Entfremdung

»Oh mein Gott!«

Der alte Mann greift mit beiden Händen an das Geländer der Treppe und sinkt auf die Knie.

»Was ist mit Ihnen?« gellt ein Ruf von oben durch den Schacht.

Der Stakkato-Hall von Stöckelschuhen auf rissigem Estrich, gefolgt vom bemüht schnellen Abwärtsklappern derselben auf der Treppe. Die junge Frau taucht am Ende der Stufen auf, packt blitzschnell Kugelschreiber nebst Notizblock in ihre Handtasche und fasst den älteren Herrn an den Schultern. Sie blickt forschend in sein schmerzverzerrtes Gesicht.

»Haben Sie Schmerzen in der Brust? Ist es das Herz?«

Der alte Mann schüttelt hektisch den Kopf. Er hat die schlohweißen Haare zu einem Zopf gebunden, der ihm nun um die Schultern wischt.

»Nein, nein. Es ist etwas anderes …«

Er atmet tief ein und aus.

»Hier … hier war es …«, murmelt der Mann, mehr zu sich selbst.

Sie schweigt, wartet darauf, ob noch etwas kommt. Ihr Blick sucht den seinen. Vergeblich. Seine Augen sind halb geschlossen, blicken an der Frau vorbei in die finstere Ecke unter der Treppe, wo ein rostiges Gitter den Weg versperrt.

»Ich dachte, ich hätte alles hinter mir … aber hier auf Ellis Island sind meine Erinnerung an damals stärker denn je. Stärker als in meinen Albträumen.«

Er richtet sich auf. Auch im Alter von über 80 Jahren ist der Mann noch von stattlicher Statur. Die Frau vor ihm, welche seine Enkelin sein könnte, ist ebenso hochgewachsen. Sie sagt zu ihm: »Kommen Sie mit nach draußen! Die frische Luft wird uns beiden gut tun!«

Der Versuch eines Lächelns. Zittrig.

Er sieht ihr Bemühen, bedankt sich mit einem Zwinkern. Sie greift ihm unter den Arm, stützt ihn beim Gehen. Nach wenigen Metern durch den verlassenen Hauptkorridor des Krankenhaus-Komplexes ist er schon wieder soweit gefasst, dass er sie behutsam abwimmelt.

Sie laufen an zerbrochenen Fensterscheiben entlang. Efeu und Gras wächst hindurch, greift mit Pflanzenfingern nach den Tapetenresten. Die Sonne blitzt in den Scherbenzacken der Fensterrahmen und malt immer da grelle Kleckse auf die gegenüberliegende Wand, wo die Schatten der Ranken ihr Licht nicht verdecken. Glas knirscht unter den Schuhen.

Bald sind die beiden Besucher durch das offene Eingangsportal getreten und stehen auf dem Vorplatz des Gebäudekomplexes, der einst für Einwanderer mit ansteckenden Krankheiten gebaut worden war.

Die Glocke einer Boje schallt vom Hudson River herüber und linkerhand erhebt die Freiheitsstatue ihre Fackel in den strahlend blauen Himmel. Möwen kreischen.

Mann und Frau setzen sich auf eine Bank.

»Es tut mir leid«, sagt der Mann. »Ich habe Sie sicherlich fürchterlich erschreckt, nicht?«

Sie lächelt nachsichtig. »Ja, das stimmt. Aber ich bin ja selbst schuld daran. Ich hätte Sie nicht hierher bringen sollen. Die Erinnerung muss schmerzlich sein.«

Ihr Blick wandert in die Ferne.

»Als Kind die Heimat verlassen, hier auf Ellis Island angekommen, von den Eltern getrennt und ins Krankenhaus verbracht, eine fremde Sprache, die Ungewissheit, wie es weitergeht …«

Er nickt.

»Das hat Spuren hinterlassen. Aber ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich zugestimmt habe, mit ihnen in das Krankenhaus zu kommen, um die Reportage zu machen.«

»Exklusiv in der New York Times: Die vergessene Seite von Ellis Island«, sagt sie träumerisch und malt die Überschrift in die Luft.

»Bei mir ist sie nicht vergessen, leider«, merkt er finster an. Dann atmet er tief ein und aus.

»Ich denke, es ist Zeit, dass jemand erfährt, was hier in jenen unglückseligen Tagen des Jahres 1919 geschehen ist. Es hat mich ein Leben lang begleitet, nur wenige wussten davon. Aber nun möchte ich, dass es publik gemacht wird. Werden Sie mein Sprachrohr sein, Elenore?«

Er sieht sie an. Sie fröstelt, nickt. Aus ihrer Handtasche zückt sie Block und Stift. Wartet geduldig, ohne ein Wort, denn sie weiß, es ist jetzt überflüssig.

Der alte Mann beschirmt die Hand und blickt nach oben.

»Als ich 1919 in New York ankam, war der Himmel bleigrau mit Wolken verhangen. Es nieselte. Kurz vorher war unser Aussiedlerschiff ›Moldavia‹ durch dichten Nebel gestampft. Keinen Meter haben wir gesehen und das defekte Nebelhorn tutete ständig mit krächzender Stimme. Noch heute wache ich manchmal schweißgebadet auf, weil ich glaube das Nebelhorn gehört zu haben. Können Sie sich das vorstellen?«

Sie schreibt, nickt, schreibt weiter, ohne aufzusehen.

Der alte Mann starrt über den dicht bewachsenen Platz in Richtung Einwanderungsgebäude.

»Wir waren auf der Flucht. Meine Eltern wollten weg aus Marburg, zu viel Not, keine Zukunft. Der Erste Weltkrieg war eben vorbei, die Revolution auch. Mein Vater war Soldat, Kommunist. Nicht gern gesehen damals. Also raus. Über Bremerhaven ins gelobte Land – Amerika. Dass man dort Kommunisten ebenfalls nicht mochte, hat niemand geahnt. Haben Sie das alles?«

»Ja, Thomas.« Sie schaut ihn nicht an, ist vertieft ins Schreiben. Er kennt das, lächelt, erzählt weiter.

