Zwo

»Bist du dir sicher, dass der Kommunikations-Satellit heute und hier bei uns abstürzt?«

Clive kaute an seiner Unterlippe. Das tat er immer, wenn er nervös war.

»Klar!« Stephen zog eine Seite aus dem wirren Papierhaufen hervor, der zwischen den beiden Jungs auf dem Teppichboden verstreut lag. »Ich hab das mehrmals gegen gecheckt! Hier schau!«

Er riss einige Seiten aus dem Stapel und hielt sie seinem Freund hin. Die beiden Zwölfjährigen saßen im Kinderzimmer von Stephen, das mit allerlei Star-Wars-Spielzeug, einem ungeordneten Wirrwarr aus Computer-CDs, einem Dutzend Motherboard-Platinen nebst Grafikkarten und anderem Krimskrams gefüllt war. An den Wänden hingen Poster mit Sternbildern, die in der Nacht leuchteten; dazu noch Star-Trek-Risszeichnungen und Fotos von verschiedensten Raumfahrzeugen, wie der Apollo-11-Rakete, dem Eagle, dem Sputnik und dem Lunar-Mobil.

»NASA-Website, ESA-Website, SAT-Watch.org und Space-Scrap.com, dazu noch dreizehn allgemeine News-Seiten. Überall dasselbe mit kleineren Abweichungen – heute Nacht gegen 23 Uhr wird UBRS crashen, und zwar in einem schmalen Streifen quer durch Oregon.« Zufrieden lehnte er sich an die Couch zurück.

»Ganz Oregon? Vielleicht stürzt er also doch nicht bei uns ab?« Clive klang fast etwas erleichtert. Er konnte dem Hobby seines Freundes nicht vollständig begeistert folgen, was auch daran lag, dass Clives Mutter Stephen für einen durchgeknallten Freak hielt. Zugegeben, Stephen war ein Freak, aber einer der interessanten Sorte, fand zumindest Clive.

»Möglich. Aber sehen werden wir ihn auf jeden Fall!« Stephens Finger wies nach oben zum Zimmerfenster. Es lag auf der Giebelseite und blickte hinaus in die Weite der Wälder rings um Blue River, worin der Blue River Lake eingebettet lag. Hier, nahe den Ausläufern des Willamette National Forest, hellte kaum Restlicht den Nachthimmel auf, wie es in den großen Städten im Westen war. Stephen und Clive konnten bis weit hinab zur Baumgrenze die Sterne sehen.

»Und? Wie schaut’s aus? Bist du dabei?« Stephen grinste über sein volles Mondgesicht und reichte seinem Freund die aufgeschwemmte Pranke. Clive ließ seine Hand einklatschen, wobei sein dürrer Körper durchgeschüttelt wurde.

»Klar!«

Und somit setzten sie sich an das Fenster, blickten hinaus in die Nacht über Oregon und warteten auf den Satelliten UBRS, der so groß wie ein Schulbus irgendwo dort oben durch die Atmosphäre in Richtung Erde hinab torkelte.

***

»Und? Siehst du schon was?«

»Nein. Mal mehr in Richtung Süden suchen!«

Matthias und Markus standen in der Kommandobrücke der ›Seagull‹ und starrten mit ihren klobigen Ferngläsern hinaus über die stille See auf der Suche nach der ›Reena‹, dem Containerschiff, das gestern vor der somalischen Küste auf ein Riff gelaufen und gestrandet war. An Bord befanden sich neben Baumwolle, Bananen und irgendwelchen Museumsartefakten unter anderem 1500 Tonnen Schweröl, das nun durch einen Riss in der Hülle auszulaufen drohte. Es hätte zu einer schweren Umweltkatastrophe an der somalischen Küste kommen können.

Die ›Seagull‹ war die Speerspitze einer Rettungsflotte, welche die Mannschaft aufnehmen und das Öl abpumpen sollte. Zunächst galten alle Gedanken den 15 Besatzungsmitgliedern an Bord. Erst in zweiter Linie kam das Öl. So behauptete es zumindest die amerikanische Reederei. Aber die Firma hatte schon oft gelogen. Markus glaubte ihr kein Wort mehr.

»Ich hab sie!« Markus ließ das Fernglas sinken. Sein ausgestreckter Arm wies die Richtung für Matthias. Dieser schwenkte sein Fernglas in die angezeigte Richtung.

»Nun sehe ich sie auch! Sieht nicht schwer angeschlagen aus, finde ich.«

Das Containerschiff wirkte auf Matthias wie ein klobiger, viereckiger Kasten. Die 40- und 20-Fuß-Container auf seinem Rücken verdeckten nahezu vollständig den Kommandobrückenturm.

»Warte mal ab! Aus der Ferne kann man das nicht klar erkennen!«, warnte Markus. »Sie liegt schief, schätzungsweise 20 Prozent nach Steuerbord. Da ist sicherlich mehr zerstört als nur der Riss an der Backbord-Seite.«

Plötzlich zog Matthias verwirrt die Stirn in Falten. »Was ist denn das da? Da ist noch ein Schiff vertäut, ach was – zwei Schiffe!«

»Ich sehe sie! Die haben in kurzer Entfernung vor der Reena geankert. Vielleicht ein Rettungsteam, von dem wir nichts wissen?« Markus drehte am Steuerrad, arretierte es und griff zum Funkgerät.

»Seagull an Homebase – ist noch ein weiteres Rettungsteam unterwegs zur Reena?«

Rauschen war die Antwort.

»Was ist denn bei denen los?«, wollte Matthias wissen. Er hatte das Fernglas ebenfalls abgestellt. Markus zuckte die Achseln und nickte mit dem Kopf in Richtung des Brückenfensters.

»Könnte an der Sturmfront liegen, die aus Richtung Osten von der Arabischen See her auf uns zuläuft.«

Matthias blickte hinaus. Sie fuhren nach Norden, immer an der somalischen Küste entlang. Die Reena zeichnete sich als Punkt auf dem Wasser ab. Sie hielten genau darauf zu. Von rechts her dunkelte der Himmel in einem tiefen Blau, das schließlich zu einem finsteren Schwarz wurde, wenn sich Matthias nach vorn beugte und weit nach Osten blickte.

