Prypjat Requiem

inspiriert durch Philipp Korb

Drei Tage, nachdem ich den vermissten Touristen in der verstrahlten Stadt Prypjat nahe des Kernkraftwerks Tschernobyl wiedergefunden habe, erwache ich schreiend in der Dunkelheit meines Zimmers.

Am Morgen soll ich meinen Bericht den Eltern überbringen, die aus Ungarn in die Ukraine eingeflogen sind, um ihren Sohn – oder was von ihm übrig ist ‒ in die Heimat mitzunehmen. Es fällt mir schwer, meine Empfindungen in Worte zu fassen. Normalerweise komme ich damit klar: Ein Job ist ein Job. Nichts weiter. Wenn die Polizei die Suche nach Vermissten in der Ukraine aufgibt, ruft man mich. Ich kümmere mich um die Angelegenheit, recherchiere zunächst von meiner Detektei in Moskau aus, dann vor Ort. Oft muss ich im kriminellen Milieu meine Informationen beschaffen und sehe dabei viele Scheußlichkeiten. Aber was ich in der verlassenen Geisterstadt Prypjat vorgefunden habe, hat sogar mir die Sprache verschlagen.

Alles begann mit einem Telefonanruf …

Frau Regaisz bat mich, ihren vermissten Sohn zu suchen. Er hatte einen Trip nach Kiev unternommen, wo er über die lokale Kleinfirma ›chernobylwelcom.eu‹ einen Besuch der Zone rund um das havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl gebucht hatte. Laut der Firma war der Ungar angekommen und von einem Tour-Guide im VW-Sprinter gemeinsam mit drei anderen Abenteuerurlaubern nach Prypjat gefahren worden. Im Zentrum der Stadt besah sich die Gruppe den zentralen Platz, dann etwas nördlich den Vergnügungspark samt Riesenrad und Autoscooter. Anschließend fuhren sie auf der Kurchatova-Straße in Richtung Fluss, um die havarierten Schiffe zu fotografieren. Dort angekommen stellten sie fest, dass der Ungar fehlte. Umgehend seien sie zurückgefahren, hatten ihn aber nicht mehr am Zentrumsplatz finden können.

Die eingeschaltete Polizei suchte ihn bis zum Einbruch der Dunkelheit mithilfe einer Hundestaffel. Dann kehrten sie zurück. Niemand bleibt in der Nacht in Prypjat, wo wilde Bären und Wolfsrudel auf Jagd gehen! Nach einer Woche des Suchens hat die ukrainische Polizei den Fall zu den Akten gelegt.

Und nun sollte ich die Kastanien aus dem Feuer holen.

Die Tränen der Mutter kochten mich weich. Der Vorschuss von 130.000 Rubel tat das Seinige dazu, dass ich mich überreden ließ, der Stadt Prypjat einen Besuch abzustatten. Frau Regaisz schickte mir noch vorher ein Bild per E-Mail, das ihren Sohn zeigte. Längliches Gesicht, abstehende Ohren und eine Hasenscharte verunzierten es, obgleich die Augen von einem schönen, kristallklaren Hellblau waren.

Ich rief meinen Freund Sasha an. Sasha arbeitet bei der Chernobyl InterInform, jener ukrainischen Behörde, welche die Zugänge zum Reaktorsperrgebiet regelt. Ich machte ein Treffen mit ihm aus, besorgte mir noch einiges, was ich für eine Expedition in die verlassene Stadt brauchte, und flog von Moskau bis nach Kiev. In einem Hotel traf ich Sasha, der mir die Sondergenehmigung für die Zone aushändigte und im Gegenzug ein kleines Dankeschön in Form eines reichlich bemessenen Trinkgelds entgegen nahm. Wir begossen unser Wiedersehen mit einigen Gläsern Wodka.

Am nächsten Tag brach ich mit Kopfschmerzen in die Zone auf.

Mit meinem Trekol-SUV fuhr ich noch vor Sonnenaufgang von Kiev die zwei Stunden Richtung Norden bis zum Zonenkontrollpunkt ›Dytyatky‹ heran. Dort erntete ich neidische Blicke von den ukrainischen Soldaten ob meines Wagens. Und meine Sondergenehmigung samt großzügigem Trinkgeld verfehlte auch hier nicht ihre Wirkung. Die Männer salutierten wie vor einem General – denn als solcher war ich auf dem Papier ausgegeben – und mit meiner Tarnfleck-Uniform konnte ich auch als solcher durchgehen.

»Herr General! Darf man fragen, was Sie in Prypjat suchen?«, fragte der Diensthabende.