»Gleich nach der Landung auf Ellis Island mussten wir ins Einwandererhaus. Wie eine Viehherde liefen wir den Kai entlang die Stufen hinauf. Immer bewacht, beobachtet: Wer hinkt? Hustet da jemand? Der sieht schwachsinnig aus!«

Der Mann faltet die Hände.

»Den Doktoren entging nichts. Schuppen auf den Mantelkrägen deutet auf häufiges Kratzen hin – Verdacht auf Läuse oder Krätze. Gerötete Augen – möglicherweise Trachoma. Ging jemand auf der Treppe die Puste aus – Lungen-Tuberkulose? So wurden wir inspiziert, noch bevor wir im Registrierraum waren. Dort ging es weiter. Erst warten, langes Sitzen auf den Holzbänken. Dann hoffen und bangen, während man sich zur Untersuchung anstellte. Die Doktoren hießen uns den Mund aufmachen, Zunge rausstrecken. Wir mussten uns umdrehen, sollten husten. Sogar die Augenlider drehte man einigen, um Trachoma festzustellen. Dann malten man den Kranken Buchstaben mit Kreide auf die Mäntel, brachte sie hinaus.«

Er seufzt.

»Wissen Sie, dass man Ellis Island auch die Träneninsel genannt hat?«

Er wartet keine Antwort ab.

»Für viele war sie das Ende der Hoffnung auf ein neues Leben. Sie wurden abgewiesen. Manche waren krank, diese durften nicht einreisen. So erging es mir. Man hatte Mumps festgestellt. Ich wurde von meinen Eltern getrennt, was nicht ohne viel Geschrei und Weinen abging. Damals war ich zehn Jahre alt, muss man bedenken. Meine Eltern sollten in New York auf mich warten. Ich wurde ins Krankenhaus auf der Südseite von Ellis Island gebracht, um meinen Mumps auszukurieren.«

Der alte Mann furcht die Stirn.

»Es war schrecklich! Getrennt von meinen geliebten Eltern. Fremde Menschen um mich, ein Doktor, eine Schwester. Alle redeten zwar beruhigend auf mich ein, doch ich verstand ja kein Englisch. Im Krankenhaus angekommen, hat man mir meinen Koffer abgenommen. Eine Katastrophe, denn in meinen Kleidern hatte meine Mutter Geldscheine eingenäht! Dann hat man mich gewaschen und neu eingekleidet. Ich war todunglücklich. Anschließend lief ich an der Hand von Schwester Lucy Mullan zum ersten Mal durch den Hauptkorridor des Gebäudetrakts ›für ansteckende Krankheiten‹. Schwester Lucy war bildhübsch, sie hatte mir einen Kuschelbären geschenkt und ich hatte mich sofort in sie verliebt. Braune Locken, ein zartes Gesichtchen, tolle Figur. Mir war heiß im Gesicht, als ich an ihrer Hand lief.

Dann stand ich im Haus Nummer 7, dem Kindertrakt. Ein großes Zimmer mit hohen Fenstern an drei Seiten. Zehn Betten, mit mir zusammen drei davon belegt.«

Thomas lehnt sich zurück. Ein Lächeln entspannt seine Züge.

»Da habe ich sie alle zum ersten Mal gesehen: Elric und seine Schwester Francine aus Russland. Ihre Eltern waren Adlige, die vor den Rotarmisten außer Landes geflohen waren. Elric merkte man seine Abstammung nicht an, aber Francines Benehmen war in jeder Hinsicht vornehm und auf Wirkung bedacht. Ich hielt sie zunächst für eingebildet, was sich aber schnell als Vorurteil entpuppte. Elric war vierzehn, Francine elf Jahre alt. Beide litten unter einem Erbgrind-Pilz. Man hatte ihnen darum die Haare geschoren, die Köpfe regelmäßig mit Jodtinktur eingerieben und weiße Hauben aufgesetzt, die von Elric scherzhaft als Turbane bezeichnet wurden.

Außerdem war da noch Will. Der Jüngste, acht Jahre alt. Stammte aus Irland, war schon die längste Zeit von allen hier im Krankenhaus. Angeblich hatte er auch Mumps, aber die Krankheit brach nie aus. Armer Will …«

Thomas schluckt schwer. In seinen Augen schimmert es verdächtig.

»Wir waren alle aus unterschiedlichen Ländern, unterhielten uns in den ersten Stunden durch Gestik und Mimik, später lehrte uns Will ein paar Brocken Englisch, sodass wir die Schwestern und Doktoren zumindest halbwegs verstehen konnten. Neben Lucy Mullan gab es natürlich noch weitere Schwestern, aber mir sind nur wenige Namen im Gedächtnis geblieben, wie beispielsweise Charlotte Meentsen, die Oberschwester. Sie blickte immer recht streng drein, wirkte verkniffen und biestig. Mit einem Wort: Wir Kinder mochten sie nicht. Auch taten mehrere Ärzte auf Ellis Island Dienst. Mir ist aber einzig der Name Simon Winesteene im Kopf, der hübsche Beau – alle Schwestern machten ihm schöne Augen.«

Der alte Mann räuspert sich.

»Damit habe ich Ihnen alles mitgeteilt, was Sie wissen müssen, um meine Geschichte verstehen zu können. Sie beginnt in meiner ersten Nacht im Krankenhaus. Ich wurde unsanft geweckt und sah mich schlaftrunken um…«

Neben meinem Bett standen Elric, Francine und Will. Sie hielten brennende Kerzenstummel in den Händen, deren Schein ihre Gesichter mit tanzenden Schatten überzog. Alle blickten ernst drein. Es sah spukhaft aus.

Dann hob Francine den Zeigefinger an die Lippen. »Komm mit!«, flüsterte Elric mir zu. Ich wusste, dass hier etwas im Gange war, wagte aber nicht laut nachzufragen, sondern folgte der Anweisung blind.

Wie alle anderen trug auch ich lediglich ein Krankenhaushemd und schlotterte, als ich die bloßen Füße auf den kalten Linoleumboden aufsetzte und sofort darauf in die Krankenhaus-Pantoffel schlüpfte.

Elric raunte: »Keine Schuhe! Könnten uns verraten!«

Ich stieg aus den Latschen.

