hinten gezogen. Mr. Jack arbeitete mit beiden Händen an Peters Rücken, riss an ihm, wieder und wieder.
»Lauf, du Idiot!«, schrie Peter mich an.
Das wirkte. Ich wandte mich auf der Stelle um und rannte blindlings hinein in das Weizenfeld.
Die Ähren schlugen mir ins Gesicht, während ich in wilder Hast die Stengel versuchte mit beiden Händen nach links und rechts wegzudrücken. Der Sturm tobte mit Orgelpfeifenlautstärke, der Wind riss an meiner Kleidung, selbst hier unten im Feld. Ich fürchtete keinen Regen, fürchtete nicht die Urgewalt des Windes. Denn er war hinter mir her! Ich hörte ihn.
Selbst im Tosen des Sturms konnte ich ihn vernehmen. Klar und deutlich unterschied sich das Geräusch der abknickenden Weizenhalme hinter mir vom Rest der Geräuschkulisse. Es klang zu regelmäßig, fast so als arbeite sich eine Maschine durch das Getreide. Unbarmherzig mit einem Herzen aus Stahl.
Meine Flucht wurde zur panischen Jagd mit mir als Beute. Ich schlug Haken wie ein Hase, wusste schon nach wenigen Metern nicht mehr, in welcher Richtung ich unterwegs war und hoffte nur noch, bald aus dem Weizenfeld herauszukommen.
Plötzlich sah ich ein Licht. Es keimte zwischen den Halmen, verschwand immer wieder, tauchte erneut auf.
Ich blieb stehen, kniff die Augen zusammen. Es war eindeutig das Licht einer Öllampe. Ein warmer Schein ging davon aus. Ich konnte nicht weit entfernt sein.
Das ist das Farmhaus!, schoss es mir durch den Kopf.
Mit einem Mal stolperte ich durch die letzte Reihe und – stand vor der Roten Scheune. Der Ort, wo Mutter Cass die Schlachtungen der Hühner vornahm, hatte seinen Namen nicht zu Unrecht. Außen war die Scheune mit roter Farbe bestrichen. Wir Kinder behaupteten, es sei auch innen mit Röte besprenkelt. Dies sei das Blut all der Hühner gewesen, die hier gestorben waren.
Ich schluckte, als ich die Quelle des Lichts erkannte: An einem Haken neben dem Scheunentor schwang eine rostige Öllaterne hin und her. Niemand anders als Mr. Jack hatte sie angesteckt, um mich hierher zu locken. Das war mir nun klar.
Als ich mich umdrehte, sah ich ihn. Er trat aus dem Weizenfeld. Langsam. Ohne Hast.
Doch das war nicht das Schrecklichste, was ich sah und das mir den Urin an den Hosenbeinen entlanglaufen ließ.
Hinter Candyman Jack war das Weizenfeld ein wild tobendes Meer aus Schwärze. Darüber erkannte man in Richtung Westen noch einen breiten Streifen tiefroten Abendhimmel. Und von dort wälzte sich eine massiv aussehende Wolkensäule heran, die sich nach oben hin verbreiterte, sich rasend schnell um sich selbst drehte und von der das Sirenengeheul auszugehen schien. Fetzen von Weizenstengeln wurden emporgehoben und vermengten sich mit dem wirbelnden Chaos.
Ein Tornado!
Er wohnt im Auge des Sturms!, sagten manche Kinder. In diesem Augenblick glaubte ich es, da ich sah, dass der Tornado Candyman Jack folgte wie ein dressierter Jagdhund. Oder folgte Jack dem Tornado? War er ein Sklave der Naturgewalt?
Zu weiteren Überlegungen kam ich nicht. Candyman Jack lief auf mich zu, mechanisch, langsam. Seine Arme hingen entspannt an den Seiten herab und schwangen bei jedem Schritt vor und zurück. Sie kamen mir überlang vor, reichten ihm über die Knie.
Ich kreiselte herum und rannte in die Rote Scheune. Drinnen empfing mich aufgestaute Wärme und Dunkelheit. Durch die Ritzen der Latten sickerte nur noch wenig Restlicht vom westlichen Abendhimmel. Sobald sich meine Augen daran gewöhnt hatten, erkannte ich einige skelettartige Umrisse als Gerätschaften wie Eggen oder Pflüge, welche man früher an Pferde gebunden hatte und die nun alleingelassen vor sich hinrosteten.