»Eigentlich nicht!«, knurrte ich, wechselte aber sogleich meine Stimmlage. »Aber ich bin heute guter Laune und sag Ihnen was: Ich frische mein Einzelkämpfer-Überlebenstraining etwas auf. Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, erscheint die Armee, um mich zu suchen. Bis dahin werde ich mich durch die verstrahlte Zone durchschlagen, so gut es geht.«

»Aber dort ist alles verstrahlt! Sie können nicht jagen, fischen oder Wasser aus Seen trinken!«, beeilte sich der Soldat zu sagen.

»Guter Mann, soweit geht mein Einzelkämpfer-Ideal nicht.« Ich grinste und hielt ihm den offenen Rucksack entgegen. »Ich habe Wasserflaschen und Dosen dabei.«

Wir beide grinsten und er trat salutierend einen Schritt zurück, um mich durchzulassen. »Nicht vergessen, sich in Tschernobyl bei der Chernobyl InterInform zu melden!«

Ich nickte, grüßte zurück und gab Gas.

Der Weg führte zunächst durch ein Waldgebiet, wo die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen hindurchzuckten. Mit einer Straße voller Löcher im Asphalt wurde die Fahrt zu einem wilden Ritt wie auf einem bockenden Stier.

Links und rechts der Straße kamen verlassene Dörfer in Sicht. Verfallende Bauernhäuser, durch deren glaslose Fenster der Wind strich und durch deren geborstene Dächer der Regen aufgekeimte Jungbäume mit frischem Wasser versorgte.

In einem halbwegs bewohnbaren Bauernhaus leben Maria und Michail. Sie mussten nach der Reaktorkatastrophe auch ihr Haus verlassen, sind aber drei Wochen später heimlich zurückgekommen und werden nun geduldet. Den Tipp hatte ich von Sasha. Die beiden Alten waren meine Informationsquelle Nummer eins. Hier erhoffte ich am ehesten, Informationen zum Verbleib des ungarischen Touristen zu bekommen. Wenn jemand einen traumatisierten jungen Mann durch die Wälder hatte streifen sehen, dann Maria oder Michail! Aber sie schüttelten nur die Köpfe und zogen die Mundwinkel nach unten.

Ich schenkte den beiden Alten ein paar Jodtabletten und Schmerzmittel gegen die Folgen der Radioaktivität und setzte meine Fahrt fort. Beim zweiten Checkpoint war man schon von meinem Kommen informiert und winkte mich durch. Ich fuhr nach Tschernobyl, meldete mich bei der dortigen Chernobyl InterInform-Behörde und wurde einer genauen Untersuchung unterzogen. Man wollte vermeiden, dass Plünderer und Privatdetektive im Auftrag von ehemaligen Prypjat-Bewohnern oder Antiquitätensammler-Konsortien in der Stadt umherliefen und Artefakte sammelten. Ich konnte glaubhaft vermitteln, dass ich als General a.D. auf dem Selbstfindungstrip sei. Dennoch rief man meinen Kontaktmann Sasha an. Seine Antwort schien die Beamten in ihren abgehalfterten braunen Cordhosen und verwaschenen Streifenhemden zu überzeugen, sodass sie mich weiterfahren ließen.

Ich fuhr nun in Sichtweite des künstlich angelegten Stausees von Süden nach Prypjat heran, das hinter einem Waldgürtel verborgen lag.

Rechts ragte der Sarkophag des Reaktorblocks Nummer vier schemenhaft im Morgennebel wie ein urzeitlicher Koloss in die Höhe. Davor dümpelten mehrere Abklingbecken mit radioaktiv verseuchtem Wasser. Meine Fantasie malte sich aus, welche Art mutierter Fischungeheuer wohl dort inzwischen leben mochten. Ich schauderte.

Nach einer Rechtskurve sah ich Prypjat besser. Aus dem Waldgürtel blitzten jetzt einige der Hochhäuser in der Lenin-Allee durch. Je näher ich kam, desto mehr erinnerte ich mich der sagenumwobenen Stadt, wo 50.000 Menschen im Jahr 1986 nach dem Reaktorunglück in wenigen Stunden evakuiert wurden und nur private Gegenstände für drei Tage mitnehmen durften. Aber die Behörden wussten, dass die Stadt niemals mehr bewohnbar sein würde. Prypjat ist eine typische Satellitenstadt der Sowjetunion, 1970 erbaut und klar gegliedert in Form eines trichterförmigen Grundrisses. Ihr einziger Zweck war es, den Arbeitern des drei Kilometer entfernten Kernkraftwerks eine Wohnstätte zu sein. Darüber hinaus besaß Prypjat alles, was eine Stadt ausmacht: einen Kulturpalast, Schwimmbad, Krankenhäuser, mehrere Kindergärten und Schulen, Kantinen und Restaurants, ein Kino, Regierungsgebäude und so weiter. Sogar ein Freizeitpark mit Riesenrad und Autoscooter war nahe des Stadtzentrums errichtet worden. Am 1. Mai 1986 sollte er eröffnet werden, doch aufgrund des Reaktorunfalls kam es nicht mehr dazu. Am 27. April wurde Prypjat evakuiert. Ich stellte mir die enttäuschten Kinder vor, die sich monatelang darauf gefreut hatten, mit dem Riesenrad zu fahren oder im Autoscooter zu sitzen, gar in einem Karussell zu kreiseln. Aus und vorbei. Niemals mehr.