»Eine Mutprobe, Thomas. Wir gehen zum Psycho-Pavillon«, sagte Elric.

Mir wurde mulmig im Bauch.

Der Psycho-Pavillon.

Dort waren die geistig Zurückgebliebenen untergebracht, warteten auf ihre Heimreise. Ein wahrhaft unheimlicher Ort bei Tag, wenn die Patienten schrien und gegen die Gitter schlugen. Aber weitaus schrecklicher bei Nacht, wie ich später noch erfahren sollte. Nachts, wenn Stille über dem Ort lastete und du nicht wusstest, ob gleich das bleiche Gesicht eines Mondsüchtigen mit rollenden Augen aus dem Dunkel auftauchte, um dich sprachlos mit offenem Mund anzustarren.

Elric öffnete die Tür unseres Zimmers und streckte den Kopf durch den Spalt. Er sah nach links und rechts, winkte uns herbei.

Wie Gespenster schritten wir den vom Vollmond erleuchteten Korridor entlang – vier Kinder in weißen Nachthemden, barfuß, mit brennenden Kerzen in den Händen.

Als wir beim Psycho-Pavillon ankamen, blickte Francine mich streng an.

»Komm zum Gitter!«

Widerstandslos folgte ich ihr zur Treppe. Dort sperrte ein Gitter die Nische unter der Treppe ab. Im Schein der Kerzen konnte ich sehen, dass dahinter Matratzen lagen.

»Knie nieder, mit dem Rücken zum Gitter! Streck deine Hände zwischen rein!«, befahl Francine. Ich befolgte den Befehl mit zitternden Händen. Blitzschnell packte Francine zu und fesselte mich an die Stäbe.

Währenddessen flüsterte mir Elric ins Ohr: »Damit du ein vollwertiges Mitglied unserer Bande wirst, musst du mindestens eine Viertelstunde hier aushalten. Ans Gitter gebunden, in der Dunkelheit, allein. Wir warten ganz vorn vor unserem Zimmer. An deinem Fuß bindet Francine gerade eine Schnur fest. Das andere Ende habe ich. Wenn wir dich holen sollen, wackelst du einfach.«

Will sah ängstlich aus. Er blickte unentwegt nach hinten. »Gebt ihm wenigstens eine Kerze!«, bat er.

Seit diesem Augenblick war er mein Freund.

Elric nickte. »Aber sie steht nicht direkt neben ihm, sondern im Gang.«

Die drei entfernten sich. Francine stellte ihre Kerze einen Meter von mir entfernt auf den Boden. Obwohl der Schein nicht weit reichte, war er mir doch ein Trost in der Finsternis und der Kälte, die von jenseits des Gitters in meinen Körper sickerten.

Von Minute zu Minute schlich sich das Grauen tiefer in mein Herz. Am Rand der Lichtglocke vermeinte ich Schemen umher huschen zu sehen. Wenn einer der Patienten sich im Bett drehte, hörte ich das Geräusch der Metallfedern überlaut.

Die Zeit dehnte sich, wurde zu einem unermesslichen Band.

Und dann waren da auf einmal diese Finger.

Ich fühlte sie zunächst nur undeutlich auf meinem Handrücken. Ich hielt sie für Einbildung. Aber das Gefühl blieb. So, als ob jemand mir sanft über die gefesselten Hände strich, sich an meiner Situation ergötzte.

Ich biss mir auf die Lippe.

Nur nicht schreien!

Da blies ein Luftzug die Kerze im Gang aus.

Ich war allein im Dunkeln. Allein mit dem Ding, das mich in meiner Hilflosigkeit mit klammen Fingern befühlte. Schon meinte ich, ein glucksendes Kichern hinter meinem Rücken zu hören.

Da konnte ich nicht mehr – ich presste die Augen zu, öffnete den Mund – und versagte. Ich war wie stumm. In Panik strampelte ich mit den Beinen, drückte mich vom Gitter ab, suchte mit den Fingern nach einer Möglichkeit die Schnürung zu lösen.

In diesem Moment hörte ich die anderen erst, als sie mir beruhigend ins Ohr flüsterten.

»Alles in Ordnung, Thomas. Du hast es geschafft! Psst, psst – niemand ist hier außer uns, niemand!«

Francine löste die Knoten. Sie half mir beim Aufstehen. Dabei fiel mein Blick auf mein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ich war kreidebleich im Gesicht. Hundeelend war mir obendrauf auch noch. Aber – ich hatte meine Angst überwunden und war nun Teil der Gruppe.

Thomas lehnt sich auf der Bank nach vorne. Sein umwölkter Blick verrät, dass er noch eine weitaus schwerere Passage erzählen würde. Elenore lächelt ihm aufmunternd zu.

»Können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, im Krankenhaus auf Ellis Island zu sein? Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich dies betonen. Denken Sie nur mal daran: zum ersten Mal ohne meine Eltern, ein fremdes Land, fremdes Essen – ich kannte kein Weißbrot – eine unbekannte Sprache, die fremden Kinder – alle aus unterschiedlichen Gesellschaften. Es war grauenvoll. Aber auch schön. Denn nach dieser Mutprobe war ich einer von ihnen und sie respektierten mich als Thomas, den Deutschen aus Marburg. Es gab keine weiteren Fragen.

Die Tage gingen dahin mit Untersuchungen, Spaziergängen auf dem Flur und Unterricht. Ja, es gab sogar eine Schule hier auf Ellis Island. Doch das, was mich am meisten interessierte, waren die Geschichten.