»Das sieht nicht gut aus! Aber wir müssen da durch!«, orakelte er.

Markus nickte nur.

Draußen – weit voraus – vibrierte die Reena im Taumel der Meeresgewalten, welche in Form von Wellen gegen sie anbrandeten und den Riss in ihrer Flanke verbreitern halfen, durch den bei jedem Stoß schwarze Ölwogen herausschwappten.

***

»Hey, schläfst du?«

Stephen stieß seinen Freund in die Rippen. Clive schreckte auf. Er war tatsächlich eingenickt, den Kopf auf den Arm gelegt.

»Oh, Scheiße! Ich war völlig weg! Wie viel Uhr ist denn?«

»Kurz nach elf! Das Ding kommt gleich runter und du verpennst es noch, Alter!«

»Ich bin wieder fit, kein Problem!« Clive klang schuldbewusst.

Stephen hob sein Fernglas zum wiederholten Mal. Clive hatte aufgehört zu zählen, aber es musste sicherlich mehrere Dutzend Male gewesen sein, dass Stephen durch das Fernglas geblickt hatte.

»Wann stürzt er denn genau ab?«

»So gegen elf, wie gesagt!«

»Wieso weißt du das nicht genauer?«, maulte Clive.

Stephen zog die Stirn kraus: »Die NASA weiß auch nur 20 Minuten vorher, wann genau der Satellit abstürzt. Und die exakte Stelle kennen die auch nicht!«

»Dann schau doch mal auf die NASA-Internetseite, damit wir zumindest die genaue Uhrzeit wissen!« Clive drückte die Leertaste auf Stephens Tastatur. Sofort sprang der Rechner aus dem Ruhezustand heraus.

»Die von der NASA veröffentlichen das doch nicht! Die Forscher wollen nicht, dass jemand zu viel darüber weiß! Schlechte Publicity. Die Leute haben eine Heidenangst davor, von einem abstürzenden Satelliten oder anderem Weltraumschrott erschlagen zu werden. Die NASA will daher möglichst wenig Panik schüren. Außerdem …« Stephen lehnte sich ein wenig vor in Richtung seines Freundes, »… könnte es ja sein, dass das in Wahrheit ein Spionagesatellit ist!«

»Na und? Verglüht doch eh alles!« Clive verstand seinen Freund nicht.

»Keinesfalls klar, mein Bester! Keinesfalls! Oft sind schon 500-Kilo-Teile abgestürzt, gottlob die meisten ins Meer. Aber stell dir mal vor, so ein Monster schlägt in eine Kleinstadt ein! Die Folge wäre eine Massenpanik und vor allem: Jemand könnte die hochtechnologische Spionage-Ausrüstung klauen.« Er zwinkerte seinem Freund zu und grinste.

»Ist doch sicher alles zerdeppert, verbeult, kaputt! Was will man denn damit?« Der Junge blickte gelangweilt zum Fenster.

»Sag das nicht! Die NASA betont immer wieder, dass die Satelliten ihr Eigentum sind und man nichts davon mitnehmen darf! Feindliche Geheimdienste bieten sicherlich ein Vermögen, um die Spionagegeräte studieren zu dürfen. Denk nur an den abgestürzten Tarnkappen-Helikopter, als man am 2. Mai 2011 Bin Laden angegriffen hat! Den haben die Pakistanis dankbar untersucht! Und ich bin mir sicher, dass die ihre Infos an den Meistbietenden verkauft haben! Vielleicht sogar nach Teheran, in den Iran!« Stephen nickte bedeutungsschwer.

Doch plötzlich war alle Politik vergessen.

Ein helles Objekt tauchte rechts oben im Blickfeld der Jungs auf. Es schoss rasend schnell schräg nach links weg und hinterließ dabei einen grellen Lichtstreifen. Plötzlich teilte es sich in vier … nein fünf Fragmente. Eines davon fiel steil nach unten und schlug mit einem Blitz, der die Baumwipfel erhellte, mitten im Nationalpark ein.

Ein Donnergrollen folgte dem Einschlag.

Clive und Stephen sahen sich an, die Münder vor Staunen weit offen. Es dauerte eine Minute, ehe Stephen sagen konnte:

»Verdammte Scheiße – wie geil ist das denn? Das ist nicht weit weg! Höchstens fünf Kilometer! Los, wir schwingen uns auf die Räder und schauen den abgestürzten Satelliten an, bevor die NASA da ist!«

***

»Längsseits beidrehen und Anker werfen!«

Markus stand in der Kommandobrücke und blickte mit zusammengekniffenen Augen durch das große Brückenfenster auf den Frachter, der wenig voraus in den Wogen krängte. Man konnte sehen, wie die Wellen heranschwappten, gegen die hoch aufragende Außenwand des Schiffes schlugen, und daran zerbrachen. Bei jedem Stoß meinte Markus, den Stahl krachen zu hören.

»Was machen die anderen beiden Schiffe? Irgendwelche Aktivitäten an Bord«, wollte er von Matthias wissen, der neben ihm stand.

Dieser schüttelte den Kopf. »Da rührt sich nichts. Sieht mir aber nicht nach einer Hilfsorganisation aus, die mir bekannt ist. Schau doch, was für alte Seelenverkäufer das sind!«

Markus sah nach rechts, wo die beiden Schiffe vor Anker lagen. Beide sahen so aus, als hätten sie ihre besten Tage schon lange hinter sich – von der Bordwand blätterte die Farbe in groben Flecken ab, sodass die Namen schon gar nicht mehr zu erkennen waren. Die Fenster der Kommandobrücken beider Kähne waren so verdreckt, dass man kaum hindurchsehen konnte. Scharen von Möwen hatten sich auf den Masten niedergelassen, woraus Markus schloss, dass sich die Schiffe schon einige Zeit an Ort und Stelle befinden mussten.

