Abels Rückkehr

Für Lilith und Kain hätte der Hochzeitstag der schönste Tag in ihrem Leben sein sollen, doch er endete in einem blutigen Chaos.

Dabei hatte alles so wunderbar begonnen: Die Sonne lachte aus einem azurblauen Himmel herab, der sich im gleichfarbenen Meer spiegelte, das ruhig und bedächtig dalag – fast wie ein Spiegel, auf dem die Abbilder von Schäfchenwolken als sanft schimmernde Flecken dahinzogen.

Die kleine Kirche auf der Klippe leuchtete weiß im Sonnenschein und weithin schallte der klare Klang der bronzenen Glocke, die zum Kirchgang rief. Für Lilith und Kain hörte es sich an, als würde sie beider Namen in ihrer metallischen Sprache laut bis weit ins Landesinnere von Maine rufen.

Die beiden Brautleute standen am Altar, Kain legte seine weiße Hand auf die schwarze seiner zukünftigen Frau und beide versanken mit verträumten Augen im Blick des Gegenübers. Die Gemeinde saß im Chorraum, alle im Festtagszwirn gekleidet. Alle lauschten mit demütig geneigten Häuptern den salbungsvollen Worten des Pfarrers, der soeben über die Bedeutung des Ehestands sprach.

In dem Moment, als er fragte: »Wer etwas gegen die Verbindung der beiden Brautleute vorzubringen habe …«, geschah es.

Ihn unterbrach das Knallen der aufgestoßenen Türflügel, welche gegen die Seitenwände der beiden Beichtstühle links und rechts des Eingangs krachten, wo sie mit ängstlich zitterndem Türblatt still vor sich hin bebten.

Alle Köpfe ruckten herum, um zu erkennen, wer sich auf solch ungebührliche Weise Einlass verschaffte und die Hochzeitszeremonie störte. Zunächst konnte man im Gegenlicht des hereinflutenden Tages nichts Genaues sehen, doch als man sich schließlich an die Helle gewöhnt hatte, wünschte sich bei dem grauenvollen Anblick ein jeder im Nachhinein, besser nicht hingesehen zu haben. Aber zu spät.

In der Tür stand Abel, gehüllt in eine zerfetzte Robe des Ku-Klux-Klans … und er war tot. In seinen Haaren hing Seetang, der ihm bis über die Schultern fiel. Die von Fischen ausgeschabten Augenhöhlen dunkelten als schwarze Knopfaugen, bis zur Unkenntlichkeit zugeschwollen und kaum sichtbar in seinem aufgedunsenen Gesicht. Blind wandte er den Kopf nach links und rechts, kippte langsam vornüber und tastete dabei mit vorgestreckten Armen nach den Seitenlehnen der Bänke. Er bekam eine zu fassen und machte den ersten Schritt hinein in die Kirche.

Die Hochzeitsgesellschaft hielt den Atem an. Nichts war zu hören außer dem asthmatischen Pfeifen der Orgel, die darauf wartete, neu einzusetzen … und dem feuchten Platsch-Platsch der unbeholfenen Schritte Abels, der wässrige Fußstapfen wie kleine Pfützen auf den Steinboden setzte.

Als der Tote bei den hinteren Reihen vorbeikam, bemerkten die dort Sitzenden den fauligen Fischgeruch, der ihn umwehte. Zudem sahen sie unter dem zerrissenen Hemd, dass sich Aale in das aufgeweichte Muskelfleisch am Rücken der Leiche verbissen hatten und nun wild mit den schwarz glänzenden Schwänzen umher zuckten. Zudem gewahrte man eine Art in sich verdrehter Seilschlingen, welche der Untote hinter sich herzog und bei denen es sich um dessen Gedärme handelte, die aus einem faustgroßen Loch an seinem Bauch hinuntergeglitten waren und nun von dort zwischen seinen Beinen hindurch bis über die Kirchentreppe ins Freie ragten. Bei jedem Schritt schleiften sie über den Boden und hinterließen blutige Schlieren auf dem Marmor.

Gezwungenermaßen breitbeinig – um nicht auf seine Gedärme zu treten – von links nach rechts tapsend, bewegte sich Abel mühsam voran … und erreichte die zweitletzte Reihe der Kirchenbänke.