Während ich über die Brücke fuhr, blickte ich nach links. Unter mir zogen sich die Bahngleise hinfort bis zur Bahnstation vor den Toren der Stadt. Von dort waren die Pendler zu ihrer Arbeit im Kernkraftwerk aufgebrochen.

Durch eine Waldpassage erreichte ich die Stadtgrenze von Prypjat und hielt meinen Wagen an. Ich stieg aus, kletterte auf das Wagendach und nahm das Fernglas zur Hand. Vor mir erstreckte sich die mit hoch aufgeschossenen Pappeln besäumte Lenin-Allee weit nach Norden bis zum zentralen Platz, wo der Kulturpalast ›Energetik‹ stand, den ich durch die Bäume erkennen konnte. Mit dem Fernstecher erkundete ich die Häuserfronten entlang der Allee. Nirgendwo zeigte sich eine Bewegung. Ich sah über die Häuser hinweg, schwenkte über Prypjat von Westen nach Osten. Kein Anzeichen von Rauch, das auf ein Lagerfeuer schließen ließ. Ich presste die Lippen zusammen. Die Suche würde nicht einfach werden.

Mit dem Trekol fuhr ich langsam die Lenin-Allee entlang, wobei ich hier und da herumliegenden Mülltonnen und Möbelstücken ausweichen musste. Blaue Säcke hingen in den Büschen und selbst in den höheren Zweigen der Pappeln hatten sich Plastiktüten verfangen.

Die Lenin-Allee: Fünfstöckige Gebäude, lang hingestreckt. Dazwischen einzelne steil aufragende Gebäudekomplexe ‒ doppelt so hoch – flankiert von kleinen Flachdachhäusern, ehemals Milchläden wie die Aufschrift in Kyrillisch zeigte. Dunkle Fensteraugen starrten mich zu Hunderten neben verwaisten Balkonen an, auf denen Büschel von Gras wuchsen. An den Straßenlaternen rankten sich Schmarotzerpflanzen empor. Aufgeplatzter Asphalt gab Raum für Löwenzahn und Distel.

Am Zentralplatz angekommen hielt ich den Wagen vor dem Möbelhaus an der Ecke Lenin-Allee/Kurchatova Straße. Plünderer hatten viele der großflächigen Scheiben eingeworfen und die meisten Möbelstücke entwendet. Der im selben Gebäude untergebrachte Elektronikshop war völlig leergeräumt. Das blecherne Schanzkleid des Dachvorsprungs hing in Fetzen herab.

Vor mir erstreckte sich der zentrale Platz von Prypjat, der vom Kulturpalast ›Energetik‹ dominiert wurde.

Einst eine imposante Erscheinung wirkt das damalige Kulturzentrum heute nur noch wie ein abgehalfterter Schemen seiner selbst: größenwahnsinnige Architektur, die im Niedergang begriffen ist. Dieser Eindruck wird durch Bücher und Bäume erweckt, welche in Rissen wuchern und den Beton sprengen. Die riesigen Frontscheiben des Gebäudes wurden einst von professionellen Räuberbanden abmontiert. Seitdem kann der ukrainische Winter in den Kulturpalast ›Energetik‹ frei eindringen und sein Werk der Zerstörung fortsetzen.

Von der rechten Ecke zieht sich ein Bogengang in kühnem Schwung hinüber zum Hotel ›Polesye‹. Über dem Bogengang erhebt sich das Riesenrad in einiger Entfernung. Links grüßt ein riesiges Hammer-und-Sichel-Ornament vom Dach der sechzehnstöckigen Bücherei.

Ich blickte ehrfürchtig über den mit großen Zementplatten ausgelegten Platz, der von Büschen zurückerobert wird und in dessen Plattenfugen Moose grüne Linien bilden. Sodann beschloss ich, meine Suche in nördlicher Richtung fortzusetzen. Dazu rumpelte ich mit dem SUV über den zentralen Platz und durch den Bogengang zum Freizeitpark. Beim Autoscooter hielt ich zunächst an, der schon vollständig von kleinen Bäumen und Büschen durchwachsen war. Ich fand keine Anzeichen, dass jemand in letzter Zeit dort gewesen sein mochte, und fuhr weiter. Vorbei an der Schiffsschaukel, dem Karussell und hin zur größten Attraktion des Platzes: Am Riesenrad angekommen, öffnete ich die Tür und stieg aus. Und hier wurde ich fündig.