Die Schwestern erzählten sie uns. Über die Entdeckung Amerikas, wieso so viele Menschen hierherkommen wollen, die Suche nach Freiheit, der Traum von Demokratie und persönlichem Glück und so weiter. Wir saßen meist rund um Schwester Lucy Mullan und hörten mit weit aufgerissenen Augen zu. Irgendwann kam das Thema auf die Sagenwelt Amerikas zu sprechen. Dann erzählte Lucy, und sie konnte es sehr gut, von Washington Irvings ›Sleepy Hollow‹ Geschichte. Wir Kinder hingen ihr an den Lippen. Dermaßen von Spukgestalten fasziniert, wollten wir mehr über lokale Legenden wissen. Da erzählte sie uns die Legende vom Spuk auf Ellis Island …

Mit roten Wangen knieten wir vor der Schwester, die mit ihrem hübschem Gesicht, den eingedrehten Locken und der weißen Tracht wie ein Engel aussah. Gebannt lauschten wir der jungen Frau, als sie sagte:

»Hier auf Ellis Island erzählt man die Sage vom Gespensterdoktor. Es soll mal ein Doktor im Krankenhaus unglücklich in eine Schwester verliebt gewesen sein. Daraufhin hat er sich in der Dachkammer des Schwesterntrakts erhängt. Man hat lange nach ihm gesucht und ihn erst gefunden, als er schon ganz schwarz war.«

Wir alle gaben Geräusche des Ekels von uns und machten verzerrte Gesichter, ganz wie nach einem Biss in eine Zitrone. Lucy Mullan schaute uns an, einen nach dem anderen und nickte mit ernstem Gesicht.

»Man hat ihn auf der Nachbarinsel begraben. Doch ohne kirchlichen Segen. Weil er sich umgebracht hat. Und so spukt der Doktor noch heute durch das Krankenhaus, nachts, wenn alle schlafen. Und er sucht nach seiner verlorenen Liebe, auf dass sie ihn mit einem Kuss erlöst und einen Gottesdienst für seine Seele sprechen lässt. Und bis dahin kann er nicht ruhen.«

Abrupt brach ihr Gesicht auf und Lucy Mullan lächelte uns warmherzig an.

»Das ist nur eine Spukgeschichte, Kinder. Ab jetzt mit euch ins Bett!«

Wir beeilten uns und bald schon lagen wir alle in unseren Betten, die Decken bis ans Kinn hochgezogen.

Die Schwester lief nochmals an allen vorbei, kontrollierte, ob alles in Ordnung war. Dann streichelte sie jedem über den Kopf. Als sie durch war, stellte sie sich an den großen Lichtschalter neben dem Eingang. Sie sagte laut: »Gute Nacht!«, was wir erwiderten. Die Schwester legte den Schalter um, worauf die Dunkelheit den Raum flutete. Nur von den Fenstern drang ein wenig Restlicht herein.

Dann verschwand die Schwester und wir waren allein.

»Thomas!«

Es war Will. Er flüsterte mir vom Nachbarbett zu.

»Was ist?«, gab ich leise zurück.

»Da gibt es etwas über den Gespensterdoktor zu wissen, was die Schwester noch nicht erwähnt hat.« Wills Stimme klang aufgeregt.

Ich fragte: »Und das ist?«

»Der Geisterdoktor läuft an den Betten vorbei, ganz so, wie es die Schwester gemacht hat, und sucht sich dann ein Kind aus. Und das muss dann sterben!«

Ich schluckte schwer. »Quatsch! Du willst mir Angst einjagen!«

Will schwieg einen Moment, dann sagte er: »Glaub, was du willst, aber ich bin schon länger hier als du und mir hat das mal einer von den vorherigen Kindern erzählt. Eines Morgens war er dann weg. Verschwunden. Der Gespensterdoktor hat ihn mitgenommen!«

»Meinst du nicht, dass er weggelaufen ist? Zu seinen Eltern oder so?« Wäre ich mutiger gewesen, ich hätte es getan.

»Das haben die Schwestern und Ärzte auch behauptet. Aber ich weiß es besser – der Geisterdoktor hat ihn geholt!«

»Wie kannst du noch schlafen, wenn du daran glaubst?«

»Tue ich kaum noch. Was meinst du, warum ich so zittrig und nervös bin. Aber manchmal kann ich nicht anders. Dann falle ich abends um wie ein Stein. Ich denke, dass sie mir Schlaftabletten geben.«

Jetzt schwieg ich. Das Gespräch hatte mir Angst gemacht.

»Naja, was kann man schon dagegen machen? Bekämpfen kann man ja ein Gespenst nicht! Trotzdem – eine gute Nacht, Thomas.« Er meinte es aufrichtig, das hörte ich.

Ich wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht und hoffte, dass ich überhaupt einschlafen konnte. Kurz darauf war ich bereits im Land der Träume.

Wach wurde ich von einem Geräusch. Erst im Nachhinein erkannte ich, dass es der Türriegel war, der leise ins Schloss klickte. Ich sah mich um und erstarrte.

An der Tür stand der Gespensterdoktor.

Er musste es sein, denn kein Arzt trug außerhalb des OP-Raums eine Gesichtsmaske. Sie verdeckte die Hälfte des Gesichts, das eh schon wegen der Dunkelheit unerkennbar war. Das Licht des Mondes fiel schräg durch die hohen Fenster und zeichnete ein helles Rechteck auf den Linoleumboden. Am Rande dessen stand der Gespensterdoktor und hielt einen Lappen und eine Flasche in den Händen. Er sah mal hierhin, mal dorthin und setzte sich schließlich in Bewegung.

Ich gefror innerlich. Was, wenn er bei mir anhalten und mich mitnehmen würde?

Der alte Mann presst die Lippen aufeinander. Es fällt ihm sichtlich schwer, seine Erzählung fortzusetzen. Behutsam legt Elenore eine Hand auf die seine.

Er hebt wieder zu sprechen an.

Es ist nicht leicht, Ihnen das zu erzählen, was hier an diesem Ort vor vielen Jahren passiert ist. Sie werden mir möglicherweise nicht glauben, und – bei Gott – ich kann es Ihnen auch nicht verdenken. Aber dennoch möchte ich jetzt endlich loswerden, was mich seit Jahrzehnten belastet.

Die Gestalt bewegte sich geräuschlos zwischen den Betten, schritt mal an das eine, mal an das andere. Als er bei mir war, hielt ich den Atem an und presste die Augen zu. Ich dachte immer nur das gleiche: Bitte, lieber Gott, lass ihn einen anderen mitnehmen! Bitte, lieber Gott …

Ich schäme mich heute für diese selbstsüchtigen Gedanken, aber damals war ich ein Kind und voller Todesangst, verstehen Sie? Und erst als ich das Klicken der Tür hörte, machte ich die Augen langsam auf.

