Lost America

Dedicated to Troy Paiva and his „Lost-America“ Website:

www.lostamerica.com

Thanx for inspiration

Hier würde niemand mehr beim Pferderennen mitfiebern, dachte Troy, als er über die staubige Straße schritt und die Rennbahn sah, die sich vor dem eigentlichen Ziel seiner nächtlichen Suche ausbreitete – dem Cosmo Hotel.

Das Schild mit der Aufschrift ›Phoenix Trotting Park‹ lag halb mit Sand bedeckt am Boden und verriet noch das Baujahr der Anlage – 1964. Damals war die Stadt noch etwas weiter weg gewesen, doch so langsam rückte sie näher, um sich auch noch dieses verlassene Grundstück einzuverleiben. Unersättlich war sie, Troy hasste das Miststück! Stück für Stück riss sie ihm seine Inspirationsquelle aus den Händen: die Wüste und ihre verlassenen Orte.

Denn jede Samstagnacht war Troy auf dem Highway unterwegs, um in der Wüste die Ruhe zu finden, die er für seinen Beruf als Internetdesigner brauchte. Er führte ein Dreibeingestell mit sich und über seiner Schulter hing der Tragegurt einer Ledertasche mit dem Fotoapparat darin, die schwer gegen seine Hüfte schlug. Vor einer Woche war er schon einmal hier gewesen und bereits der Magie des Ortes erlegen.

Es war eine warme Sommernacht – die Grillen zirpten und eine laue Luft floss über die Landschaft und brachte ein wenig Brausen des Stadtlärms mit sich. Doch es hörte sich anders an – wie die entfernte Brandung an einen unbekannten Strand.

Rechts neben dem dunklen Rechteck des Cosmo Hotels ragte ein riesiger Flutlichtmast zu den Sternen empor und zeichnete sich als übergroßer Schatten vom Restlicht der Stadt ab. Er stand schon leicht schief im Wüstenboden, aber Troy vertraute darauf, dass er nicht gerade jetzt umknickte. Dann wandte sich der Suchende dem kaum zu beschreibenden architektonischen Meisterwerk des Verfalls zu.

Das Gebäude reflektierte in seiner gewaltigen Glasscheibenfront das Licht des Vollmonds und warf es als hundertmal gebrochenes Irrlicht in die Wüste zurück. Sie bestand aus unzähligen Glasvierecken unterschiedlicher Größe. Dahinter erkannte er drei Etagen, deren einziger Zweck der des Vergnügens gewesen war. Die East-West Gambling Company hatte das Hotel erbaut, um darin sowohl Betten als auch ein Casino unterzubringen, das sich über mehrere Stockwerke erstreckte. Aus jedem Stockwerk konnte man die Pferderennbahn durch die Glasfront sehen, sodass man das Gebäude nicht hatte verlassen müssen, um seinen Gewinn einzustreichen.

Das Cosmo Hotel war nur zwei Saisons benutzt worden, dann hatte man die Anlage mangels Interesse der Spieler aufgegeben. Ein Jammer für die Anleger – eine Freude für Troy. Nichts erschien ihm lyrischer, keine Stimmung war ihm poetischer, als die Atmosphäre, die ein altes Haus ausatmet und die Luft, die in den verlassenen Räumen von der Hitze des Tages nachflimmert.

Besonders dieses Hotel hatte es ihm angetan. Es lag auf einem kleinen Hügel und überschaute die Ebene, wo Boxen und Stallungen langsam verrotteten. Es überblickte auch die Pferderennbahn, auf der schon wieder einzelne Wüstensträucher durch die plattgewalzte Sanddecke gebrochen waren.

Troy zögerte einen Moment – was, wenn da drinnen eine Motorradgang ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte? Doch er schimpfte gegen sich selbst, er solle endlich seine verdammten Spießer-Vorurteile ablegen. Er war in der Wüste – da galten derartige Dinge nicht. Der Fotograf trat durch die glaslose Schwingtür in das Innere und stand breitbeinig auf den knirschenden Scherben.