Die dort Sitzenden erinnerten sich schlagartig daran, dass Abel einst ob der Beziehung von Kain und Lilith verzweifelt gewesen war.

Lilith war eine Schwarze, und sie liebte Kain, einen Weißen. Kain war Abels Bruder. Und Abel war Mitglied des örtlichen Ku-Klux-Klans. Die Liebe der beiden hatte den Rassisten wahnsinnig werden lassen. Die Menschen des Dorfes sahen ihn sich die Haare raufend durch die Straßen rennen und in gar mancher Sturmnacht, wenn die Blitze den Himmel zerfurchten und die Klippen mit ihrem zuckenden Licht erleuchteten, wollten einige Fischer Abel auf den Klippen kniend gesehen haben, wie er gegen den heulenden Wind anschrie und sich auf diese Weise vom Herzensleid zu befreien suchte.

Aus der Brust der Leiche erhob sich ein tiefes Stöhnen, das alle Anwesenden mit einem kalten Schauer anflog gleich einem rachsüchtigen Totengeist. Wieder streckte Abel die Arme aus, tastete nach der nächsten Bankreihe und kippte vornüber, just in dem Moment, als sich seine klammen Finger wie dicke Würmer um das Holz krümmten.

Die dort Sitzenden sahen den vorgereckten, unförmigen Kopf mit dem strähnigen Haar, das an einigen Stellen ausgerissen war, wo nun tiefrote Flecken dunkelten und grünliche Verwesung gärte. Die fischartig aufgeschwemmten Lippen stülpten sich nach vorn und aus der Tiefe der löchrigen Kehle scholl ein Laut durch die Luft, den manche als »Liebe«, andere als »Lilith«, wieder andere als »Luder!« interpretierten.

Erneut tat Abel einen Schritt, zog die Eingeweide hinter sich her, wandte den geschwollenen Kopf bedächtig nach links und rechts, wiederholte seinen Ruf. Als keine Antwort kam, tastete er nach der nächsten Bankreihe – und fand sie nicht, da er beim Kreuzgang in der Mitte der Kirche angekommen war.

Der Tote verlor das Gleichgewicht und krachte mit dem rechten Knie auf den Steinboden, wo er mit gekrümmtem Rücken wie ein in sich zurückgezogener Igel reglos kauernd verharrte.

Das war der Moment, als das Chaos ausbrach.

Ein jeder sah die Chance zur Flucht gekommen. Die Letzten waren die Ersten, die es aus der Kirche hinaus schafften. Doch die ganz vorne, die engsten Verwandten der Brautleute, erkannten den Ernst ihrer Lage und bemühten sich daher umso schneller und mit vollem Einsatz ihrer Ellenbogen, die Kirche auf der Klippe zu verlassen.

Es setzte eine Bewegung am Rand des Chorraums ein. Menschen fluteten an der Wand entlang, um möglichst großen Abstand zur Leiche zu haben, die sich eben in der Mitte der Kirche anschickte zum zweiten Male wiederaufzuerstehen. Männer sprangen über Kirchenbänke, traten dabei Frauen und Kindern an die Köpfe, sich abstoßend noch an Fahrt gewinnend. Frauen ließen ihre Kinder im Stich und hüpften mit wehenden Rockschößen hinterdrein, kletterten mühsam über die Bänke und brachen sich dabei die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe ab.

Und inmitten des wirbelnden Chaos, umtost vom gellenden Schreien der Frauen, vom Brüllen der Männer, dem Heulen der Kinder und dem Wimmern der auf Kirchenbänken zurück gelassenen Säuglinge, stand Abel wie ein Fels in der Brandung. Um ihn herum brauste das lebende Meer aus menschlichen Körpern, was er mit Genugtuung zu betrachten schien, obgleich er keine Augen mehr hatte.

Und sein schiefer Mund, von Langusten angefressene Lippen wie rote Würmer, grinste mit von Krebsscheren eingerissenen Mundwinkeln.

Vorn am Altar standen Lilith und Kain. Ihre entgleisten Gesichtszüge in einem Ausdruck des Entsetzens und des Ekels erstarrt, unfähig sich zu bewegen. Der Pfarrer lag mit besudelter Soutane in einer Pfütze seines eigenen Erbrochenen und rührte sich nicht.