»Sieht mir nach Fischkuttern von der somalischen Küste aus – könnten das Fischer sein, die zu Hilfe geeilt sind?«, fragte Matthias.

Markus schnalzte mit der Zunge und antwortete: »Schwer zu beurteilen. Wir gehen an Bord und machen unsere Arbeit. Auf dem Wrack werden wir ja wohl die Besatzung der beiden Kutter finden, und dann sehen wir weiter!«

»Aye, aye!« Matthias beeilte sich, die ›Seagull‹ in Position zu drehen und kurbelte wie wild am Steuerrad. Das wendige Schiff legte sich sanft nach Steuerbord und schob sich mithilfe der Steuerdüsen Meter für Meter an die Backbordseite der havarierten ›Reena‹ heran.

Die Mannschaft an Deck begann mit den Vorbereitungen für das Absaugen des Schweröls. Dazu wurden Pumpschläuche aufgerollt und bereitgelegt. Man nahm einen Kran in Betrieb, der mittels eines Scherengestänges einen Fahrkorb in die Höhe stemmte, worüber die Rettungsmannschaft an Bord des Wracks gelangen sollte.

Markus blickte an der Bordwand des Containerschiffes empor. Eine schwarze Wand aus Stahl erhob sich steil in die Höhe. Ganz oben konnte er die Containertürme sehen, die auf ihn wie bunte Bauklötze eines Gigantenkindes aussahen. Die meisten standen aufrecht und neigten sich dem Schiff entsprechend nach Steuerbord. Weit vorn am Bug aber wusste Markus um einige Türme, die bereits im Wellengang gekippt waren, sich verkeilt hatten, aber wegen ihrer Verschraubung nicht umfallen konnten und nun wie fremdartige Gebilde fächerartig abstanden.

In weniger als einer Viertelstunde waren Markus und Matthias die Ersten, welche im Fahrkorb auf Höhenniveau der ›Reena‹ emporgefahren wurden und das Deck des havarierten Containerschiffes betraten.

Unter sich fühlten sie das Vibrieren des Stahls, wenn die Wogen sich krachend an der Bordwand brachen. Das Deck war mit Wasser bedeckt, das die Gischt bei jeder Wellenfront heraufwirbelte.

Niemand zu sehen.

»Wo sind alle hin?«, wollte Matthias wissen und blickte sich um. Rings um sie wuchteten sich die gewaltigen Containertürme empor. Nur wenig Raum war dazwischen, um sich fortzubewegen. Markus ging voraus in das eiserne Labyrinth.

Weit musste er nicht gehen. Nach zwei Biegungen starrte er entsetzt auf die Szene, die sich ihm bot:

Auf einem freien Platz, wo zwei Containertürme weggeknickt waren, kniete die Besatzung der ›Reena‹, wie Markus an den asiatischen Gesichtszügen erkannte. Er wusste, dass das Schiff unter koreanischer Flagge fuhr, um Steuern zu sparen. Markus hasste diese Art von Firmenpolitik.

Die Männer hatten die Arme hinter dem Nacken verschränkt und blickten starr zu Boden. Hinter ihnen standen ein Dutzend Schwarze mit Kalaschnikows, welche sie auf die Knienden gerichtet hielten.

»Piraten!«, zischte Markus und wollte zurückweichen, doch es war zu spät. Er spürte den Mündungsfeuerdämpfer der AK-47 im Rücken und hob die Arme.

Ein kehliger Befehl wurde gebellt und jemand stieß Markus von hinten die Mündung ins Kreuz, sodass er nach vorn auf die Knie fiel und vor Schmerz aufstöhnte. Neben ihm kam auch Matthias zu Boden.

»Keine Hilfsorganisation also!«, knurrte Markus zwischen den Zähnen heraus. Er sah sich um. Die anderen blickten die Neuankömmlinge verstört an. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten.

Die Farbigen trugen offene Hemden und zerrissene Jeans. Einer von ihnen hatte sich ein rotes Bandana umgebunden. Alle anderen blickten immer wieder zu ihm hinüber. Das war der Anführer.

Plötzlich ertönte ein Schrei. Markus wandte den Kopf und sah, wie ein weiterer Farbiger zwischen den Containertürmen auftauchte und wild gestikulierend auf den Anführer zurannte.

Er schrie unaufhörlich zwei Worte und wollte gar nicht aufhören. Was er schrie, hörte sich wie »Shayddaan imaneyaa!« an.

Der Anführer packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn durch. Immer wieder nickte der Mann, stotterte sein »Shayddaan imaneyaa!« und deutete nach hinten. Dann weinte er hemmungslos und schlug die Hände vors Gesicht. Der Anführer bellte einen Befehl, blickte drohend in die Runde und dann geschah das Unglaubliche: Die Piraten zogen sich zurück!

Der Rückzug war so überschnell wie überhastet. Fast schien es, als wollten alle gleichzeitig das Schiff verlassen und drängten sich nun durch das Nadelöhr der Containertürme. Markus ahnte, dass dem tatsächlich auch so war. Die wollten weg um jeden Preis. Aber wieso?

Ihre gellenden Schreie waren noch lange zu hören: »Shayddaan imaneyaa!«

»Was rufen die immerzu?«, fragte er Matthias.

Dieser zuckte die Achseln.

Ein Asiate war es, der die Antwort in gebrochenem Deutsch lieferte: »Er sagen – Teufel ist an Bord!«

***

»Hey, mach nicht so schnell! Warte auf mich!«

Clive hing die Zunge wortwörtlich aus dem Mund, als er mit dem Damenrad seiner Mutter hinter Stephen den abseits gelegenen Feldweg entlangraste und sich bemühte, mit seinem Freund Schritt zu halten. Aber so sehr er auch in die Pedale trat, stets war Stephen auf seinem Mountain-Bike Dutzende Meter voraus.

Diesen trieb der Enthusiasmus voran und die Sorge, die NASA könnte bereits unterwegs sein, um den Satelliten zu bergen.