Der Geisterdoktor war verschwunden.

»He, Will, wach auf! Der Geisterdoktor war da!« Ich griff nach links, wo Wills Bett stand, wollte seinen Arm fassen – aber da war nichts! Entsetzt starrte ich hinüber.

Will war weg!

Der Gespensterdoktor hatte ihn mitgenommen.

Ohne nachzudenken schlüpfte ich aus dem Bett, zog meine Pantoffeln an und huschte zur Tür. Behutsam zog ich sie auf und streckte meinen Kopf durch den Spalt.

Linkerhand sah ich die geisterhafte Gestalt durch den Gang schreiten. Zwei dürre Kinderbeine hingen an seiner Seite herab.

Niemals war ich mutiger als in diesem Moment. Es gab für mich keine Alternative, ich musste Will retten. Hätte ich die anderen geweckt, wäre manches anders gelaufen. Doch ich ging allein, zwängte mich durch den Türspalt und huschte an der Flurwand entlang dem Gespenst hinterher. Dabei hielt ich mich stets so gut es ging im Schatten, damit es mich nicht entdecken konnte.

Auf Höhe der Abzweigung zum Psycho-Pavillon wandte sich die Gestalt nach links. Ich folgte. Als ich um die Ecke biegen wollte, zuckte ich zurück. Der Doktor hatte Verstärkung in Form einer bleichen Schwester erhalten. War das die ehemalige Geliebte? Auch sie hatte eine OP-Maske auf, was ihr Gesicht entstellte. In den Händen trug sie neben der Taschenlampe auch einen Koffer und einen Eimer.

Beide unterhielten sich flüsternd, während sie auf den Winkel unter der Treppe zusteuerten. Die Schwester zog die Gittertür auf und beide verschwanden im Matratzenlager. Der Lichtkegel einer Taschenlampe flammte dort auf.

Nun war ich mir sicher: Das waren keine Gespenster. Geister müssen keine Türen öffnen, um Räume zu betreten und auch Gitter stellen für diese kein Hindernis dar. Sie benutzten auch keine Taschenlampen! Die beiden waren aus Fleisch und Blut. Aber was hatten sie mit Will vor?

Schnell rannte ich zur Gittertür und fand sie unverschlossen. Mit einem leichten Zug ließ sie sich öffnen. Ich folgte dem Taschenlampenlicht, um die Ecken von Matratzenbergen herum, bis ich hinter einem verharren musste, da die beiden Vermummten angehalten hatten. Die Schwester kniete am Boden, hatte Koffer und Eimer abgestellt, da sie die Hände freihaben musste, um eine Bodenluke zu öffnen. Darunter gähnte ein Kellerabgang.

Die beiden verschwanden eine steil gewundene Steintreppe hinab. Die Luke ließ die Schwester leise zugleiten.

Ich beeilte mich auf leisen Sohlen hinterher zu laufen, hoffte darauf, dass die beiden die Luke nicht von unten verschlossen hatten. Im Dunkeln auf dem Boden umher tastend fand ich den Ring und zog daran. Die Holzluke öffnete sich problemlos. Ich beugte mich vor, sah von unten noch einen schwachen Schein heraufdämmern und stieg ebenfalls hinab in die Tiefe.

Meine größte Furcht war, dass ich den Anschluss verlieren könnte und dann im lichtlosen Dunkel stehen würde – allein, mühsam mich vorwärts tastend, nicht ahnend, worin meine Finger greifen würden. Angst davor, dass mich die beiden aus der Finsternis heraus anspringen würden.

Doch nichts dergleichen geschah. Nach einigen Minuten gelangte ich an den Fuß der Treppe. Ein steinerner Durchgang wölbte sich halbkreisförmig, geformt aus Backsteinen, gab den Blick frei auf einen Kellerraum, der vollgestellt war mit Schränken, medizinischen Geräten und anderen Dingen, die ich nicht zuordnen konnte.

Um nicht entdeckt zu werden, zog ich mich schnell zurück und lugte an der Ecke kauernd vorsichtig hinein.

Die beiden hatten Will auf ein hoch gelagertes Eisenbett gelegt, worüber sich eine fahrbare Leuchte beugte, deren Innenwand mit Spiegeln beschlagen war, um das Licht zu bündeln, wie ich von meinen diversen Besuchen im Arztzimmer von Doktor Simon Winesteene und anderen Ärzten wusste.

Die Schwester legte ihren Koffer auf einen der Tische. Diese waren mit einem weißen Tuch bedeckt, das aber hier und da eingetrocknete dunkle Flecken aufwies. Der Doktor schaltete die Leuchte ein und begann damit, Will zu untersuchen. Er fühlte den Puls, lauschte dem Herzschlag.

»Das Chloroform wirkt noch. Ich denke, wir brauchen nichts Stärkeres.« Er deutete mit einem Nicken auf den Eimer, der am Fußende des Bettes stand. »Hast wieder was Nettes für Jeremy mitgebracht?«

Die Schwester griff in den Koffer, legte nacheinander verschiedene blitzende Gegenstände auf den Beistelltisch. Ich erkannte mehrere Skalpelle, Scheren und Spritzen und erschauderte.

Was hatten die beiden mit Will vor? Dass es nicht Gutes war, das war klar, denn wer operierte schon mitten in der Nacht und das in einem Kellerloch wie diesem?

Die Schwester schloss den Koffer, stellte ihn ab und ergriff den Eimer. Sie begab sich zu einer halbrund gemauerten Öffnung, die ihr bis ungefähr zu den Knien reichte. Sie erinnerte mich an das Ende eines Abwasserkanals.

»Sei vorsichtig! Jeremys Kette reicht weit, da kann man sich schnell verschätzen!«, gab der Arzt zu bedenken, doch die Schwester winkte ab.

»Keine Sorge. Ich seh mal nach, wo er ist.«

Sie beugte sich nach unten, nahm den Deckel vom Eimer und leuchtete mit der Taschenlampe in den Kanal hinein. Mich fröstelte. Täuschte ich mich, oder roch es jetzt tatsächlich nach Blut und altem Fleisch?