Aus purer Neugier blickte ich in die kleine Wellblech- und Glashütte, worin einst der Ticketverkäufer untergebracht werden sollte. Am Boden des Häuschens entdeckte ich eine schwarze Stelle. Ich öffnete die Blechtür und trat ein. Verkohlte Holzscheite auf dem Linoleumboden. Hier hatte offensichtlich jemand ein Feuer entzündet, um sich in der Nacht zu wärmen. In der Hocke prüfte ich mit dem Finger die Temperatur der verkohlten Scheite. Sie waren nicht mehr warm, daher ging ich davon aus, dass die Lagerstelle bereits gestern verlassen worden war.

Wolfsgeheul veranlasste mich zu einem schnellen Rückzug in den SUV, wo ich mich verbarrikadierte. Am Rande der Lichtung erkannte ich einen einzelnen Wolf. Es war ein Pfadfinder, ein Scout, losgeschickt vom Rudel, um zu erkunden, welcher Art Tier ich war.

Ich überlegte fieberhaft, wohin der Tourist wohl von hier gegangen sein mochte. Sollte er völlig konfus und orientierungslos gewesen sein – und davon war auszugehen – könnte er weiter nach Norden gelaufen sein, weg von den freien Plätzen, wo Wolfsrudel und Bären freie Sicht auf ihre Opfertiere hatten.

Sogleich startete ich den Motor und fuhr zwischen den wild wachsenden Bäumen im Slalom hindurch auf die Sportivna Straße, ließ das Stadion irgendwo rechts im Stadtdschungel liegen und wandte mich nach links. Sodann bog ich an der nächsten Kreuzung nach rechts und kurz darauf wieder nach links, um auf der Sportivna Straße zu bleiben. Am Schwimmbad ›Lazurny‹ hielt ich an und lenkte meine Schritte hinüber zum Panoramafenster. Doch es lag zu hoch, als dass ich hätte hineinschauen können. Demnach musste ich hineingehen, um nach Hinweisen zu suchen.

Ich vermutete, dass der Tourist sich hier zeitweise verschanzt hatte. Das Gebäude war recht intakt und bot mit der Schwimmhalle ein gut einzusehendes Gebiet. Auf dem Dreimeterturm konnte man lagern, ohne befürchten zu müssen, von einem Wolf angefallen zu werden.

Der Weg führte durch übermannshohe Gräser, darunter auch etliche Brennnesselstauden, die über meine Schultern glitten und meinen Hals ritzten. Durch einen Vorhang aus Zweigen gelangte ich in den Eingangsbereich. Sofort ging ich links die Treppe empor, durchquerte den Basketball-Court, dessen Holzboden die Plünderer zum Teil aufgerissen hatten, und kam in den Schwimmbereich. Es bot sich mir ein Bild der Zerstörung. Die großformatigen Glasfenster waren ausnahmslos zerbrochen, sodass die Bäume mit überlangen Zweigen hereingreifen konnten. Von der Decke hing die Dämmwolle in breiten Streifen. Im leeren Becken sammelte sich der Putz, Teile von Plastikstühlen, Sprungbrettern, rostige Metallgeländer und dergleichen mehr. Sogar langstielige Pilze wuchsen in der Senke. Doch sie beachtete ich nicht weiter, denn eine verkohlte Stelle inmitten des Chaos zog mich an. Ich kletterte die Eisenleiter in den Nichtschwimmerbereich hinab, rutschte die Schräge ins tiefe Becken hinab und besah mir den Fleck. Es war wiederum ein kaltes, erloschenes Lagerfeuer. Elektrisiert verließ ich den Ort – ich war auf der richtigen Spur. Aber wohin jetzt?

Auf der Straße stehend drehte ich mich langsam im Kreis. Zwischen den gegenüberliegenden Häusern blitzte ein rechteckiger Bau hindurch, der mich an eine Festung erinnerte. Ich konsultierte den mitgebrachten Stadtplan und fand heraus, dass es sich hierbei um die Grundschule Nummer 4 handelte. Sie sah mir ganz danach aus, als wäre sie gut in Schuss. Ein passender Ort für einen Touristen, um zu rasten und dann weiter nach Norden zu ziehen, ohne auf dem Speiseplan der Wildtiere zu landen. Ich grinste schief, holte den Rucksack aus dem Wagen und schulterte ihn. Von nun an würde ich zu Fuß weitermarschieren.