Die beiden Jungs waren auf ihren Rädern in der Dunkelheit der Wälder Oregons unterwegs, mitten im Willamette National Forest, um das Bruchstück zu finden, das vor wenigen Minuten hier niedergegangen war.

Clive verfluchte insgeheim den Fanatismus seines Freundes, der eine Sache durchzog, die er sich in den Kopf gesetzt hatte – ohne Rücksicht auf Verluste. Er könnte nun gemütlich zu Hause im Bett liegen, aber nein – er radelte hinter Stephen her, der wie der Wind über Stock und Stein raste.

Die Lichter ihrer Räder rissen viel zu wenig Weg aus der Finsternis, fand Clive. Er befürchtete, dass sie bald über einen quer liegenden Baumstamm stürzen würden. Doch nichts dergleichen geschah.

Plötzlich bremste Stephen abrupt, sodass Clive vor Überraschung ebenfalls hart den Bremszug am Lenker mit den Fingern zurückzog. Er rutschte noch ein Stück weiter auf dem Laub und kam dann neben seinem Freund zum Stehen.

»Was ist los?«

»Da vorn!« Stephen deutete mit seiner Taschenlampe zwischen den Bäumen hindurch. Der Lichtfinger wanderte über eine abschüssige Lichtung, worin ein Krater geschlagen war. Und in diesem Krater glühte etwas.

Mit trockenen Mündern stiegen die Jungs vom Rad und näherten sich der Lichtung. Auch Clive schaltete nun seine Lampe an. Er richtete sie ebenfalls auf den Krater. Beim Näherkommen enthüllten die Lichtovale ein metallisches Objekt in der Kratermitte.

»Das Bruchstück des Satelliten!«

Stephen brachte den Satz nur schwer hervor, so aufgeregt war er über ihren Fund. Er wusste, dass sie schnell sein mussten – bald schon würde die NASA anrücken. Daher stieg er in den Krater hinein und kniete sich neben dem Bruchstück nieder.

Dieses sah aus wie eine geriffelte Tonne, die man mit Alufolie ummantelt hatte, welche nun aber weitgehend schwarz verfärbt war. Angeflanscht war das schief gebrochene Segment einer Parabolantenne, deren Bruchrand noch immer Glutpunkte aufwies. Dahinter wölkte aus dem Inneren des Satelliten eine Rauchsäule empor.

Die amerikanische Flagge zierte die tonnenförmige Hülle, ein Zugeständnis der NASA an den Patriotismus der Landsleute. Darüber hinaus war das Metall angekokelt und wies eine Art Schmauchspur auf, ganz so, als habe eine Flamme an der metallenen Oberfläche gefressen.

»Ich muss einfach ein Stück davon haben!«, flüsterte Stephen fast unhörbar. Dennoch hörte es Clive.

»Lass das mal besser sein! Wenn die von der NASA uns in die Finger kriegen, dann …!« Er ließ den Satz bewusst unvollendet in der Hoffnung, das würde Stephen umstimmen. Aber er hatte nicht den leisesten Hauch einer Chance.

Stephen griff nach hinten und holte ein Klappmesser aus seiner Hosentasche heraus. Behutsam näherte er sich damit dem Bruchstück.

»Wo könnte ich wohl am besten etwas herausbrechen … hm …?«

Er stieß zu und hebelte ein faustgroßes Stück Metall aus dem Satellitenfragment heraus.

Plötzlich ertönten Sirenen und Blaulicht flutete den Wald.

»Jetzt können wir nur noch hoffen, dass die uns nicht entdecken!«, meinte Clive.

Er konnte nicht wissen, dass dies nur das kleinere Übel für seinen Freund in dieser Nacht bedeutet hätte. Etwas weitaus Gefährlicheres machte sich bereit, in Stephens Leben zu treten …

***

»Hörst du nun das Geräusch des Teufels?«

Matthias stand am Eingang zum Frachtraum des Containerschiffes, wohin der erschrockene Asiate sie geschickt hatte, und hielt seinen Freund Markus am Arm fest. Dieser verharrte regungslos und lauschte.

Er hörte den Wind, der sich pfeifend hoch oben an den Containertürmen brach und weiter unten im Labyrinth zwischen ihnen als fauchende Böen herumirrte. Dazu gesellte sich das durchdringende Knarren des Metalls, wenn die stürmische See an der Außenhülle der ›Reena‹ zerrte und riss.

Und dann hörte es Markus. Es war ein metallenes Krachen, das er im ersten Moment für ein weiteres Geräusch der See hielt, welche mit dem Schiff spielte. Aber das war es nicht. Das Geräusch war im Gegensatz zu dem Knarren des Containerschiffes unregelmäßig und klang so, als würde es in einem großen Raum widerhallen. Es waren Schläge gegen Metall.

»Das kommt von unten, vom Frachtraum! Sind vielleicht afrikanische Flüchtlinge, die sich in Container reingeschmuggelt haben. Wir müssen schnell sein, vielleicht sind die bereits am Verdursten!«, beeilte sich Matthias zu sagen.

Markus nickte und gemeinsam öffneten sie die Schotttür. Eine Treppe führte hinab in die Dunkelheit. Matthias ertastete einen Schalter neben der Tür und drehte ihn. Ohne Ergebnis. In diesem Teil des Schiffes war die Stromversorgung offensichtlich bereits zusammengebrochen. Plötzlich flammte eine rötliche Notbeleuchtung auf.

»Die Akkus sind schon sehr schwach. Hast du deine Taschenlampe noch bei dir?«, fragte Markus.

Matthias nickte. »Dann schauen wir mal nach, was da unten los ist.«

Matthias voraus. Die Treppe wand sich in die Eingeweide des Schiffes hinab. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelangten die beiden Männer an eine weitere Schottür. Die metallenen Schläge waren nun wesentlich deutlicher zu hören. Matthias drehte das Eisenrad und drückte gegen die Tür, welche sich mit einem Knirschen in den Angeln drehte und über den Boden schleifte.