»Ah, da bist du ja, Jeremy! Schlaf ruhig weiter. Ich werfe dir gleich mal ein paar Happen zu.« Und nach diesen Worten zog die Schwester mit spitzen Fingern einen rohen Klumpen Fleisch aus dem Eimer.

»Hab ich extra für dich aus der Küche besorgt – Lamm!«

Sie schleuderte die Keule tief in den Kanal hinein. So verfuhr sie mit mehreren Fleischbatzen, die sie aus dem Eimer fischte, ehe sie ihn wieder verschloss und wegstellte.

»Dass du immer mit ihm reden musst – er versteht dich doch sowieso nicht! Und die Gefahr, dass einer unserer kleinen Patienten aufwacht, wird dadurch nur noch größer!«, tadelte der Arzt, der sich inzwischen Gummihandschuhe übergezogen hatte.

»Sicher versteht mich Jeremy! Ich bin doch seine Mama!« Die Schwester stand mit vor dem Oberkörper verschränkten Armen da. Der Arzt sah sie einen Moment lang an, seufzte. Er gab die Anweisungen:

»In Ordnung. Lass uns anfangen. Reich mir das Skalpell und die Tupfer!«

Die Schwester griff zu, reichte dem Arzt die Gegenstände vom Beistelltisch, worauf dieser mit den Händen Will berührte. Von meiner Position aus konnte ich nicht sehen, was er tat, aber es spielte sich ungefähr auf der Höhe von Wills Unterleib ab.

»Sodela, das war ein kleiner Schnitt. Wo ist es denn, wo ist es denn? Ah, hier! Noch zwei kleine Schnitte – hier und hier – jawoll. Tupfer!«

Die Schwester nahm die blutgetränkten Wollstoffe entgegen, legte sie auf den Beistelltisch, reichte dem Doktor neue.

»Vernähen! Ich mach schon mal auf der anderen Seite weiter«, sagte der Arzt und umrundete das Bett, während die Schwester Nadel und Faden aufnahm und sich an Wills anderer Seite zu schaffen machte.

Nun verdeckte mir der Arzt die Sicht.

»Gut, die Schnitte sind gemacht, das Gewebe wurde entfernt. Wir sind fertig.«

Er legte das blutige Skalpell auf den kleinen Tisch hinter sich. »Nähen, bitte!«

Die Schwester kam der Aufforderung nach. Der Doktor wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Hinter seinem Rücken schlich ich mit ausgestreckten Fingern heran.

»Gottseidank – es ist alles gut verlaufen!«

»Und wenn nicht, wäre das auch nicht schlimm. Dann hätte Jeremy einen kleinen Nachtisch erhalten.« Sie kicherte mädchenhaft.

»Reich mir bitte das Skalpell, damit ich es abwasche«, sagte er und drehte sich zum Waschbecken um, das an der Wand hing.

Die Schwester beugte sich über den Beistelltisch. Ihre Augen weiteten sich.

»Ist nicht mehr da!«

»Was?«

Der Arzt drängte die Schwester zur Seite und beäugte die Instrumente. In diesem Moment sprang ich aus der Deckung hinter dem Beistelltisch und rammte ihm das Skalpell seitlich in den Hals.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, es sofort wieder herauszuziehen und es gegen die Schwester zu verwenden, aber es steckte fest.

Die Zeit schien stillzustehen. Der Doktor griff sich an den Hals, aus dem sein Blut heraus pulste und in dicken Strömen in den Kragen lief.

»Hilf mir! Dieser Bastard hat meine Carotis angeschlitzt! Verdammte Scheiße!«

Er torkelte nach links weg, stieß gegen die Leuchte, die mit einem Krachen umfiel, aber noch weiter brannte. Dann fanden seine zuckenden Finger die rohe Backsteinwand, tasteten darüber und er sank mit aufgerissenen Augen ins Leere starrend auf die Knie. Mit einem Stöhnen fiel er nach links um, landete hart auf dem Boden, wo sein Blut bereits die Fugen des Bodens umfärbte und sich in Rinnsalen hinfort schlängelte.

»Simon!«, kreischte die Schwester und sprang zu ihm, kniete neben dem Arzt und redete auf ihn ein. »Sag mir, was ich tun soll! Was soll ich tun? Was? SIMON!«

Doch der Arzt bekam lediglich ein Gurgeln heraus, wobei er Blut spuckte, das vorne und an seinen Mundwinkeln bizarre Muster auf die OP-Maske malte. Dabei zuckten seine Beine unkontrolliert, sodass er den Beistelltisch wegstieß, der umkippte und somit Scheren, Skalpelle und Spritzen klappernd über den Boden verteilte.

Dann hörte auch das auf und er lag still, wobei die Schwester seinen Kopf in ihrem Schoß barg. Sie wiegte ihren Oberkörper vor und zurück, weinte hemmungslos und rief immer wieder den Namen des Doktors.

Ich stand schweigend vor den beiden und atmete schwer. Mir wurde bewusst, was ich angerichtet hatte. Der Mann starb vor meinen Augen und ich war schuld daran. Meine Brust hob und senkte sich in schneller Folge. Schweiß trat mir aus den Poren.

Und trotz aller Schuldgefühle, trotz allem Grauen hatte ich kein Mitgefühl mit dem Sterbenden. Und ich hasste mich dafür.

Eindeutig war mir klar, dass der Doktor etwas Böses getan hatte. Dafür hatte ich ihn bestraft. Zwar hatte ich ihn nicht töten wollen, aber dennoch war die Tötung unbewusst von mir in Kauf genommen worden, als ich das Skalpell vom Tisch stahl und es ihm anschließend bei günstiger Gelegenheit in den Hals stach.

Auch die Schwester wollte ich bestrafen, doch nun fielen jeglicher Wille und jegliche Kraft von mir ab wie ein Sack voller Steine. Und daher war es ein Leichtes für die Krankenschwester, mich mit einem Schrei zu packen und wie eine Furie durchzuschütteln.

»Du hast ihn umgebracht, du mieses kleines Schwein!«

Mein Blick verschwamm. Mir wurde schlecht vom Schütteln und dennoch konnte ich die Arme nicht heben, um mich zu wehren.