Je näher Abel den beiden kam, desto klarer erkannten sie, welcher Art der Gegenstand war, der in dessen Brust steckte. Kain erschauerte. Liliths Blut gefror zu Eis.

Noch undeutlich zu sehen, verdeckt von einem zerrissenen Hemd, das beim Sturz von den Klippen an den scharfen Felsen in Mitleidenschaft gezogen worden war und nun über einer ebenfalls zerfetzten Hose hing, zitterte ein Holzgriff bei jedem Schritt.

Und Lilith erinnerte sich an jenen Abend, an dem sie Abel zum letzten Mal gesehen hatte.

Und Kain erinnerte sich ebenfalls daran.

Und Abel blieb eine Handbreit vor den beiden stehen … und grinste.

Er öffnete die Lippen und aus seinem löchrigen Schlund ergoss sich ein dickflüssiger Sud, der nach Mageninhalt und Verwesung stank, rann über sein Kinn und troff auf Hemd und Holzstiel, während der Tote blubbernd zu sprechen versuchte. Die Worte versumpften in der morastigen Suppe. Zudem verhinderte das Metall in seiner Lunge die exakte Aussprache.

Lilith und Kain dachten beide das Gleiche:

Wieder war Abel gekommen, hatte ihnen nachgestellt.

Wie damals.

Bei all ihren heimlichen Treffen.

Auf den Klippen.

Sogar bei ihrer Verlobung.

Damals hatte Kain seinen Bruder hinter einem Baumstamm entdeckt, wo er hockend lauschte und heimlich sie beobachtete, gehüllt in eine Robe des Ku-Klux-Klans.

Dann war da die Axt in Kains Händen, gereicht von Lilith, die sie zur Notwehr mitgebracht hatte. Dank des amerikanischen Waffenrechts wäre sogar ein Gewehr möglich gewesen. Aber Lilith besaß keine Flinte und so musste das Beil ausreichen.

Kain holte aus und versenkte die Axt in Abels Brust. Dieser taumelte von der Wucht des Schlages nach hinten ruderte mit den Armen und kippte über den Rand der Klippen … fiel und verschwand …

Doch nun war Abel wieder da. Ausgespien vom Meer.

In aller Hässlichkeit.

Und forderte etwas, was niemand akustisch verstand.

Aber Lilith wusste Abhilfe.

Sie packte mit ihren zarten, fein manikürten Händen hart zu. Ihre schwarzen Finger tauchten ein in das zerschlissene Hemd, schlossen sich um den Holzstiel und rissen mit aller Gewalt die Axt aus der Brust des Toten, sodass die Luft mit einem hohlen Ächzen in die zerklüftete Lunge einfuhr und aus der Kehle der Leiche ausfuhr.

Sowohl Lilith als auch Kain konnten sehen, wie stark sich Abel bemühte, wie sehr er etwas sagen wollte, wie sich seine zitternden Lippen bewegten, wie der dicke Fleischlappen von Zunge in der mürben Mundhöhle sich abtat, um Worte zu finden, zu formen und auszusprechen.

Aber ehe das geschah, erreichte die Rückwärtsbewegung von Liliths Armen einen Endpunkt. Hoch erhoben hatte sie das Beil, von dem Maden auf ihren Hochzeitskranz fielen und begannen in ihren Haaren umher zu kriechen. In Liliths Augen glänzte der Wahnsinn, erreichte ihre zuckenden Mundwinkel und verzog ihre Mimik ins Groteske.

Schlussendlich entrang sich ihrer Brust ein gewaltiger Schrei, in dem alle Wut, alle Verzweiflung ob der penetranten Art von Abels Rückkehr lag.

Sie setzte den Zorn in eine Vorwärtsbewegung ihrer zarten Arme um und hämmerte die Axt in Abels Schädel.

Tief drang sie ein, spaltete das schwammige Gewebe nahezu gänzlich; der aufgeweichte Knochen knackte vernehmbar.

Ein letztes Mal versuchte Abel zu sprechen, versagte jedoch abermals. Sein Kopf ruckte umher, blind suchend tasteten die weißen Arme mit den fleischigen Fingern in der Luft herum. Der Axtstiel ragte aus dem zerstörten Gesicht. Dann sackte Abel vor dem Altar zusammen und verging in einer Pfütze unsauberer Körperflüssigkeiten.