Vor ihnen befand sich der Frachtraum. Er lag größtenteils im Dunkeln, was die imposante Größe des Raums noch unterstrich. Im Gegensatz zur den beiden Seeleuten bekannten Bauweise war hier der Frachtraum nicht in mehrere Sektionen unterteilt. Containertürme ragten hoch hinauf, waren aber nicht überall gleich hoch. Einige Container waren heruntergestürzt und lagen als große verbogene Metallquader mitten im Raum oder auf anderen eingedellten Containern.

Einer dieser Container erregte allein schon wegen seiner überdimensionalen Größe ihre Aufmerksamkeit. Er war so groß wie vier Durchschnittscontainer und stand in wenigen Metern Entfernung im knöcheltiefen Wasser, das den gesamten Boden des Frachtraums bedeckte. Die Schläge kamen eindeutig von dort.

Matthias zückte seine Taschenlampe und richtete den Strahl auf den Container. Die Hülle des Metallquaders sah aus, als wäre sie von einer exotischen Pockenkrankheit befallen. Und bei jedem Schlag kam eine weitere Pustel hinzu.

»Irgendetwas Lebendiges ist dort drinnen!«, keuchte Matthias und Markus ergänzte: »Ja, und es ist stinksauer – und will raus!«

***

»Gute Nacht, Clive!«

Stephen winkte seinem Freund zum Abschied hinterher. Sie beide waren völlig durchgeschwitzt auf ihren Rädern beim Elternhaus von Steve angekommen. Die Jagd durch den nächtlichen Wald würden sie nie in ihrem Leben vergessen. Angestachelt von den Lichtern und den aufgeregten Männerstimmen, welche den Satelliten auf der Lichtung untersuchten, keimte in ihnen die Angst, dass man das Fehlen des Bauteils entdecken würde. Doch niemand war ihnen gefolgt, das war nun klar.

Der Junge drehte das schwarzverkohlte Würfelstück in den Händen. Er wusste nicht, worum es sich hierbei handelte, aber das war ihm völlig egal. Hauptsache, er besaß ein echtes Stück Weltraumschrott!

Als er später in seinem Zimmer war, überlegte er, wo er das Fundstück aufbewahren sollte. Es kam kein Ort infrage, der den Würfel zu offensichtlich präsentieren würde. Stephen besah sich das Chaos in seinem Zimmer, das aus Motherboard, Grafikkarten und anderen elektronischen Bauteilen bestand. Er grinste.

Hier würde es eh niemandem auffallen, dachte er bei sich.

Um dem Fund dennoch eine gewisse Würdigung beizumessen, legte er ihn in die Hände eines Spielzeugs, das in seiner Kindheit große Bedeutung für ihn gehabt hatte: der Clown ›Pennywise‹.

Der Clown war ungefähr so groß wie ein fünfjähriges Kind und saß auf einem Korbstuhl, der an das Bett angrenzte. Auf diese Weise konnte Stephen jederzeit vom Bett aus seinen Fund sehen. Der Kopf von Pennywise war weiß und wurde von einem roten Haarkranz umgeben. Ein ewiges Grinsen gab seinem Gesicht etwas Dümmliches. Eine weiße Halskrause führte hinab zu einem orangefarbenen Leibchen, an dem faustgroße Pompons hingen. Dürre, mit rot-weißen Ringelsocken bestrumpfte Beinchen erstreckten sich über den Rand des Korbstuhls hinaus, woran die überlangen Schnabelschuhe mit den Schellen haltlos baumelten, dabei ein leises Klingeln erzeugend.

Stephen liebte Pennywise, seit er denken konnte, und so war die Platzwahl für das Bruchstück eine Verbindung hin zu seiner Kindheit. Zufrieden legte sich der Junge schlafen.

Mitten in der Nacht wachte er von dem Gefühl auf, beobachtet zu werden. Er setzte sich auf und sah sich um. Irgendetwas war anders im Zimmer. Sein Blick fiel auf den Korbstuhl und er erbleichte. Pennywise war nicht mehr da!

Stephens Gedanken rasten. Waren seine Eltern da gewesen und hatten den Clown mitsamt Fundstück mitgenommen? War vielleicht ihm die NASA auf die Schliche gekommen? Zerrte man ihn im Morgengrauen zur Polizei? Sollte er sich vor Gericht verantworten? Musste er ins Gefängnis? Stephens Herz schlug wild.

Plötzlich erkannte er, dass seine Zimmertür offenstand. Von draußen ertönte das Geräusch von fließendem Wasser. Was war das? Hatte sein Vater vergessen, den Wasserhahn zuzudrehen?

Stephen stand auf und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Dort angekommen horchte er hinaus in die Dunkelheit seines Elternhauses. Das Geräusch kam nicht vom Badezimmer nebenan, sondern von unten. Er beschloss nachzusehen.

***

Matthias näherte sich der Containertür. Markus schritt neben ihm.

»Was auch immer dort drinnen ist, es muss gewaltige Kräfte haben!«

Wieder ertönte ein Schlag, der die Luft erzittern ließ und eine weitere Beule in die Containertür drückte. Zwischen den beiden Türhälften erschien kurzfristig ein Spalt, der sich aber sofort wieder schloss. Noch hielten die beiden Verschlussstangen, welche über zwei Riegel bedient wurden.

»Komm wieder nach oben, Markus! Das gefällt mir nicht!« Matthias zögerte und blieb stehen. Auch sein Kollege wagte keinen Schritt weiter.

»Du hast Recht. Das soll sich die Polizei ansehen! Wenn die verrückten Asiaten krumme Geschäfte mit exotischen Tieren machen, ist das deren Sache und nicht unsere!«

In diesem Moment ertönte ein Schlag, der so kräftig war, dass den beiden Seeleuten die Ohren dröhnten und sie wussten, es war für weitere Überlegungen zu spät.

Die beiden Türhälften des Riesencontainers flogen mit einem Mal auf, schlugen krachend gegen die Seitenwände des Containers und verbogen sich. Dahinter war Dunkelheit.