Während ich meinen Weg durch den neu gewachsenen Wald inmitten der Stadt bahnte, kam der Hunger in mir hoch und ich bemerkte erstaunt mit einem Blick auf die Uhr, dass die Mittagszeit bereits lange vorbei war. Ich griff nach hinten in die Außentasche des Rucksacks und holte ein Belegtes mit Salami hervor, das ich beim Marschieren gierig verschlang. Noch ein paar Schlucke frischen Wassers aus meiner Flasche und ich war gesättigt für den Rest des Tages.

Als ich aufschaute, erblickte ich zehn Schritte entfernt einen Bären. Für einen Moment setzte mein Herz aus, dann wurde mir klar, dass es sich dabei um das Maskottchen der Grundschule handelte. Die Statue aus braun angemaltem Plastik saß auf einem Steinsockel neben dem Gebäude und hielt die Pfoten artig erhoben. Die Treppe war unter Laub begraben und kaum noch zu sehen. Durch die raschelnden Blätter schritt ich zum Eingang empor. Die Tür hing schief in den Angeln und ich musste Kraft anwenden, um sie über den Steinboden hinweg aufzuziehen.

Im Inneren der Schule ging ein Gang in zwei Richtungen ab. Ich wählte blind eine der beiden und schritt forsch aus. Ein Blick durch die glaslosen Fenster zeigte mir, dass sich die Sonne bereits dem Horizont zuneigte. Ich musste mich beeilen, wollte ich nicht die Nacht in Prypjat zubringen.

An allen Türen der Klassenzimmer rüttelte ich, nur eine ließ sich öffnen. Dahinter lagen Aberhunderte von Kinder-Gasmasken auf dem Boden. Das Mosaik von Gummischnorcheln und Plastikglotzaugen ließ mich erschauern. Plünderer hatten die Masken aus dem Keller geholt, die Filter wegen des Silberanteils abgeschraubt und die Reste auf den Boden geworfen. Mit steifen Knien stakste ich darüber hinweg.

Plötzlich roch ich Rauch.

Ich blieb stehen und schnupperte. Einer Ahnung folgend stürmte ich in das angrenzende Lehrerzimmer und erkannte die Ursache des Geruchs: eine schwarze Stelle hinter dem Pult des Rektors. Dorthin eilte ich, ging in die Hocke. Die Holzscheite waren noch warm. Keine zwei Stunden konnten seitdem vergangen sein. Aber wieso hatte ich nicht den abziehenden Rauch gesehen? Ein Blick zur Decke verriet es mir. Sternförmig hatte der Rauch sich dort im Asbest abgelagert. Nur wenig war zu den kleinen Fenstern hinausgelangt und hatte sich dort als Rauchfähnchen verdünnisiert.

Fieberhaft drehte ich mich im Kreis. Wohin jetzt? Wohin?

Ich war am Ende von Prypjat angekommen. Dahinter kam nur noch der endlose ›Rote Wald‹.

Die Sonne ging eben unter, als ich die Grundschule verließ und mich umsah. Am äußersten Ende der Straße, wo der Trichter von Prypjat begann, erkannte ich ein sechzehnstöckiges Gebäude. Von dort würde ich einen perfekten Überblick über die Stadt haben und mich mittels des Fernstechers auf die Lauer legen. Sobald sich irgendwo etwas regte, würde ich es bemerken. Auf diese Weise hoffte ich, den Touristen noch vor Anbruch der Dunkelheit zu finden. Ich war so nahe dran! Ich war mir sicher!

Mit dem SUV bog ich von der Sportivna Straße nach rechts in die Lesi Ukrainki Straße. Diese fuhr ich bis zu ihrem nördlichen Ende und hielt vor dem höchsten Gebäude, in dessen Schatten der Kindergarten ›Goldfisch‹ lag.

Ich packte die Taschenlampe aus dem Rucksack und betrat das Hochhaus. In seinem Inneren herrschte bereits Zwielicht, das während meines Aufstiegs im Treppenhaus zumindest auf der Ostseite zu tintenfarbiger Dunkelheit zu mutieren begann. Von Westen erreichte mich gerade so viel Restlicht, dass ich die aufwärtsführenden Stufen in Orange getaucht wahrnahm. Oben angekommen taumelte ich hinaus auf das Flachdach und atmete schwer. Vor mir erstreckte sich die dunkelnde Stadt. Zwischen den Gebäuden ragten die Bäume empor und verdeckten alles darunter. Mit der Hoffnung der Verzweiflung betete ich darum, dass der Tourist sich wie ein Trampel durch den Stadtdschungel schlagen würde und ich seine Gegenwart somit an den Bewegungen im hohen Gras und durch herumwirbelnde Zweige an den niedrigen Bäumen erkennen könnte.