Er befand sich in der Lobby. Sie diente damals gleichzeitig zum Empfang der Hotelgäste, aber auch als zentraler Platz, um die Menschen zu den verschiedenen Spielebenen zu leiten.

Eine altmodische Rolltreppe stand still und führte schräg hoch, hinauf in ein schwarzes Loch. Troy spreizte den Dreifuß, zog den Reißverschluss rings um die Tasche, entnahm die Kamera und brachte sie auf dem Dreibeinstativ in Position. Seine geübten Finger stellten eine Belichtungszeit von fünf Minuten ein. So konnte er sichergehen, dass er nur allein mit dem Licht des Mondes eine feenhafte Stimmung auf dem Bild erreichte.

Während der Fotoapparat belichtete, setzte sich Troy auf eine der herumliegenden Sitztonnen aus den 60ern und zündete sich eine Zigarette an. Lange betrachtete er die Glut.

Er konnte nicht genau sagen, was ihn so am Fotografieren dieser verlassenen Plätze reizte, aber es musste etwas sehr Starkes sein, denn dieses Hobby betrieb er schon seit über zehn Jahren. War es die Dekadenz des gescheiterten amerikanischen Traumes, der sich besonders in den Überbleibseln von Luxus manifestierte? Oder war seine Neigung reiner Selbstzweck – Selbsttherapie sozusagen, gerichtet gegen die zermürbende Krankheit Sozialphobie? Irgendwann würde er hier draußen eine Antwort finden …

Das Foto war im Kasten. Wohin nun? Troy überlegte kurz, dann traf er die Entscheidung, noch weiter in dieses geheimnisumwitterte Gebäude einzudringen. Seine Wahl fiel auf die Rolltreppe in den ersten Stock. Darüber baumelten Kabelstränge von der Decke, wie die Tentakel einer Riesenqualle. Manche Deckenplatten waren längst abgefallen und offenbarten so die Innereien des Gebäudes. Ein vielarmiger Leuchter hing schräg nach unten und wirkte aber selbst in seinem Verfall so modern, dass eine Designklasse ihn nicht von einem zeitgenössischen Lichtobjekt würde unterscheiden können.

Troy erklomm die Rolltreppe und stieg vorsichtig über jedes Stück Müll, das in einer Blutlache aus Staub lag. Von oben erscholl aus der Schwärze der Türöffnung ein seltsames vielstimmiges Geräusch. Es klang wie ein tiefes Trillern, das in der Nacht der Hotellobby echote. Der Fotograf hielt inne und lauschte. Was war das? Eine Gruppe von Tieren, die sich hier zur Nacht versammelt hatten? Eine übrig gebliebene Eismaschine, die treu ihre Dienste verrichtete, obwohl niemand mehr da war, der ihr das mit ein paar Münzen vergelten konnte?

Er wusste es nicht. Trotzig ging er weiter. Das Licht des Mondes wies ihm den Weg – Troy hatte nie eine Taschenlampe bei seinen Ausflügen dabei, da er viel lieber die natürliche Stimmung des Mondlichts genoss.

Oben angekommen ließ er seine Blicke über das gewaltige Panorama gleiten, das sich ihm darbot: die erste Ebene des Spielcasinos war mit über vier Metern die höchste des ganzen Gebäudes; dementsprechend überwältigend wirkte auch die Glasfront. Einige Glasvierecke waren schon zerbrochen. Daher pfiff ein lauer Wüstenwind durch den Saal und ließ die alten Zeitungspapiere auf den plüschigen Sitzcouchen knattern und flattern. Hier hatten Obdachlose einige Nächte lang Unterschlupf gesucht, wie Troy vermutete. Aber was hatte sie wieder vertrieben?

Überall standen noch die großen Roulette- und Blackjack-Tische. Sie kauerten als hungrige Schatten auf dem Boden, jederzeit bereit einen Moment der Unaufmerksamkeit auszunutzen und sich wie hungrige Tiere auf einen allzu neugierigen Besucher zu werfen. Hingeduckt in die entlegene Ecke des Raumes – ein Bartresen. Niemand würde sich hier je wieder einen Drink genehmigen.

