Ho – ho – ho!

für Lisa Korb

Am Anfang ist rings um dich nur Dunkelheit.

Über den Kamin hinweg fährt der Wind, wobei er ein unkenartiges Heulen im Schacht erzeugt und dessen Steine vibrieren lässt. Asche rieselt dir aus der Höhe entgegen, legt sich als dunkler Schnee auf deine weißen Haare.

Da fühlst du ein Glimmen in deiner Brust, wie von einem Stück Kohle, das vor langer Zeit brannte und nun vom auffrischenden Wind erneut zum Glühen gebracht wird.

Du hebst deinen Kopf.

Wie lange steckst du schon hier im Kamin fest? Du weißt es nicht mehr. Auf jeden Fall zu lange. Als du das letzte Mal erwacht bist, war es von der sengenden Hitze, die von unten aufstieg. Irgendwelche Obdachlose waren in das leer stehende Haus eingebrochen und hatten versucht ein Feuer zu entfachen, aber ohne großen Erfolg. Der Rauch zog nicht nach oben ab, sondern verteilte sich im Wohnzimmer. Du warst der Grund dafür.

Aber nun ist es anders. Nicht Hitze hat dich geweckt, sondern der Ruf des Windes. Was will er dir erzählen? Plötzlich weißt du es: Heute ist eine besondere Nacht!

Du legst den Kopf in den Nacken. Das kleine Viereck hoch oben ist mit Sternen gesprenkelt. Auch ein Teil des Mondgesichtes schaut herab zu dir. Und da ist noch etwas. Etwas, das herabrieselt. Du öffnest den Mund und willst prüfen, ob es Asche ist, doch es ist etwas anderes. Es ist kühl und nass, weich und eiskalt – Schnee!

Blitzschnell weißt du wieder, warum du hier bist: Heute ist der wichtige Festtag! Aber nein! Heute ist nicht der fünfundzwanzigste Dezember. Nicht mehr. Du sitzt schon länger fest. Man hatte dich, den nebenberuflichen Schauspieler, dafür engagiert, mitten im Dezember verkleidet durch den Kamin hier ins Wohnzimmer hinabzusteigen. Doch dann geschah das Furchtbare. In der Mitte des Kamins ging es plötzlich nicht mehr weiter – du warst stecken geblieben!

Das allein wäre schon schlimm genug gewesen, doch die Krönung der Peinlichkeit war der Umstand, dass du in das falsche Haus eingestiegen warst – und dieses war unbewohnt!

Bingo! Glückstreffer!

Mit dem nächsten Nachbarn kilometerweit entfernt, der Highway nebenan mit großem Getöse, verklangen deine Schreie ungehört. Tagelang.

Doch nun rutschst du nach unten!

Offensichtlich haben dir die Tage, in denen du hier eingezwängt warst, eine unfreiwillige Diät verpasst!

Der rot-weiße Mantel färbt sich beim Abrutschen schwarz vom Ruß, der aufwölkt und dich zum Husten bringt. Meter um Meter geht es abwärts. Sogar der Jutesack auf deinem Rücken passt mit durch. Du hast es bald geschafft, so sagst du dir. Bald bist du frei.

Und tatsächlich! Mit einem Plumps fällst du auf deinen Hintern. Holzscheite drücken dir in die Pobacken, sodass du einen lauten Fluch unterdrücken musst. Was für eine grässliche Tradition! Und dank Coca-Cola hat sich die Vorstellung davon, wie deine Kostümierung aussehen soll, über den ganzen Globus verbreitet und alle lokalen Traditionen verdrängt.

Du setzt dich auf, schnappst dir die rote Mütze und klopfst die Asche ab. Nachdem du dir die Mütze wieder aufgesetzt hast, schaust du dich um und stellst verwundert fest, dass in den letzten Tagen hier jemand eingezogen sein muss.

Durchs nächtliche Wohnzimmer tanzt Mondlicht, das durch die hohen Verandafenster hereinfällt. Es geistert über blank polierte Möbel, fängt sich im mit Lametta behängten Weihnachtsbaum und zaubert Lichtpunkte auf die bunt lackierten Holzspielsachen am Boden. Da fühlst du weihnachtliche Wärme in dir. Kinder! Es leben tatsächlich Kinder hier! Gewiss, der erste Feiertag ist vorbei, aber Weihnachten ganz sicher doch nicht. Du beschließt, den Kindern die Päckchen in deinem Sack vor die Betten zu legen. Du grinst in dich hinein und schulterst deinen groben Jutesack.