Aber nichts dergleichen geschah. Ich wanderte hinüber zur rechten Gebäudeseite, blickte mit dem Fernglas auch hier fieberhaft umher, schwenkte es mal hierhin zu einer markanten Landmarke wie dem Riesenrad, ließ den Blick mal dort auf einer Baumgruppe hängen. Vergeblich.

Inzwischen hatte sich die Nacht vollständig über Prypjat gesenkt. Ich musste mich beeilen, um zum SUV zu kommen und drehte mich eben um, als ich es aus den Augenwinkeln sah. Verblüfft schritt ich an den Rand des Daches. Mit den Händen fest um das Eisengeländer gekrallt blickte ich hinab auf die Stadt.

Es war das Leuchten.

Ganz schwach zuerst, aber vorhanden. Unerklärlich an einem Ort, der eine elektrische Straßenbeleuchtung nicht mehr kannte!

Flecken waren es. Hier und da auf der Straße; schimmerten zwischen den Gräsern hindurch. Auch auf Häuserwänden glühte es schwach. Ich sah mit dem Fernglas, dass es sich um Kolonien von seltsam langstieligen Pilzen handelte, deren Köpfe sanft im Nachtwind vor und zurück schwangen – wie in Trance.

Das Phänomen faszinierte mich. Und je länger ich stehenblieb, desto mehr leuchtende Pilzkolonien kamen hinzu, bildeten grobe Linien, die sich hinfortzogen über die Stadtgrenze. Ich verfolgte die leuchtenden Linien aus Pilzkolonien. Sie endeten jenseits von Prypjat im ›Roten Wald‹. Etwas warf dort einen glühenden Schein durch die Baumkronen. Ich konnte nicht erkennen, worum es sich hierbei handelte, aber mir war sofort klar, dass ich dort hinmusste, um das Rätsel zu lösen.

Ich sprang die Treppe geradezu hinunter, nahm mehrere Stufen auf einmal, und hätte mir fast dabei den Fuß umgeknickt, nur um so schnell wie möglich im Erdgeschoss anzukommen. Dann schwang ich mich hinter das Steuer des SUV und hielt geradewegs auf das Leuchten zwischen den Bäumen zu. Die Linien wiesen mir den Weg.

Als mit dem Wagen kein Weiterkommen nicht mehr möglich war, hielt ich an und schulterte den Rucksack. Die Taschenlampe im Anschlag lief ich durch den Wald. Ab und zu hielt ich an, um nach verdächtigen Geräuschen zu lauschen. Ich vernahm ein Surren, das ohne erkennbare Quelle war und gleich wieder erstarb. Gottlob hörte ich weder das Heulen von Wölfen noch das Schnauben von Wildschweinen, sodass ich meinen Weg fortsetzen konnte. Nachdem ich mich durch ein dichtes Gestrüpp gekämpft und mir dabei durch Dornen blutende Striemen an beiden Unterarmen zugezogen hatte, torkelte ich unversehens hinaus auf eine Lichtung, die erfüllt war mit einem grünen Glimmen, welches die Ursache des Surrens sein mochte, das erneut anhob.

Der Schein rührte von einem Gebäude her, das sich vor mir befand. Es war ein lang gestreckter, niedriger Bau. Halbrund geformt; wie eine riesige, halb in die Erde eingegrabene Tonne. Die Außenhaut bestand aus einer Mischung von Glas und Betonelementen. Sie sah aus, als wäre sie mit einem Karomuster überzogen. Durch das Glas schossen grüne Lichtstrahlen und erzeugten in ihrer Gesamtheit eine glühende Glocke aus grünem Gespinst. Die Pilzkolonien schienen dem Eingang des Gebäudes zuzustreben und auch ich fühlte mich unwiderstehlich davon angezogen. Staunend trat ich ein.

Zunächst musste ich geblendet die Augen schließen. Doch als ich mich an die Lichtfülle gewöhnt hatte, erkannte ich, dass ich mich in einer Art Gewächshaus befand. Überall standen Tische mit Plastiktabletts darauf. Metallene Wasserleitungen schwebten darüber, führten hinfort in die scheinbare Unendlichkeit des Gebäudes.

Hier wuchsen die Pilzlinien zu einer gewaltigen Kolonie zusammen. Die Pilze überwucherten alles. Sie belegten den Boden mit einem sich wiegenden Teppich, wuchsen an den Betonwänden empor, nickten sich auf den Wasserleitungen zu und tummelten sich überall auf den Tischen und in den Plastiktabletts.