Auf dem verdreckten Teppich fanden sich noch vereinzelte Roulettechips und Spielkarten. Sie wirkten auf den Fotografen wie Allegorien der Einsamkeit. Draußen stieg der Mond über der Wüste auf und sah sich alles mit stoischem Gleichmut an.

Das Geräusch war allgegenwärtig. Doch bei genauerem Hinhören erkannte er, dass dieses Trillern von irgendwo unterhalb der Decke kommen musste.

Ein Blick nach oben enthüllte Troy die Ursache des Raschelns, des Getrillers und des Drecks auf dem Teppich. In den Löchern der Deckenplatten nisteten Hunderte von wilden Tauben, die dieses Konzert veranstalteten. Troy musste lächeln – scheinbar hatten diese Tiere die Obdachlosen mit den ewigen Gurrgeräuschen verjagt.

Die Schritte hallten hohl, als Troy sich aufmachte, den Raum zu durchmessen. Sein Ziel war die Treppe im Hintergrund, welche in die zweite Ebene führte. Würde er dort die Antwort auf seine Frage finden?

Auf der ersten Treppenstufe horchte Troy noch einmal – etwas war anders. Es hatte sich noch eine zweite Geräuschquelle hinzugemischt. Es hörte sich an, als ob sich ein Seil an einem Holz quietschend rieb. Der Fotograf stutzte und blieb stehen. Die Geräusche waren nicht gleichmäßig, sondern wechselten wie bei einem Kanon ineinander über.

Und während Troy auf dem Schmutz der Jahrzehnte nach oben stieg, kamen ihm schon wieder diese seltsamen Gedanken, die er noch bei keinem seiner Besuche in der Wüste gehabt hatte: Wieso war er hier? Welcher Zauber entstieg der Fäulnis und dem Gestank der zu Staub geronnenen Zeit? War es die Magie, die jeglichem Verfall anhaftete – eine Mischung aus Melancholie und sentimentale Hingabe an die Vergangenheit?

Möglicherweise von allem ein wenig.

Dachte außer ihm überhaupt jemand an diese verödeten Flecken mitten im gärenden Herzen dieses Landes?

Lost America.

Erinnerte sich jemand zurück? Hier in diesem Amerika, das die Vergangenheit allzu gerne in verklärendem Licht sah? Hoffentlich existierte noch irgendwo ein virtueller Speicher, der es einigen wenigen Menschen ermöglichte, die Fähigkeit des Erinnerns und Besinnens inmitten der Hektik des modernen Lebens zu entwickeln. Ein winziger Flecken nur – eine Scholle Land für die Vergangenheit im Datennetz. Nein, wichtiger noch: eine Insel für die Wirklichkeit des kollektiven Bewusstseins.

Er war oben und sah auf.

Zuerst hielt er es für einen makabren Scherz, ausgeführt von den Anhängern eines unbekannten Kultes. Doch bei näherer Betrachtung war diese Möglichkeit nicht mehr denkbar. Keineswegs. Nicht im Geringsten.

Der Wüstenwind säuselte durch die löchrige Glasfront und umschmeichelte die Schatten, die den Raum bevölkerten.

Vor Troy breitete sich ein makabres Mobile aus, gebildet von sich langsam im weichen Wind drehenden Körpern. Körpern, an groben Stricken befestigt, welche im Dunkel der Deckenhöhe verschwanden.

Troys Augen schimmerten feucht. Er besah sich die Körper genauer, doch er ahnte schon, was ihn erwartete. Die Männer, Frauen und Kinder waren bekleidet mit ockerfarbenen Stoffen – grob gegerbte Felle, aber mit kunstvollen Bändern verziert. Ihre nackten Füße hingen schlaff herab. Manche steckten noch in weich aussehenden Mokassins.

Doch das Schlimmste waren die blau aufgedunsenen Gesichter. Die Köpfe unnatürlich weit zur Seite geneigt. Ihre Gesichter trugen den Ausdruck des Schmerzes, den sie in ihren letzten Augenblicken erlebt hatten. Die gebrochenen Münder offen, die emporgequollenen Zungen dunkel verfärbt. Auf dem Kopf trugen viele noch den traditionellen Federschmuck der Ahnen.