Instinktiv wichen Matthias und Markus zurück. Markus langte in Richtung des roten Notfallkastens, der an der Wand hing und der unter anderem eine Feueraxt und eine Leuchtpistole enthielt. Er suchte nach dem Öffnungsriegel, fand ihn und ließ ihn nach unten klappen. In Sekundenbruchteilen fand er, wonach er suchte und schnappte sich den Gegenstand.

Die Dunkelheit im Container war nahezu körperlich. Es hätte Markus nicht überrascht, wäre sie wie ein gallertartiges Wesen aus dem Container herausgeschwappt, um sich auf ihn und seinen Freund zu stürzen. Für einen Moment dachte er unwillkürlich an bösartige Kreaturen, die er aus Geschichten von Howard Philips Lovecraft kannte: tentakelbewehrte Dinge mit unaussprechlichen Namen wie Cthulhu oder Shub-Niggurath.

Doch nichts dergleichen trat nun in das Licht der Taschenlampe, die ein zutiefst erschrockener Matthias auf den Container richtete. Was sich da aus der Tiefe des Containers hervorquälte, war nichts anderes als ein gewaltiger tonnenförmiger Fuß, der am Ende eines faltigen tonnenförmigen Beines mit vier halbrunden Zehen saß. Ihm folgte ein sich schlängelndes Etwas, das körperlos in der Dunkelheit zu schweben schien. Dann ragten zwei lange Zähne in das Oval des Taschenlampenlichtes, ein titanenhafter Kopf mit zwei ebensolchen Ohren, die ihm wie Segel an der Seite flatterten. Wo in dem Kopf normalerweise Augen sitzen müssten, gähnten hier nur zwei Höhlen, die mit Schatten gefüllt waren. Der Körper war bedeckt mit einem seltsam grünen Geflecht, das so gar nicht zu dem Grau seiner Haut passen wollte. Das Wesen richtete sich hoch auf und ließ ein wütendes Trompeten ertönen.

»Ein Elefant! Sie haben einen lebenden Elefanten hier eingesperrt!« Matthias rang um Fassung.

In diesem Moment rannte das Tier ohne Vorwarnung aus dem Container auf die beiden Seeleute zu, sodass der Boden unter ihnen vibrierte.

***

Stephen schlich zur Treppe und kauerte hinter den Stangen des Geländers nieder. Zwischen ihnen hindurch spähte er nach unten. Das Wohnzimmer lag im Dunkeln. Nichts rührte sich dort. Nur im Kamin glomm noch ein Funken. Der Junge atmete tief durch und trat mit bebendem Herzen auf die Stufen.

Oh Gott … bitte … lass sie nicht knarren!

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Stephen unten an und blieb horchend stehen. Wieder war das Geräusch zu hören. Er ruckte mit dem Kopf herum: Es kam aus der Küche.

Ich brauche eine Waffe!

Der Junge sah sich um und entdeckte neben dem Kamin das, was er suchte.

Der Schürhaken! Genau das brauche ich jetzt!

Er schnappte sich das Eisen und schlich zur Küchentür. Sie war nur angelehnt. Als er sein Ohr an das Holz legte, hörte er das Brausen des Wassers stärker. All seinen Mut zusammen nehmend drückte Stephen die Tür auf und streckte den Kopf durch den Spalt.

Was er sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln.

In der Küche stand alles auf seinem Platz, nur ein Stuhl fehlte. Dieser war an die Spüle gerückt und auf ihm stand Pennywise, den Kopf tief in das Spülbecken getaucht, die Hände um den Rand gekrümmt, während der Wasserhahn einen unendlichen Strahl über den Kopf der Puppe ergoss.

Als die Tür knarrte, erschrak Stephen furchtbar, doch es war zu spät. Der Clown hob den Kopf. Von seinen roten Haaren floss das Wasser auf seine Schultern, tropfte hinab auf den Stuhl. Von dort träufelte es zu Boden und bildete nachtschwarze Pfützen auf dem dunklen Linoleum.

Stephen wollte schreien, aber es kam kein Ton aus seinem Mund. Er konnte nur ungläubig auf die Puppe starren, in die nun Bewegung kam. Pennywise drehte den Kopf. Doch was war das? Das Gesicht der Puppe war übersät mit schwarzen Flechten, die sich zu einer Art Netz verbunden hatten, so etwas wie ein Muster aus Nervenzellenknoten bildeten.

In diesem Moment sprang Pennywise vom Stuhl und auf Stephen zu. In seiner Hand blitzte ein Küchenmesser.

***

»Pass auf!«

Markus’ Schrei gellte durch den Frachtraum. Ob Matthias ihn gehört hatte, vermochte er im Nachhinein nicht mehr zu sagen und dennoch warf sich der Angesprochene herum, ehe der besinnungslos wütende Elefant ihn mit einem Tritt seines Beines zermalmen konnte.

Markus sprang ebenfalls zur Seite und prallte gegen die Wand. Den Moment, als das Tier seinen Schwung nicht aufhalten konnte und mit patschenden Schritten das Wasser aufpeitschte, nutzte der Mann, um die Leuchtpistole aufzuklappen.

Gottseidank – eine Signalpatrone ist zumindest schon drin! Ich muss treffen!

Matthias zog sich ebenfalls an die Wand des Frachtraums zurück. Das Tier wendete und schwenkte hektisch den Kopf. Offensichtlich konnte es nicht sehen und nutzte einen anderen Sinn, um sich zu orientieren. Dann wandte es sich in Richtung Matthias und stapfte langsam auf ihn zu.

Markus hielt die Waffe in beiden Händen, streckte die Arme nach vorn und zielte über Kimme und Korn. Schweiß lief ihm über die Stirn und in die Augen. Er versuchte, den Salzschmerz wegzublinzeln.

Als der Elefant noch zehn Meter von Matthias entfernt war, zog Markus den Abzugshebel der Leuchtpistole voll durch.