»Ho-ho-ho«, flüsterst du in die Stille der Nacht und schleichst leise durch das Wohnzimmer. Dabei achtest du sorgsam darauf, nicht auf die Spielsachen zu treten und dadurch ein Geräusch zu machen. Es scheint dir so, als habest du sogar das Atmen eingestellt.

Lautlos schleichst du durch das Haus.

Du kommst an die hölzerne Treppe, die hinauf zu den Schlafzimmern führt. Behutsam setzt du jeden Schritt. Stufe für Stufe. Nur ja kein Knarzen jetzt! Du schaffst es in bemerkenswert kurzer Zeit, oben anzukommen.

Rechts steht eine Tür halb offen. Ein Lichtschimmer fällt ab und an wie ein Leuchtturmfeuer heraus und hebt die Maserung des Parkettbodens hervor. Ein sich drehendes Nachtlicht für Kinder! Du tippst die Tür an, sie schwingt leicht nach innen auf. Du trittst näher, blickst in den Raum.

Und dort liegen sie. In zwei Betten. Nebeneinander. Mädchen und Junge. Schätzungsweise acht und zehn Jahre alt. Sie schlafen und sehen dabei wie Engel aus. Ein Lampenschirm mit ausgestanzten Ponys dreht sich um eine Glühbirne, wirft galoppierende Pferdchen an Wände und Decke. Sie springen über blaue Kommoden hinweg, blitzen als Reflexe im Spiegel eines Schrankes.

Du betrittst das Schlafzimmer und willst eben den Jutesack absetzen, als ein hohles Klappern dich erschreckt. Es kam von hinter dir, so scheint es. Du wagst nicht, dich umzudrehen. Auch die Kinder haben es gehört. Der spitze Schrei des Mädchens zittert noch einen Moment lang in der Luft.

Du siehst zu den Betten hin. Die Kinder haben sich unter den Schlafdecken versteckt. Nur noch kleine zitternde Hügel sind zu sehen.

Dein Blick fällt auf den Spiegel.

Und da weißt auch du, was die Kinder erschreckt hat und weißt, woher das Klappern gekommen war. Eine Gänsehaut breitete sich auf deiner Wirbelsäule aus, während du erkennst, dass sich ein grauenvolles Wesen hinter dir befindet.

Im Spiegel siehst du, dass in der Türöffnung eine Kreatur steht, die direkt der Hölle entsprungen sein muss. Der Totenschädel eines Skeletts schwankt auf dem dürren Knochenhals, während sich bleiche Finger in einen Jutesack krallen, welcher der Kreatur auf dem roten Mantelrücken liegt. Vor den ewig grinsenden Zähnen hing ein falscher Rauschebart. Auf dem Kopf sitzt schief eine rote Mütze.

»Ho-ho-ho!« Du hörst die Stimme mehr in deinem Kopf, als dass du sie im Schlafzimmer der Kinder wahrnimmst.

Mit dem Mut der Verzweiflung drehst du dich nach hinten um und willst die Kreatur abwehren ... aber da ist niemand!

Im Bruchteil einer Sekunde begreifst du alles. Du weißt nun, wieso du problemlos im Kaminschacht nach unten gleiten konntest. Nun ist dir klar, warum du ohne zu atmen durch das nächtliche Wohnzimmer schleichen konntest. Du stecktest wohl länger als nur ein paar Tage fest ...!

Und mit dem letzten Rest an Verstand, der dir nach dieser Erkenntnis noch geblieben ist, wirfst du den Jutesack ab, stürmst aus dem Schlafzimmer die Treppe hinab ins Wohnzimmer, wo du verzweifelt an der verschlossenen Haustür rüttelst, auf die Knie fällst und mit Mühe und Not deine morschen Knochen durch die Hundeklappe zwängst.

Vor Grauen heulend wie ein Wolf rennst du hinaus in die kalte Dezembernacht. Deine knöchernen Füße hinterlassen merkwürdige Spuren im Schnee, die aussehen wie Buchstaben: »HO-HO-HO!«