Ich tastete mich langsam an den scharfen Kanten der Geräte vorbei tiefer hinein in die Dunkelheit der Roten Scheune. Es raschelte etwas im Heu. Ich hoffte, dass es nur Mäuse waren. Das Heulen vor der Scheune schwoll weiter an, wurde zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie, sodass ich mir für einen Moment die Ohren zuhielt. Dennoch hörte ich wie der Tornado mit seiner Kraft Dinge gegen die Wände der Scheune schleuderte; Steine, Dreckbatzen, Weizenstengel, und anderes, was er auf seinem Weg aufgesammelt hatte. Fast war mir, als ob der Tornado mich aus der Scheune treiben wollte – und in die Arme von Candyman Jack. Dieser stand als schwarze Silhouette am Tor, den Rand der linken Körperseite von der Öllaterne beleuchtet.
Er wartete.
Wartete, dass ich zu ihm kommen würde.
Der Sturm schlug mit Riesenfäusten gegen die Latten. Ich spürte die Stöße mittels des Luftdrucks. Schwingungen, welche die Holzlatten an die Umgebung weitergaben. Es dröhnte in meinem Kopf, der Schmerz in meinen Ohren war nicht mehr auszuhalten. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und das rettete mir mein Hörvermögen, weil durch das Öffnen des Mundes ein Druckausgleich zustande kam. Doch das habe ich erst viel später verstanden.
Damals wollte ich nur noch, dass es aufhört und tat einen Schritt auf Candyman Jack zu. Dieser ging auf die Knie und hob die Arme zu einer Umarmung, wobei er den Mantel auffaltete.
Noch einen Schritt näher.
Die Öllaterne schwankte vor dem Eingang wild hin und her. Sie schuf ein Glitzern auf den Spiegelgläsern von Jacks Brille. Es sah aus, als würden seine Augen in der Dunkelheit voller Gier schimmern.
Einen weiteren Schritt näher. Drei Meter bis zu Mr. Jack.
Plötzlich spürte ich eine Kante unter meinem rechten Schuh. Was war das?
Ich bückte mich, befühlte den Boden vor mir und entdeckte unter dem Stroh den Rand einer quadratischen Eisenplatte.
Ein Abwassergitter! Ich wusste, dass es unter alten Scheunen oftmals Sickergruben gab, worin Urin und Kot der Tiere gesammelt wurde, um sie später als Dung auf die Felder zu bringen.
Candyman Jack wurde unruhig und erhob sich. Er kam langsam näher. Zwei Meter noch.
»Wo bist du, Marcus?«
Er drehte den Kopf mal nach links, dann nach rechts.
»Ah … nun kann ich dich riechen!«
Was war das für ein Freak? Er sah mich nicht, hörte dafür umso besser und verließ sich auf seinen Geruchssinn. Wer oder was war Candyman Jack eigentlich?
Es gab nur einen Ausweg. Mit beiden Händen packte ich das Gitter. Es war aus massivem Eisen. Ich zog mit der Kraft der Verzweiflung.
»Ich komme und hol dich!«
Das Eisen bewegte sich etwas. Der entstandene Spalt war aber noch viel zu eng, um hindurchzuschlüpfen.
Candyman Jack streckte die Arme nach vorne, seine Finger tasteten suchend umher.
»Bald habe ich dich. Es hat keinen Zweck wegzulaufen!«
Das Gitter kratzte über den Boden. Der Kopf von Candyman Jack ruckte herum in meine Richtung. Er war noch knapp einen Meter von mir entfernt.
»Da bist du ja. Bleib stehen, ich will nur reden!«
Klar willst du das!, dachte ich mir und sah nach unten. Ein schwarzer Schacht. Es roch nach Gülle. Aber der Geruch war schwach, also ging ich davon aus, dass dort unten kaum noch Jauche vorhanden war.
In diesem Moment verstummte das Heulen des Tornados. Dafür begannen die Dachschindeln an zu zittern. Sie klapperten hoch über mir, steigerten sich in ein infernalisches Crescendo, das von keinem Takt gebändigt wurde, ehe sie abhoben. Die Nägel, mit denen die Schindeln an den Dachsparren festgenagelt worden waren, wurden durch die Sogwirkung des Tornados herausgezogen. Eine Schindel nach der anderen – mal hier, mal da – löste sich in unregelmäßigen Abständen und flog nach oben davon. Das Dach wurde entblättert, sah aus wie ein Gittermuster, wohinter Blitze zuckten. Schließlich riss der Orkan auch noch die Dachsparren mit sich. Sie flogen als torkelnde Speere hinfort nach oben.
Ich sah ihnen nach, wie sie kleiner und kleiner wurden und dann nicht mehr zu sehen waren. Das Schauspiel, das sich dort oben abspielte, war überwältigend.
Ich blickte in eine gewaltige Röhre, deren Wände aus rotierenden Wolken bestand. Blitze zuckten hin und her und ein Gasgeruch lag in der Luft. Ich zwang meinen Blick zu Boden, wo das schwarze Loch gähnte.
Mir war egal, was mich dort unten erwartete. Ich sprang.