Und da begriff Troy.

Er wusste nun, warum es all diese verlorenen Plätze in der Wüste gab.

All diese leeren Motels, wo sich Fledermäuse zum Schlafen kopfüber an die nackten Deckenstreben hängen. All diese trockenen Tankstellen, wo die Benzintanks rostend in der Mittagshitze stehen. All diese toten Diner-Restaurants, wo nur Ratten sich noch an fauligen Fleischresten laben.

Nun kannte er den wahren Grund dafür, dass all diese Versuche, in der Wüste Fuß zu fassen vergeblich geblieben waren …

Troy begriff nun.

Nein, es war mehr als nur ein Begreifen. Troys Bewusstseins wurde durch die nächtliche Begegnung im dunklen Herzen des Hotels erweitert. Eine höhere Macht ermöglichte ihm durch dieses gespenstische Mobile der Toten eine Sicht hinter die Fassade der Realität hin zu einer breiteren, tieferen Wirklichkeit.

Lost America – der Begriff ging noch weiter in die Tiefe des Gestern zurück, als sich Troy bewusst gemacht hatte. Man musste noch tiefer in der Wunde des Landes bohren, um den eigentlichen Dorn im Fleisch zu finden: Der Aufstieg seiner Kultur fußte auf der Vernichtung einer anderen Kultur.

Troy biss sich die Lippe blutig. Die amerikanische Nation verdrängte dies. Aber bis zu welchem Punkt konnte sie die Verdrängung ertragen? Gleich einem unbewältigten psychischen Problem kamen die Gespenster der Vergangenheit wieder und drängten ins Bewusstsein – quälten, störten, zerstörten! So lange, bis gesühnt wird, bis das Verbrechen als solches erkannt und verdammt wird. Bis auch die Letzten zugegeben haben werden, dass die Eroberung Amerikas mit einem Völkermord erkauft worden war …

Eine Blutschrift prangte in riesengroßen Lettern quer über die Glasfront. Es sah so aus, als seien die Buchstaben Teil einer Überschrift über dem Bild der Landschaft draußen vor dem Hotel. Die Worte schlängelten sich wie ein roter Fluss in der Wüste.

»Wounded Knee«

Bilder drängten sich in Troys Bewusstsein.

Das Jahr 1890 im späten Dezember. Indianische Männer, Frauen und Kinder, dicht zusammengedrängt im Schnee. Lumpen als Kleidung. US-Kavallerie auf den Anhöhen ringsum, Hotchkiss-Kanonen zielten auf die im Schnee dicht zusammengekauerten Indianer. Colonel Forsyth hatte den Auftrag, die Lakota-Indianer ins Militärlager in Omaha zu deportieren und folgte ihnen in die Badlands, wohin sie geflüchtet waren. Die Kavallerie stellte die Indiander. Häuptling Spotted Elk ergab sich kampflos. Unbewaffnet sollten die Indianer abgeführt werden. Unzufrieden mit der Anzahl der herausgegebenen Waffen ordnete Colonel Forsyth Leibesvisitationen an. Beim Durchsuchen eines Indianers löste sich versehentlich ein Schuss, worauf die US-Kavallerie mit ihren Gewehren und Hotchkiss-Kanonen die Ebene in einen Indianerfriedhof verwandelte: Gewehrschüsse fällten Männer, Frauen und Kinder. Granaten schlugen ein, zerrissen die Körper von Lebenden und Toten. Das Massaker dauerte Stunden. Sogar die Pferde der Indianer wurden getötet. Man soll die Leichen als Rabenfraß an die Bäume gehängt haben. Und man sagt, der Fluss färbte sich Rot vom Blut der Toten …

Als die Erkenntnis ihn übermannte, fiel Troy schluchzend auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den hohlen Händen. Und während sich sein Rücken unkontrolliert hob und senkte, öffneten die Gehängten die Augen und blickten im Drehen auf den Büßer.