***

Pennywise landete zwei Meter vor Stephen auf dem Linoleum. Der Junge taumelte nach hinten, stolperte über die Schwelle und fiel rücklings ins Wohnzimmer. Hart schlug er mit dem Hinterkopf auf. Mühsam musste er sich dazu zwingen, wieder Luft zu holen. Die Ohnmacht wollte ihn mit schwarzen Armen umfangen, aber es gelang ihm, sie von sich fernzuhalten. Wäre er bewusstlos geworden, wäre das sicher sein Ende gewesen.

Doch noch war es nicht soweit! Stephen schüttelte seinen Kopf, um wieder klare Gedanken fassen zu können, und blickte sich um.

Pennywise robbte wie ein Kleinkind auf dem Bauch über die Schwelle zum Wohnzimmer, wo Stephen lag. Der Junge kroch rückwärts und stieß gegen den Couchtisch.

Wo ist der Schürhaken, verdammt!

Er entdeckte ihn, ganz nah bei Pennywise. Zu nah, als dass sich Stephen Chancen ausmalen konnte, ihn vor dem Clown zu erwischen. Langsam rutschte er weiter rückwärts in Richtung Kamin, wo ein zweiter Haken hing.

Pennywise kroch, robbte und schob sich weiter über den Fußboden, sein Körper eine Mischung aus Maskerade und Algengeflecht. Das ewige Grinsen auf seinem Gesicht machte ihn nur noch grauenhafter.

Scheiße! Er holt auf!

Stephen erkannte, dass die Puppe die Distanz zwischen den beiden drastisch verringert hatte und versuchte aufzustehen, aber ein stechender Schmerz im linken Knöchel verhinderte dies. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Ich muss weiter! Darf nicht anhalten!

Dann stieß er gegen die groben Steine des Kaminrahmens. Mit der linken Hand tastete er nach hinten, suchte den letzten verbliebenen Schürhaken. Zugleich ließ er den Clown nicht aus den Augen, der langsam und unerbittlich näher kroch.

Stephen fand den Haken, umschloss ihn mit der Faust und hob ihn vom Gestänge. Er entglitt ihm und polterte hinfort in die Dunkelheit.

***

Der Schlagbolzen traf auf die Zündladung. Diese schlug einen Funken, der sich weiter nach innen fraß und die Treibladung der Patrone entzündete. Mit einem Fauchen schoss die Leuchtkugel aus dem Lauf.

Sie flog durch die Luft und traf den Elefanten schräg hinter dem Ohr, wo sie sich mit einem Zischen unter die Haut brannte. Das Tier zuckte mit dem Kopf, behielt aber dennoch seine Laufrichtung bei.

Verdammt! Wo ist die zweite Patrone?

Markus kramte hektisch im Erste-Hilfe-Kasten an der Wand und fand schließlich das kleine Kästchen mit den Leuchtkugeln. Er schnappte sich die nächstbeste, klappte den Lauf herunter, ließ die leere Hülse herausfallen und legte die neue ein. Dann stieß er den Lauf nach oben, dieser rastete ein und somit war die Pistole bereit für einen zweiten Schuss.

Wieder zielte Markus sorgsam, während Matthias wie eine gefangene Fliege im Netz der Spinne an der Wand bewegungslos stand. Ein schwarzer Rauchfaden schlängelte sich hinter dem Ohr des Elefanten hervor. Dann schoss Markus ein zweites Mal.

***

Voller Panik tastete Stephen mit der Linken hinter sich.

Wo ist der verschissene Haken hingefallen?

Pennywise war nur noch einen Meter von dem Jungen entfernt. Beim nächsten Mal würden seine überlangen Schlackerarme über Stephens Beine streichen.

Da ist er!

Stephen fühlte das kalte Eisen und packte zu. Dann riss er den Haken hervor und stieß ihn mit pfeilschnell ausgestrecktem Arm dem Clown entgegen.

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Der Schürhaken durchbohrte das Stoffgesicht des Clowns. Instinktiv wuchtete Stephen seine Puppe in einer horizontalen Bewegung in den Kamin, wo sie sofort Feuer fing.

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Die Leuchtkugel fand ihr Ziel und bohrte sich in den Elefanten. Sie musste einen trockenen Punkt getroffen haben, denn in wenigen Augenblicken stand das Tier inmitten einer Flammensäule.

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Pennywise wälzte sich aus dem Kamin und robbte erneut auf Stephen zu. Grüne Feuerzungen loderten über den Rücken des Clowns und fanden neue Nahrung in seinen Haaren. Selbst deren Feuchtigkeit schützte sie nicht vor den chemischen Flammen des Textilkörpers. Wie ein übergroßer Feuerkäfer schob sich Pennywise näher.

Bitte, lieber Gott – rette mich!

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Der Elefant rannte weder los, noch reagierte er in einer anderen Art und Weise auf die Flammen. Er stapfte weiter, ungeachtet des Feuers, und näherte sich nun Matthias auf wenige Meter. Nur ein Wunder konnte ihn noch retten!

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Das Wunder kam für alle in Form einer Wassersäule von oben.

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Der Riss in der Außenhaut brach endgültig auf und es ergoss sich eine Kaskade von Meerwasser in die Ladebucht, welche den Elefanten wie mit einer Titanenfaust traf. Sofort erloschen die Flammenzungen und das Tier kippte zur Seite, wo es bewegungslos liegen blieb.

Matthias eilte sofort zu Markus und rief ihm durch das Tosen des Wasserfalls zu: »Raus hier! Das Schiff geht unter!«

Beide rannten zur Lukentür und eilten die Eisensprossen hinauf. Es gelang ihnen auf ihr Schiff zurückzukehren und genügend Abstand zwischen sich und dem Containerfrachter zu bekommen, der in einem gewaltigen Strudel zur Seite gedrückt wurde und versank.

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Nachdenklich wog Matthias ein schwarzverkohltes Stück Haut in seiner Hand, das er dem Elefanten entnommen hatte. Laut Bordbuch war dieser längst tot und für eine Ausstellung in einem Museum ausgestopft worden.