Und landete im Wasser. Die Kälte war ein Schock. Ich tauchte unter, strampelte mit den Beinen und Armen und gelangte an die Oberfläche. Meine Finger suchten nach etwas, wo ich mich festhalten konnte. Sie fanden die raue Oberfläche einer gemauerten Wand. Mit den Handflächen tastete ich mich daran entlang.
Eine Ecke, im rechten Winkel weiter nach rechts. Meine Beine traten Wasser ohne Unterlass, wurden schon schwerer. Die durchnässte Kleidung zog mich nach unten. Ich wollte nicht in einer Sickergrube unter der Roten Scheune sterben!
Wieder eine Ecke, nichts zum festhalten. Weiter nach rechts. Ich sackte ab. Schluckte Wasser, das brackig schmeckte, musste würgen. Strampelte mich nach oben, japste nach Luft, griff wild um mich. Meine Fingerspitzen erspürten eine Steinkante. Panisch packte ich zu, patschte über eine steinerne Oberfläche, suchte weiter oben nach Halt und fand ihn in den Ritzen zwischen groben Steinen.
Ich atmete tief durch und holte Kraft. Dann zog ich mich nach oben. Es war nur ein kleines Stück, das es zu überwinden galt, aber ich war geschwächt, schlotterte bereits vor Kälte und Panik, sodass ich um ein Haar wieder zurück in die Wassergrube gefallen wäre. Doch ich arbeitete mich Zentimeter für Zentimeter nach oben, hielt mich mit den Fingerspitzen in der schmalen Ritze zwischen den Steinen fest und schaffte es, meinen Oberkörper aus dem Wasser und auf festen Untergrund zu hieven. Als es geschafft war, lag ich flach auf dem Bauch und schluchzte leise, da sich die Anspannung löste.
Dann setzte ich mich auf und horchte in die Finsternis. Egal, was sich dort oben abspielen mochte, hier unten war es still. Ab und zu hörte man das Platschen, wenn irgendetwas ins Wasser fiel – vielleicht Dreckbatzen von oben oder Frösche und Lurche? – dennoch spürte man das Vibrieren der Luft auch hier unten und der Gasgeruch drang auch herab.
Licht drang einzig durch den Schacht und fiel auf das finstere Wasser, wo es als schwacher Schimmer auf der Oberfläche zu erahnen war. Abgesehen davon war es hier unten schwarz, pechschwarz. Die Finsternis beherrschte die Sickergrube, es war ihre Domäne, welche sie absolut einnahm. Sie kroch über meine nassen Kleider, suchte einen Weg nach innen, schlängelte sich um meinen Hals, hinab über meine Brust und fand eine Möglichkeit in mein Herz vorzudringen und sich als Grauen festzusetzen, sodass ich nicht nur vor bitterer Kälte schlotterte. Ich musste einen Weg finden, die Dunkelheit zu verlassen oder sie aufzuhellen.
Ich stand auf und machte einige Schritte, die Arme weit nach vorn gestreckt, um nicht mit der Stirn gegen ein Hindernis zu knallen. Nach wenigen tapsenden Schritten fühlte ich die raue Oberfläche einer Mauer unter meinen Händen. Ich tastete mich daran entlang und entdeckte einen Durchlass. Doch eine Eisentür versperrte ihn. Ich ertastete einen Riegel, doch als ich ihn zurückziehen wollte, regte sich nichts. Ich betastete ihn genauer. Es war gar kein Riegel, sondern lediglich ein Griff. So sehr ich auch mit den Händen um den Griff herum die Tür befühlte, so erkannte ich jedoch kein Türschloss, keine Klinke, kein Knauf, nichts. Ich näherte mich der Mitte der massiven Tür und bemerkte eine runde Glasfläche. Ein Sichtfenster, so nahm ich an. Die Lösung des Problems ergab sich, als ich mit dem Schienbein an etwas anstieß. Ich bückte mich und befühlte, woran ich mich gestoßen hatte. Es war ein Hebel, der in schräger Stellung arretiert war. Ich versuchte ihn zu bewegen und es gelang mir mit großer Kraftanstrengung ihn nach oben zu wuchten, wobei er sich an einer Achse drehte, welche sich in der Mitte des Hebels befand.
Ich stutzte. Wo hatte ich diese Art Hebel schon einmal gesehen? Aber ja doch – vor Jahren hatte ich mich für U-Boote begeistert. In einem der Bücher, die ich darüber in der örtlichen Bibliothek verschlungen hatte, befand sich ein Foto von einer Sicherheitsluke. Diese hatte ein Sichtfenster sowie zwei Hebel und ein Drehrad, mit dem sie verschlossen wurde.