Wie im Traum wandelte ich durch den Mittelgang des Gewächshauses und strich mit den Fingerkuppen über die leuchtenden Pilzköpfe. Mir war so, als wichen sie manchmal meinen Berührungen aus.

Ich gelangte an eine fensterlose Zwischentür, die über und über bewachsen war mit im unfühlbaren Nachtwind schwingenden Pilzen. Ich berührte das Türblatt mit den Fingern und zuckte zurück. Das Holz vibrierte, und zwar so schnell, dass ich glaubte, bei der Berührung mit den Fingerspitzen sogar einen tiefen Basston gehört zu haben.

»Aha, Körperschall«, murmelte ich. Vorsichtig geworden drückte ich die von einem Myzelgeflecht überwucherte Klinke und schob die Tür gegen den Widerstand der Pilze am Boden nach innen auf.

Niemals hätte ich gedacht, dass eine Steigerung des Lichts möglich wäre, doch nun wurde ich eines besseren belehrt. Ich verengte die Augen zu Schlitzen ob des intensiven Gleißens, das den Raum beherrschte. Nur undeutlich erkannte ich ein überwuchertes Gebilde, das die gesamte Wand mir gegenüber einnahm. Plötzlich nahm die Lichtintensität ab, das grelle Gleißen wurde zu einem abgedämpften grünen Glühen, woraufhin ich bemerkte, dass es sich bei dem Gebilde um eine Schalttafelwand handelte. Heerscharen von Pilzen wuchsen auf den Knöpfen, Drehschaltern und in zerbrochenen Monitoren, deren schwarze Rückwand von der Zeit löchrig gefressen worden war. Sie verliehen mit ihrem Glühen der Schalttafel eine sakrale Aura, sodass sie aussah wie ein vom Kerzenlicht erhellter Hochaltar. Davor: zwei Drehstühle. Ganze Kolonien der Myzelgebilde rotteten sich auf den Rückseiten beider Lehnen zusammen. Zur Seite geneigt saßen zwei Skelette auf den Drehstühlen. Eingehüllt in weiße Schutzanzüge wirkten sie wie tote Hohepriester einer unbekannten Sekte.

So plötzlich wie das Licht abgenommen hatte, hellte es wieder auf. Ich erkannte, wie die Pilzköpfe zu schwingen begannen. Erst langsam, dann schneller, bis sie in einem Zittern innehielten und so viel Licht aussandten, dass ich die Augen schließen musste. Gleichzeitig schwoll ein Ton an, der in meinem Kopf widerhallte und sich weigerte, ihn zu verlassen. Es war ein Brummen, das durch die Luft meine Fingerspitzen erreichte, in sie eindrang und alle Organe in meinem Körper zum Schwingen brachte, bis es über meine Füße in den Boden hinfortwanderte. Allein in meinem Kopf verblieb es, echote hin und her, sodass sich mir die Nackenhaare aufstellten und ich fürchtete, wahnsinnig zu werden.

Doch dann schwoll der Ton wieder ab, das Leuchten ging im gleichen Pulsrhythmus zurück und setzte ein paar Augenblicke später wieder von Neuem an, um mir im Verbund mit dem Brummen den Verstand zu rauben. Schon glaubte ich, geflügelte Kreaturen in der Höhe rund um die Schalttafelwand schweben zu sehen. ›Reaktorblock 4‹ war dort in kyrillischen Buchstaben zu lesen. Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können und richtete meinen Blick zu Boden.

Vor der Schalttafel saß ein Wesen am Boden und spielte mit den Fingern in einer Pilzkolonie. Es war nackt und wandte mir den Rücken zu. Von ihm schien dasselbe Glühen auszugehen. Und erschauernd begriff ich, warum: Beim genaueren Hinsehen erblickte ich Myriaden von Pilzen auf seiner Haut. Kleinere und größere Pilzköpfe erhoben sich auf ihren langen Stielen und nickten einander zu.

Plötzlich ging ein Schauer durch die Pilzkolonie auf dem Rücken des Wesens, ganz so, als hätten die Pilze meine Anwesenheit bemerkt und die Kreatur drehte den Kopf in meine Richtung.

Pilze auf Stirn, Wangen, den Ohren. Fest verbunden mit der Haut, tief verwurzelt in einer – wie die Ärzte später herausfinden sollten – seltsamen Symbiose.

Muss ich erwähnen, dass sich selbst auf dem Gaumensegel Pilze befanden, wie ich bemerkte, als das Wesen seinen sabbernden Mund zum Schrei öffnete, was seine gespaltene Oberlippe in die Breite zerrte und die blauen Augen vor Schreck weitete?