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Der Wasserschwall klatschte auf den Clown und löschte ihn ab.

»Was soll das?«

Stephen drehte den Kopf und erschrak. Seine Mutter stand hinter ihm. Ihr Gesicht sah wie zu einer Faust geballt aus. In den Händen hielt sie einen leeren Putzeimer. Kleine Wassertropfen perlten noch daran herab.

»Der … Clown … hat … gelebt!«, stammelte er.

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Wenn du ihn nicht mehr magst, ist das eine Sache. Aber ihn heimlich im Kamin verbrennen zu wollen, ist was anderes! Wieso hast du ihn wieder herausgeholt?«

Ihr Blick fiel auf etwas, das der Clown umklammert hielt. Sie bückte sich und holte es hervor. Es war das Trümmerstück des Satelliten. Sie drehte es in den Händen, wusste nichts damit anzufangen.

»Was ist denn das für ein Ding? Ein selbst gebauter Böller vielleicht?«

Stephen war sprachlos. Er wusste nichts zu entgegnen und starrte nur mit offenem Mund. Seine Mutter redete weiter. »Ist ja auch egal. Das werde ich mal deinem Vater auf die Arbeit mitgeben. Bei ihm auf der Polizeistation wird man schon wissen, was das ist. Und du – du hast Hausarrest für zwei Wochen! Na, dann hast du ja Zeit genug und kannst dir ein paar schöne Geschichten ausdenken, Mister Stephen Barker!«

***

»Und?«

Die beiden Wissenschaftler blickten im gleichen Moment von ihren Mikroskopen auf.

»Du hast Recht. Es ist dasselbe Geflecht!«, sagte der Dicke.

Im Hintergrund leuchtete eine Lavalampe in Blau unter einem NASA-Wandgemälde. Und blau verfärbt war auch das Wasserbad im Zentrum des Labors. Dort ruhten die Überreste des UBRS-Satelliten.

»Das heißt, der Elefant auf dem Containerschiff vor der somalischen Küste und das Trümmerstück des Satelliten in Oregon trugen dieselben Sporen«, sagte der Dünne.

»Und wir dürfen froh sein, dass die meisten Satelliten ins Meer fallen!«, kommentierte der Dicke.

»Stimmt. Landeinschläge sind immer ein Wettlauf mit der Zeit! Gottseidank gehen die meisten Satelliten über unbewohntem Gebiet nieder. Stell dir vor, nur ein Satellit kracht in ein Wohnviertel. Dort werden sodann unbelebte Dinge von dieser Sporenart befallen. Es bilden sich Zellenmuster auf deren Oberflächen, verbinden sich miteinander, bilden ein Geflecht wie Nervenzellen, entwickeln Bewusstsein und verleihen den Dingen ein Scheinleben! Chaos und Anarchie wären die Folge!« Der Dünne zitterte. »Und das alles nur, um an das für sie lebensnotwendige Wasser zu kommen.«

»Genau. Aber gottlob haben sie eine Achillesferse!« Der Dicke grinste. »Das Wasser.«

»So ist es. Ziemlich paradox: Einerseits brauchen sie Wasser, um ihren Stoffwechsel anzukurbeln. Aber dieser Vorgang lähmt die Sporen auch, macht sie nahezu unbeweglich. Aber es tötet sie nicht. Das würde allerdings Sauerstoff im Lauf von mehreren Stunden tun. Deswegen befallen sie andere Dinge, um mit deren Hilfe zurück ins Wasser zu kommen.«

Der Dünne lachte. »Dennoch sind sie erstaunlich widerstandsfähig. Hitze, Kälte – das macht ihnen nichts aus. Sie ernähren sich von allem, was sie kriegen können. Sie verdauen nahezu jede Nahrung, egal ob Eiweiß, Silikon oder radioaktive Strahlung. Der perfekte Metabolismus!«

»Hört sich an, als würdest du die Sporen bewundern!« Der Dicke sah den Dünnen schief von unten her an.

»Ich bewundere nicht ihre momentane Form. Ich bewundere ihre Bauweise, ihr Konzept: Da reisen sie Jahrmillionen durch das All, treffen irgendwann auf Satelliten, Meteore, was weiß ich noch was – und dann? Dann rasen sie hinab zur Planetenoberfläche durch ein Flammenmeer an Reibungshitze beim Eintritt in die Atmosphäre. Und schlagen mit der Kraft einer Hiroshima-Bombe ein … und überleben das alles!« Die Wangen des Dünnen glühten vor Begeisterung.

»Aber welch Ironie ist es da, dass die Grundelemente des Lebens für die Sporen gefährlich sind: Wasser und Luft!«, gab der Dicke zu bedenken.

»Hm, da muss ich zustimmen. Wasser lähmt sie, Luft tötet sie. Das ist auch der Grund dafür, dass wir bislang keine größeren Probleme mit ihnen hatten. Sie bleiben tief unten am Meeresboden.« Der Dünne überlegte. »Kann es nicht sein, dass das Leben auf der Erde dennoch von der Existenz der Sporen profitiert hat?«

»Wie meinst du das?«, fragte der Dicke zurück und rieb sich den kahlen Eierschädel.

»Nun, vielleicht musste das Leben im Meer das Land erobern, um nicht von den Sporen befallen zu werden? Dann hätten die Sporen als eine Art Katalysator die Evolution auf der Erde beschleunigt!« Der Dünne trommelte nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Nase.

»Eine interessante Theorie! Wir sollten das überprüfen!«, mahnte der Dicke.

»Genau!«

Und mit diesem Wort beugten sich der dünne und der dicke Wissenschaftler wieder über die Okulare ihrer Mikroskope.

***

Und während die Wissenschaftler weiterforschen, zieht im All ein von grauen Flechten übersäter Satellit seine Runden. Funken sprühen hier und da aus defekten Leitungen. Er hat bereits angefangen, seine Rotationsbahn um die Erde enger zu ziehen wie einen Strick, den man um den Hals eines Todeskandidaten legt.