Ich streckte mich, fand mit den Fingerspitzen den zweiten Hebel und hängte mich mit meinem Körpergewicht daran. Er ließ sich nach unten drehen. Anschließend erfühlte ich knapp unter dem Sichtfenster das Drehrad. Mit beiden Händen packte ich es und kurbelte. Es ließ sich problemlos drehen. Dann packte ich den Griff und zog. Die eiserne Tür öffnete sich mit einem Stöhnen, als sie über die Schwelle gezogen wurde. Sie gab einen Durchlass frei, der in etwa schulterbreit war.
Vorsichtig zwängte ich mich hindurch, tastete mit den Füßen nach Unebenheiten, spürte Widerstand, tastete mit den Fingern über die hölzerne Lehne eines Stuhls, fand einen Tisch davor und einen metallischen Gegenstand darauf – ein Feuerzeug.
Ich schnappte es mir und ließ das Zippo in meiner Rechten aufflammen. Ich dachte nicht mehr daran, dass mich das Licht verraten könnte. Alles war besser als diese undurchdringliche Dunkelheit. Doch ich wurde eines Besseren belehrt.
Vor mir stand ein Tisch und darauf eine Öllaterne. Ich zündete sie an und hielt sie in die Höhe. Sie beleuchtete mit einem flackernden Licht eine unwirkliche Szenerie. Ich stand in einer Küche. Tisch, drei Stühle, Kochzeile mit einem Propangaskocher, dessen Schlauch nicht mehr vertrauenswürdig aussah, so rissig war das Gummi. Es zerbröselte unter meinen prüfenden Fingern. Auf der Kochplatte stand ein Topf. Als ich den Deckel anhob und hineinleuchtete, sah ich eine schwarze Masse aus ineinander verklebten Hülsen, die entfernt an verdorrte Bohnenhülsen erinnerten. Aber sie waren pechschwarz und dünner. Ich nahm mir eine heraus und betrachtete sie von allen Seiten im warmen Schein des Öllichts. Dünner als ein kleiner Finger war die Hülse. Am Ende war sie nach oben gebogen. Ich hatte so etwas schon einmal gesehen, aber wo? … Da erinnerte ich mich: Diese Hülsen wuchsen ab und an an den Weizenähren. Mutter Cassandra hatte uns verboten, sie zu berühren. Dies sei Mutterkorn, so hatte sie die Hülsen genannt – und es sei giftig.
Warum kochte hier unten jemand giftiges Mutterkorn in einem Topf?
Das alles verwirrte mich mehr, als dass es das Mysterium rund um Candyman Jack lüftete. Heute weiß ich, dass man aus Mutterkorn über Umwege die Droge LSD herstellen kann.
Doch es sollte noch wesentlich seltsamer werden, denn als ich mich umdrehte, sah ich an der Wand eine Karte. Es war eine Seekarte und sie zeigte ein chaotisches Muster von Inseln, was ich heute als Polynesien, die Solomon-Islands, ganz allgemein als die Südsee erkennen würde.
Noch verwirrender war die Tatsache, dass daneben maritime Gegenstände aufgehängt waren. Ich erkannte einen rostigen Anker, ein geborstenes Paddel, ein Steuerrad mit fehlenden Handgriffen, ein Entermesser, eine Walfänger-Harpune und mehrere getrocknete Seesterne.
Was sollte das alles? Wir waren hier in Oklahoma, die Südsee war hunderte Meilen weit entfernt. Das machte keinen Sinn.
An der nächsten Wand befanden sich mehrere elektrische Geräte: ein Radio; ein CB-Funkgerät, daneben ein Messgerät mit einem Sichtglas, worunter auf der Anzeige das Wort ›Geiger‹ stand und eine große Anzahl an Batterien.
Aus dem Raum führten neben der Eisentür noch drei weitere Türen. Alle standen offen. Ich blickte durch die linke Tür in einen Raum, in dem vier Feldbetten, Eisenspinde und Stapel von Dosen standen. Von den Dosen waren die Etiketten bereits durch die Feuchtigkeit abgelöst und kringelten sich als Papierschlangen zu Boden. Im rechten Raum sah ich eine Toilette, dazu eine Duschwanne. An der Wand hing ein festgedübelter Boiler. An dessen Außenseite lief ständig Wasser entlang und tropfte auf den mit zersprungenen Fliesen bedeckten Boden.
Die einzige Tür, welche ich noch nicht ausprobiert hatte, war diejenige, welche der Eisentür gegenüberlag. Und gerade als ich sie öffnen wollte, erlosch die Öllampe und ich erstarrte vor Schrecken, umgeben von einer Pechschwärze, die sich aufmachte, mein Herz mit Grauen zu erfüllen.