Ich packte den ungarischen Touristen grob am Arm und zerrte ihn hoch. Sein winziger Penis zitterte, wodurch er mich an einen kopfüber hängenden Pilzstengel erinnerte.

»Was ist mit dir los?«, fragte ich den offensichtlich vor Schreck verstummten Mann.

Er glotzte mich verständnislos an. Er zitterte und schwankte. Aus seinem offenen, schiefen Mund troff ein Speichelfaden. Fasziniert sah ich zu, wie der Faden länger wurde, sich schließlich ein Tropfen ablöste und zu Boden fiel. Der halbe Faden hing dem Mann noch immer aus dem Mundwinkel. Der Ungar machte keine Anstalten den Speichel abzuwischen.

Da wusste ich, dass der Kerl geistig völlig weg war.

Grob zerrte ich ihn weg von dem pulsierenden Hochaltar der atomaren Pilze und hinaus an die frische Nachtluft. Als ich ihn in den SUV gestoßen und die Tür geschlossen hatte, fuhr ich rückwärts hinaus aus dem Wäldchen und auf die Lesi-Ukrainiki-Straße nach Süden. Während wir in langsamem Tempo den Schlaglöchern auswichen, wanderten links des Wagens die Hochhäuser von Prypjat vorbei. Und da begann es.

Um ein Haar wäre ich gegen ein Fahrzeugwrack gefahren, so überrascht und fasziniert war ich von dem Anblick.

Zunächst unbemerkt hatte es in den Kellern begonnen und sich von Etage zu Etage fortgesetzt, bis nahezu alle Fenster der gesamten Wohnkomplexe an der Lesi-Ukrainiki-Straße in einem grünen Glühen glommen.

Menschen standen dahinter.

Nackte Menschen, überwuchert von grün schimmernden Pilzgeflechten.

Pilzmenschen.

Sie standen da und glotzten in die Nacht hinaus.

Wie auf einen geheimen Befehl hin klappten ihre Kiefer herunter, pulsierte das Leuchten der Pilze auf ihrer Haut in einem schnellen, gemeinsamen Rhythmus und ein Ton floss auf- und abschwellend durch die Nachtluft, tief und klar wie ein fremdartiger Trauergesang.

Ein Brummen aus den Abgründen ungezählter Kehlen.

Ich habe den ungarischen Touristen zurückgebracht. Die Ärzte in Kiev haben ihn untersucht und dabei festgestellt, dass dieser Pilzbewuchs einen noch nie beobachteten Fall von Symbiose eines Menschen mit einem Myzelgeflecht darstellt. Dennoch muss es von einem parasitären Befall unterschieden werden. Es handelt sich also bei dem Pilz nicht um einen Schmarotzer, sondern um einen Symbionten, der den Menschen mittels chemischer Nährstoffe am Leben erhält. Dabei wandelt der Pilz die radioaktive Strahlung, welche der Mensch durch die Luft und Lebensmittel in sich aufnimmt, durch seinen Pigmentfarbstoff Melanin in chemische Energie um, die er zum Teil wieder abgibt.

Die Ärzte gehen davon aus, dass der Tourist einige der Pilze gegessen hat, worauf sich das symbiontische Mensch-Pilz-System entwickelt hat. Sie fanden das nicht allzu ungewöhnlich. Aber die dafür benötigte Zeit von wenigen Tagen erstaunte die versammelte Ärzteschaft erheblich. Und die damit einhergehende Demenz. Der IQ des Touristen ist unter den Wert 100 gesunken, was bei einem Studenten der Ingenieurswissenschaften aus Budapest unerklärlich ist.

Niemand hat sich bislang die Frage gestellt, warum der Tourist die Pilze gegessen hat, andere Früchte wie Äpfel und Birnen, die in Parkanlagen und Hinterhöfen wuchsen, aber nicht.

Ich weiß die Antwort.

Es ist das Leuchten.

Anziehend.

Unwiderstehlich.

Nun sitze ich hier an einem Lagerfeuer im Tickethäuschen unter dem Riesenrad, mitten in Prypjat, und verfasse diese Zeilen.

Ich musste einfach zurückkommen, denn auch ich habe der Versuchung nicht widerstehen können. Es ist wie eine Droge, von der du mehr willst, die dich scheinbar befriedigt, wovon du dennoch mehr brauchst, was dein Gehirn schlussendlich von innen her auffrisst.

Wenn ich durch das Plexiglasfenster hinaus in die hereinbrechende Nacht schaue, sehe ich mein Gesicht, vom flackernden Feuer in einem unsteten Schein beleuchtet.

Draußen beginnen die Pilzkolonien von Prypjat grün zu leuchten.

Hier drinnen erglüht ebenfalls ein schwacher Schein.

Fassungslos starre ich auf meinen Handrücken.