Plötzlich klatschte es ohrenbetäubend, mein Kopf wurde nach rechts geworfen und meine linke Wange brannte höllisch. Dann noch ein Schlag, diesmal von links. Die strafende Hand erwischte auch meine Nase. Sofort schoss Blut hervor.

Als wäre das nicht genug, knallte mir die Krankenschwester nun ihre Faust mitten ins Gesicht. Der Schmerz überwältigte mich. Ich taumelte, mir wurden die Knie weich und ich sackte ein. Anschließend musste ich einige Momente lang weggetreten sein, denn ich wachte mit gigantischen Kopfschmerzen auf dem Boden liegend auf, ohne mich daran erinnern zu können, dass ich dort aufgeschlagen war.

Etwas zog an meinem Kragen. Es war die Krankenschwester. Sie hielt mir ein Skalpell an die Kehle.

»Alles ist perfekt gelaufen, bis du aufgekreuzt bist, du dreckiger kleiner Bastard von einem Krautfresser! Glaubst du, wir wissen nicht, was ihr vorhabt, ihr Schweine?«

In meinem Bauch wütete der Schmerz und mir war speiübel. Offenbar hatte mich die Krankenschwester in den Magen getreten, während ich ohnmächtig war. Ich versuchte sie anzusehen, aber meine Augen waren von ihren Schlägen bereits dermaßen zugeschwollen, dass ich nur undeutlich erkannte, wen ich vor mir hatte.

Sie hatte ihre OP-Maske abgenommen.

Ich war schockiert, als ich erkannte, dass es sich bei der Krankenschwester um Charlotte Meentsen handelte! Die Oberschwester funkelte mich boshaft an. Jegliche Zuneigung von Schwester zu Patient war von ihr gewichen und durch blanken Hass ersetzt. Ich erkannte mit kalter Eindringlichkeit, dass sie mich bald töten würde.

Charlotte legte den Kopf schief.

»Dabei bist du so ein hübscher Junge. Aber das sind sie alle in dem Alter. Und später zwingen sie gleichaltrige Mädchen zu Spielchen, die jene aber nicht wollen. Und diesen Mädchen wird dann nicht geglaubt, wenn sie weinend davon berichten.«

Die Oberschwester zog einen feinen Strich mit dem Skalpell. Es brannte auf der Haut und ich musste weinen.

»Nana, wer wird denn da flennen, kleiner Deutscher! Habt den Krieg verloren und nun wollt ihr unser Amerika unterwandern. Von innen aushöhlen und dann die Macht übernehmen, na-na-na! Aber das wird euch nicht gelingen! Euch nicht, und allen anderen nicht, die von überall her sich aufmachen und hier einwandern wollen. Bald schon gibt es keine Amerikaner mehr, nur noch Russen, Deutsche, Iren und Italiener. Ganz zu schweigen von den Gelbhäuten, diesen Chinesen! Nehmen uns die Arbeit beim Eisenbahnbau weg und bleiben dann auch noch im Land, unglaublich diese Frechheit! Und überhaupt – wir haben genug von euch und euresgleichen!«

Charlotte sprühte der Speichel von den Lippen, während sie sprach. Im Mundwinkel bildeten sich zähe Speichelfäden, die bei jeder Lippenbewegung ihre Position veränderten.

Ich war wie außer mir, beobachtete fasziniert die Speichelfäden und war dabei, in eine zweite Ohnmacht zu driften.

»Jaja, Einwanderung ist ja hin und wieder in Ordnung. Aber was zu viel ist, ist zu viel! Dieser Überfremdung haben wir den Kampf angesagt. Und du bist jetzt dran, Bastard!«

Plötzlich krachte es dumpf und ihr Kopf flog von mir weg, wobei ich ihren wilden Schmerzensschrei hörte. Mein Blick klärte sich etwas und ich sah Elric und Francine neben mir stehen. Elric schwang einen Baseballschläger und ließ ihn auf die Oberschwester niederkrachen. Das Geräusch ging durch Mark und Bein.

»Bist du schwer verletzt?«, fragte mich Francine und streichelte behutsam meinen Scheitel. Ich versuchte ein Lächeln und verneinte. Dabei stellte ich fest, dass mir ein Zahn fehlte.

Charlotte Meentsen kroch rückwärts zur Wand, wo der Tote im zuckenden Schein der umgekippten Leuchte mit den zerbrochenen Spiegeln lag. Dort angekommen warf sie sich blitzschnell auf ihn zu, kramte unter seinem Kittel und zog etwas hervor.

»Lass den Schläger fallen, Arschloch!«

Entsetzt sahen wir sie an.

Die Frau sah grauenerregend aus. Von ihrer gepflegten Erscheinung war nichts mehr geblieben. Die Haare unter ihrer Schwesternhaube standen struppig in alle Richtungen ab. Die einst weiße Tracht war nun blutbefleckt und mit Dreck beschmiert; ihre Augen … zwei tief gründende Spiegel des Wahnsinns in schwarzen Höhlen. Verhärmte Gesichtszüge, die nun unkontrolliert zuckten. Das Kinn in breiter Röte, als habe sich aus ihrem Mund ein Sturzbach darüber und auf ihr Dekolletee ergossen, was von einem halbkreisförmigen Blutmond bekränzt wurde.

In ihrer Rechten hielt sie eine Pistole.

Elric öffnete die Hand. Laut polternd fiel der Baseballschläger auf den Boden, kullerte einen Meter, blieb im Blut von Simon Winesteene liegen.

»So habt ihr euch das wohl gedacht, ihr Parasiten! Nistet euch ein im Körper des amerikanischen Volkes, ernährt euch von seiner Kraft, höhlt es von innen her aus, bis nur noch eine kraftlose Hülle übrig bleibt. Schweine seid ihr, ich spucke auf euch!«

Sie holte den Schleim tief aus der Kehle und spie ihn uns entgegen.

»Jetzt werdet ihr büßen für alles, was ihr angerichtet habt! Seht her!«

»Das sollten Sie tun!« Elric sprach ruhig. Ihr Blick flackerte irritiert. Dann verengte sie die Augen zu Schlitzen und grinste verächtlich.

»Was für ein lausiger Bluff!«

»Tatsächlich?« Elric hob die Schultern.