Doch plötzlich sah ich unter der Tür einen warmen Schimmer. Ganz schwach nur, aber eindeutig als Glühen erkennbar, wie von verrottendem Holz. Ich trat an die Tür und horchte am Türblatt. Nichts war zu hören. Ich atmete tief ein und aus und öffnete dann die Tür. Sie knirschte über den Steinboden, steckte dann fest, aber der Spalt reichte aus, dass ich mich hindurchzwängen konnte.
Der Anblick, der sich mir bot, war überwältigend bizarr. Auf einer Länge von geschätzten zehn Metern zog sich eine Doppelreihe von mannshohen Regalen durch einen langgestreckten Gang mit niedriger Decke. Dazu kamen noch Regale, die sich an den Wänden befanden. Aber das war noch nicht das, was mir den Mund trocken machte und mir vor Staunen die Augen weit aufriss.
Die Regale bestanden aus je vier Regalbrettern. Und auf den Regalbrettern stand eine Vielzahl von Einmachgläsern. Und von diesen Gläsern ging das Glühen aus.
Bis heute habe ich nicht vollständig begriffen, was das genau in den Einmachgläsern war. Es sah aus wie eine nicht exakt umrissene Lichtkugel. Nein, eher ein körperloses Leuchten, das sich zu einem Zentrum hin verdichtete, das in der Mitte des Einmachglases schwebte. Winzige Funken keimten am Zentrum und sprühten in unregelmäßigen Abständen davon, prallten gegen die Glaswand und fielen herab, um am Glasboden zu verglimmen.
Dessen Lichtintensität nahm zu, sobald ich mich dem Glas näherte und nahm wieder ab, sobald ich mich entfernte.
»Ein bemerkenswertes Schauspiel, nicht wahr?«
Ich zuckte zusammen und riss den Kopf herum. Am Ende des Raums befand sich ein weiteres Schott, wie ich nun erkannte. Und im offenen Durchlass stand er.
Candyman Jack.
Er trug die Öllampe aus der Scheune und hielt sie vor sich in die Höhe. Noch immer war er mit seiner Sonnenbrille unterwegs, dem bis zur Nase hochgebundenen Schal, dem langen Staubmantel.
Ich konnte nicht atmen, starrte Mr. Jack an und versuchte krampfhaft zu überlegen, wohin ich fliehen sollte. Aber mir fiel nichts ein. Hinter mir lagen die Räume des Bunkers und dann die wassergefüllte Sickergrube. Verdammte Scheiße.
Der Mann drehte sich um und verließ den Raum. Ich wagte nicht zu hoffen, dass er mich allein ließ und ich mich verstecken konnte, um in einem günstigen Moment an ihm vorbeizuschlüpfen und zu fliehen.
Mr. Jack beugte sich draußen vor dem Schott nieder, griff nach etwas, was ich nicht sehen konnte und zog heftig daran. Ein Stottern, das nach wenigen Augenblicken in ein durchdringendes Tack-Tack-Tack überging. Ein Benzingenerator also, dachte ich.
Sofort begann eine Glühbirne über meinem Kopf aufzuglühen, wurde wieder schwarz, ehe sie dann erneut hell wurde. In ihrem Licht sah ich Mr. Jack erneut durch das Schott treten. Er blieb stehen und sah mich an.
»Warum versuchst du zu fliehen, Marcus? Ich werde dir nicht wehtun. Im Gegenteil. Ich werde dir helfen.«
Klar.
»Du hast schlimme Dinge getan, das weiß ich. Aber ich bin bereit, dir zu vergeben.«
Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich konnte mich nicht bewegen.
»Sicher fragst du dich, was das für seltsame Glühwürmchen sind, die hier in den Gläsern vor sich hin leuchten, hm?«
Ich konnte nichts sagen, nickte aber. Wieder kam er einen Schritt näher. Noch einen.
»Die Kinder, die zu mir geschickt werden, sind traurige Geschöpfe. Sie haben gegen die Regeln verstoßen. Das muss bestraft werden. Aber sie tun mir dennoch leid.«
Mr. Jack warf den Staubmantel ab. Darunter trug er einen schwarzen Gehrock. Seine überlangen Arme schwangen bei jedem Schritt mit. Sein Zylinder war voller Knickstellen. Irgendetwas war an seiner Sonnenbrille seltsam. Aber er war noch zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können.
»Zugegeben. Ich nehme ihnen etwas, da ich ein Sammler bin. Aber indem ich es tue, helfe ich ihnen, in der Welt der Erwachsenen zurecht zu kommen. Es hilft den Kindern, um dort zu überleben.«
Während er näher kam, nestelte er an seinem Schal. Als er fiel, konnte ich nur mühsam einen Schrei unterdrücken.
Was auch immer ich erwartet hatte zu sehen – es wurde an Seltsamkeit übertroffen. Mr. Jack besaß einen Kopf, der mich an ein Trapez erinnerte: schmales Kinn, breite Stirn. Dort befanden sich seine Augen. Obgleich er eine Sonnenbrille trug, konnte ich sie erkennen, da ich von schräg unten hinaufblickte. Es waren kleine, schwarze, gemeine Augen; tief ins Fleisch versunken, nahezu von Haut überwuchert. Und es waren drei, eines in der Mitte der Stirn beim Bogen der Brille, die fest in die Hautfalten eingepresst war, da Mr. Jack nur eine schwach ausgeprägte Nase besaß.
Ich zitterte vor Angst.
»Nur ruhig, mein Junge. Ich werde dir nicht wehtun. Im Gegenteil, ich werde den zukünftigen Schmerz von dir nehmen, sagte Candyman Jack und versuchte, zu lächeln. Es geriet zu einem katastrophalen Fehlschlag, denn sein Mund – oh, mein Gott, dieser grauenvolle, sichelförmige, lippenlose Haifischmund – reagierte nicht so, wie Mr. Jack wollte. Auf ewig war er nach unten gebogen und kein Versuch konnte ihn zu einem Aussehen bringen, dass einem überzeugenden Lächeln auch nur nahe kam.
Candyman Jack blieb einen Meter von mir entfernt stehen. Er wies mit der Hand auf die Gläser ringsum.
»Das alles ist die Unschuld. Interessanterweise reagiert sie auf ihresgleichen, wenn sie diese fühlt.«
Ich musste die Stirn gerunzelt haben, denn Mr. Jack sah, dass ich nichts verstand.
»Ich werde es dir erklären, Marcus. All die Kinder, denen ich begegnet bin, haben mir als Sühne ein Geschenk gegeben – das Urvertrauen, ihre Unschuld. Ich habe sie aus ihnen herausgesaugt, dieses unnütze Ding, was sie verletzlich macht. Es führt dazu, dass man euch Kinder wehtun kann. Ihr seid schwach, verletzlich, da ihr naiv seid.«
Er lachte meckernd.
»Man nutzt euch aus, da ihr gutgläubig seid. Ihr seid jedem und allem gegenüber vertrauensselig.«
Er senkte die Stimmlage.
»Aber das ist vorbei, wenn ich dieses Urvertrauen in die Welt aus euch erst einmal herausgenommen habe.«
Mr. Jacks Augen glitzerten kalt.
»Dann habt ihr eine Panzerung gegen die Welt! Dann seid ihr stark!«
Er kniete sich nieder und öffnete seinen Gehrock.
»Komm jetzt zu mir und gib mir dein Geschenk!«
Der Candyman knöpfte sein Hemd auf und breitete seine Arme aus.
Ich schritt auf ihn zu. Was war nur los mit mir? Wie hypnotisiert, wie ein Kaninchen bei einer Schlange.
»Wenn ich es nicht tue, macht es ein anderer. Es gibt viele wie mich auf der Welt.«
Ich sah sein weißes, schweißig-kaltes Fleisch und ekelte mich davor. Doch noch immer lief ich auf ihn zu. Schritt für Schritt.
»Gib es mir!«
In diesem Moment öffneten sich überall auf seinem Brustkorb Öffnungen im Fleisch. Es war, als ob sich die Haut und das darunterliegende Fettgewebe spontan zurückzögen und die Muskelstränge sich neu organisierten. Ich erkannte in den eitrig klaffenden, grob ovalen Löchern feine Lamellen. Hauchdünn. Unwillkürlich musste ich an einen Eierschneider denken.
Und das schockierte mich so, dass in mir die Alarmglocken zu läuten begannen, und ich mich aus dem tranceartigen Zustand zu lösen vermochte. Ich erblickte noch die beiden Kiemenspalten am Hals von Mr. Jack, dann wankte ich kopfschüttelnd rückwärts zurück in die Küche.
»Bleib hier!«, befahl Mr. Jack und erhob sich. »Meine Geduld mit dir ist zu Ende!«
Ich stieß an den Tisch, umrundete ihn und hielt ihn als Barriere zwischen mir und Candyman Jack. Dieser schlug mit den flachen Handflächen auf die Oberfläche des Tisches, ruckte mit dem Oberkörper vor und brüllte: »Du gehörst mir! Schon seit du die Arbeit auf der Farm begonnen hast! Ein jeder von euch gehört mir!«
Mühsam beruhigte er sich wieder. Er atmete tief ein und aus. Sein Brustkorb mit den Fleischlöchern hob und senkte sich in schneller Folge, wurde aber bereits langsamer.
Ich wich weiter zurück und stieß an die Wand mit der Seekarte. Meine Finger suchten nach dem Durchlass.
Candyman Jack umrundete den Tisch. Seine Arme schnellten nach vorn und erreichten mich fast. Ich war zutiefst überrascht und geschockt über den Zustand, wie lang und dürr sie waren.
Ich durfte nicht zögern.
Als Candyman Jack »Ich hole dich!« sagte, riss ich den Gegenstand, den ich hinter meinem Rücken verborgen gehalten hatte, nach vorn.
Mit aller Kraft legte ich mich dem heranspringenden Candyman Jack entgegen und rammte ihm die Walfänger-Harpune mitten in die Brust. Mit einem zischenden Laut glitt die Waffe durch die Lunge. Candyman Jack zuckte spürbar. Aus seinem Haifischmaul sickerte Blasen werfendes Blut.
Doch was war das? Noch während ich die Stange festhielt, griff Candyman Jack danach, packte sie knapp über meinen Händen und stieß sie sich selbst tiefer in die Brust!
Zentimeter für Zentimeter arbeitete er sich näher an mich heran, ein irres Grinsen auf dem Gesicht.
Ich konnte seinen Atem riechen, der nach totem Fisch und Brackwasser stank. Seine Augen blieben kalt, während sein Haifischmund roten Schaum produzierte, den er vor Kraftanstrengung auf mich spie, da er bei jedem Zug stoßweise durch den Mund ausatmete.
Die Vorbereitung, die Flucht – alles umsonst!
Candyman Jack würde mich doch kriegen!
Seine Finger krallten sich um meine Handgelenke.
In diesem Moment ging das Licht aus.
War dem Generator der Saft ausgegangen? Oder war er kaputt?
Da hörte ich ein Trippeln, dazu ein Luftzug, ein knirschendes Geräusch, ein Schrei, der in ein Gurgeln überging.
Nun blitzte die Glühbirne wieder auf, beleuchtete Mr. Jack. Er befand sich noch immer nahe bei mir. Zu nahe für meinen Geschmack.
Seine Augen waren auf mich gerichtet. Ein kalter, emotionsloser Blick. Über meine Hände lief warmes Blut. Als ich Jacks Hals ansah, erkannte ich, dass dort die Spitze eines Bowie-Messers neben dem Kehlkopf ausgetreten war.
Peter! Gott sei Dank!
Das Messer wurde zurückgezogen und neben Candyman Jacks Schulter tauchte das verschwitzte und mit Schnittwunden übersäte Gesicht meines Freundes auf. Er hob seine Waffe und ließ sie seitlich auf den Hals von Mr. Jack niedergehen. Sie hackte sich ein Stück weit in die Kiemenspalte und sofort sprühte das Blut heraus.
Erst jetzt wich die Kraft aus der Umklammerung meiner Handgelenke.
Candyman Jack kippte zur Seite weg. Ich ließ die Harpune los. Mit halb abgetrenntem Kopf und von der Walfänger-Harpune durchbohrt fiel Candyman Jack zu Boden.
Er rührte sich nicht mehr.
Beide standen wir schwer atmend da, den Blick auf das Wesen zu unseren Füßen gerichtet. Dann fielen wir uns weinend um den Hals.
»Wo kommst du denn her? Ich hab gedacht, der Typ hat dich gekriegt!«, bestürmte ich Peter.
»Ja, das hat der auch gedacht. Aber ich bin ihm durch die Beine geschlüpft und dann gerannt wie der Teufel!«, antwortete meine Freund. »Als ich bemerkt hab, dass er nicht hinter mir her ist, hab ich mich nach den Geräuschen gerichtet, die er beim Laufen durch das Weizenfeld gemacht hat. Doch irgendwann hab ich euch verloren. Dann kam der Tornado. Ich wurde erfasst und weggeschleudert, aber es kann nur ein schmaler Ausläufer des Sturms gewesen sein, sonst wäre ich jetzt nicht hier.«
Nachdenklich sah mich Peter an.
»Und dann fand ich mehr durch Zufall den Weg zur Roten Scheune. Ich hab ihn im Eingang stehen sehen. Hab gesehen, wie er rein ist und gerade, als ich hinterher wollte, kam er wieder raus! Hab Schwein gehabt, dass er mich nicht gesehen hat!«
Peter grinste schief.
»Dann bin ich ihm hinterher. Es ging eine verborgene Treppe hinab und durch eine Eisentür. Ich hab euer Gespräch belauscht und auf den richtigen Moment gewartet, um das Generator-Schwungrad mit einem Ast eine Zeit lang zu blockieren. Naja, und den Rest kennst du ja.«
Wir umarmten uns.
»Danke!«, sagte ich und blickte ihn lange an.
»Schon gut«, meinte er.
Mehr musste nicht gesagt werden.
Ich wollte Peter das Leuchten in den Einmachgläsern zeigen. Aber als wir den Generator abschalteten, zeigte sich, dass das Glühen in den Gläsern erloschen war.
Peter und ich warteten das Ende des Sturms ab, ehe wir uns wieder nach Hause aufmachten. Auf dem Rückweg kamen wir noch beim Farmhaus vorbei.
An der Rückseite war noch Licht in Mutter Cassandras Zimmer. Wir schlichen uns heran und spähten hinein.
Dort war sie. Kniete vor einem Stuhl, den Kopf seitlich auf die Sitzfläche gelegt, die Arme schlaff an den Seiten herabhängend – und starrte uns an. Aber ihr Gesicht war bewegungslos, wie bei einem Schlaganfallpatienten, während ihre Augen in den Höhlen wie irr umherrollten. Es kam mir vor, als gehörten sie gar nicht zu Mutter Cass. Als wäre der Körper eine Hülle, in die sich etwas tief zurückgezogen hatte, von dem wir ausschließlich die Augen erkennen konnten. Wie eine Schnecke in ihr Haus.
Niemals wieder sind wir auch nur in die Nähe der Jim-Park-Farm gegangen. Und von den Bonbons von Mutter Cassandra haben wir auch nie mehr genascht. Die Farm wurde nach dem mysteriösen Tod der Betreiberin geschlossen. Die Polizei untersuchte den Fall. Aber das Ergebnis wurde nie öffentlich bekannt. Die Untersuchungen verliefen im Sand. Sie wurden unter einem Deckmantel des Schweigens begraben, wie so vieles in unserer Stadt.
Fast könnte man meinen, wir hätten es gerade noch einmal geschafft, haben das Ruder im letzten Moment herumgerissen, den Feind besiegt – aber das Leben schreibt leider manchmal seine eigenen Fortsetzungen.
Und nicht in jeder gibt es ein Happy End.
Doch zunächst sah es gar nicht so schlecht aus: Peter und ich wurde adoptiert. Er kam in eine Familie in Los Angeles, South Central. Dort hat er sich einer Gang angeschlossen. Hat ein paar Brüche gemacht, Körperverletzung auch, hat im Knast eingesessen. Das übliche für L.A., South Central. Doch vor einem Jahr hat er einen von den Bloods erschossen. Deswegen sitzt er hier ein und wartet genauso wie ich auf die Vollstreckung.
Bin in eine reiche Familie gekommen, damals. Hab studiert, Betriebswirtschaft, danach ein paar Jobs als Banker an der Börse. War mir aber zu wenig Geld. Ich hab dann im großen Stil Geld veruntreut, Versicherungsbetrug, Anleger austricksen und so weiter. Dummerweise geriet ich beim Versuch der Geldwäsche für die Mafia in eine Razzia und hab einen Polizisten abgeknallt. Dumm gelaufen.
Mr. Jack hat doch noch bekommen, was er wollte.
In jener Nacht im Atombunker unter der Roten Scheune auf Jim-Park-Farm haben Peter und ich selbst unsere Unschuld getötet, indem wir Candyman Jack eine Harpune in den Leib gerammt und ihn mit einem Bowie-Messer den Hals teilweise abgetrennt haben. Dadurch lässt sich auch das Erlöschen des Glühens in den Einmachgläsern erklären. Wir haben das Leuchten durch unsere Tat mit Schuld infiziert, sodass es abgestorben ist, sich aufgelöst hat, was auch immer.
Manchmal frage ich mich sogar, ob wir tatsächlich in jener Nacht im Atombunker unter der Roten Scheune Mr. Jack getötet haben. Was mich darauf bringt, fragen sie?
Ich will es ihnen gerne sagen, Pater.
Während ich auf die Vollstreckung des Todesurteils durch den elektrischen Stuhl warte, sehe ich ab und zu eine Frau über den Gefängnishof laufen, die als Sozialarbeiterin mit den Gang-Mitgliedern spricht. Es sollte unmöglich sein, aber ich bin mir sicher, dass es Mutter Cassandra ist. Sie sieht noch so aus wie damals, kein Jahr gealtert. Manchmal schaut sie zu mir hoch in den Todestrakt im vierten Stock, wenn ich am Gitter stehe und in den Hof hinabblicke.
Dann lächelt sie.
Leicht entrückt.
Selig.
Und manchmal glaube ich, Mr. Jack im Gefängnis gesehen zu haben. Er tarnt sich. Mal ist er ein Wärter, dann ein Besucher. Und immer verschwindet er grinsend um die Ecke. Nie kann ich mich sicher fühlen. Er könnte bereits morgen wieder auftauchen.
Moment mal!
Pater, was passiert mit ihrem Gesicht?
Was sind das für schwarze, kleine Augen?
Oh, mein Gott …