In diesem Moment schossen zwei Kieferhälften aus der Dunkelheit hinter Charlotte Meentsen und schlossen sich um ihren Hals. Ungläubig riss sie die Augen auf. Ihrer Hand entfiel die Pistole. Scharfe Dreieckszähne sägten durch ihre Haut, als die Oberschwester sich unwillkürlich nach vorne werfen wollte. Die Frau schrie gellend auf und packte mit den Händen die Kiefer. Sie zog mit aller Kraft, aber es gelang ihr nicht, sie aufzustemmen.

Blutfontänen schossen links und rechts ihres Halses in einem Sprühregen in die Dunkelheit. Der Oberkörper der Frau wurde von dem Tier hin und her geschüttelt, bis es ihm gelang, ihn nach rechts umzuwerfen.

Als Charlotte Meentsen auf dem Boden aufkrachte, war sie bereits tot.

Francine hob die Taschenlampe auf und leuchtete in die Richtung.

Man hatte dem Alligator eine Kette um den Hals gelegt, was ihn nicht daran gehindert hatte, ein Stück weit aus dem Kanaltunnel hervorzutauchen und sich in den Hals der Oberschwester zu verbeißen, die er nun mit kräftigen Ruckbewegungen rückwärts in den Abwassertunnel zerrte.

»Das also … ist Jeremy!«, stammelte ich.

Der alte Mann nimmt ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Der Rest ist schnell erzählt: Meine Freunde hatten meine Abwesenheit bemerkt und waren mir nachgeschlichen. Gottlob hatte ich Gittertür und Luke offen gelassen, sodass Elric und Francine einen Anhaltspunkt dafür hatten, wo sie mich suchen mussten.

Wir brachten Will nach oben. Er wachte nicht auf. Wir ließen ihn in Ruhe.

Am nächsten Tag erzählten wir ihm von den nächtlichen Ereignissen. Er untersuchte seinen Bauch, fand aber keinen Einstich. Er hatte Schmerzen im Schritt, schob das aber einer Erkältung im kalten Kellergewölbe zu. Die Narben im Gewebe des Hodensacks hat er entweder nicht bemerkt oder aus Scham uns gegenüber verschwiegen.

In den nächsten Tagen wurden die Oberschwester Charlotte Meentsen und der Arzt Simon Winesteene als vermisst gemeldet. Uns Kinder fragte niemand und so kamen wir nicht in die unangenehme Situation, vor der Polizei aussagen zu müssen.

Dennoch glaube ich fest daran, dass man ihre Leichen wenig später gefunden hat. Aber da waren wir vier bereits entlassen und wieder bei unseren Eltern.«

Elenore blickt irritiert auf.

»Was macht sie so sicher, dass man die Leichen gefunden hat?«

»Nun, die Zeit hat dies gezeigt. Ich will es Ihnen erklären. Doch vorher noch ein Wort zu Will und seiner Operation. Zwei Tage nach der Sache im Keller wurde Will entlassen, ich selbst folgte einen Tag darauf. Francine und Elric einen weiteren Tag später. Uns vier hatte das Geschehnis zusammengeschweißt und wir beschlossen, Kontakt zu halten. Da die Eltern der beiden russischen Geschwister bereits eine Wohnung besaßen, war es ein Leichtes sie als Zentrale zu bestimmen.

Jahrelang hörten wir nur sporadisch voneinander. Doch eines Tages meldete sich Will bei uns und bat um ein Treffen. Wir waren schon erwachsen geworden, einige hatten bereits Familien gegründet.

Als Will uns traf, wirkte er sehr deprimiert. Er erzählte uns, dass er vor einigen Jahren geheiratet hatte. Die Ehe war sehr gut, nur ein Kind fehlte noch zu ihrem Glück. Doch das Kinderglück wollte sich nicht einstellen. Die beiden gingen zu einem Arzt, der sie untersuchte und dabei feststellte, dass Will keine Kinder zeugen konnte, da keine Samen in seinem Ejakulat vorhanden waren. Es war ihm ein Rätsel, bis man die kleinen Narben an seinem Hodensack fand. Sie lagen sehr unauffällig, versteckt zwischen den Falten der Haut.

Da war klar, dass man ihm vor langer Zeit beide Samenleiter durchtrennt hatte.

Der Schock saß tief und beide kamen schwer damit klar. Wills Frau suchte Trost in den Armen der Kirche. Er selbst machte sich auf die Suche nach anderen, denen es ebenso erging wie ihm. Er fand per Annonce Selbsthilfegruppen in Rhode Island und New York, sprach mit jenen, redete mit anderen und traf auf männliche Einwanderer, ungefähr in seinem Alter, die ebenfalls zeugungsunfähig waren.

Und da kam ihm ein hässlicher Verdacht. Er forschte nach – und tatsächlich waren jene Einwanderer als Kinder auf der Krankenstation des Hospitals von Ellis Island gewesen.«

Thomas birgt das Gesicht in den Händen und ein Schluchzen entringt sich seiner Kehle.

»Man hatte sie alle sterilisiert! Mehr als einhundertfünfzig Jungen. Aus Rassenhass und Fremdenangst.«

Er trocknet seine Tränen.

»Aber ich muss Sie warnen, Elenore! Wenn Sie das veröffentlichen, kann es gefährlich für Sie werden. Seit Jahren sterben diese zeugungsunfähigen Männer unter merkwürdigen Umständen. Und auch deren Freunde sind im Kreis der Gefährdeten dabei. Francine und Elric starben bei einem Autounfall. Fahrerflucht. Ich bin der Einzige, der noch übrig ist und die wahre Geschichte kennt.«

»Was ich nicht verstehe: Wenn man die Leichen gefunden hat, wie Sie behaupten – warum ist man der Sache von behördlicher Seite nicht nachgegangen?«, will Elenore wissen.

»Ist das nicht erkenntlich? Man hat die Angelegenheit unter den Tisch gekehrt! Wie sähe das denn aus? Stellen Sie sich die Schlagzeile der Weltpresse vor: Auf Ellis Island sterilisieren eine Oberschwester und ein Arzt im Auftrag eines mysteriösen Rassenwahn-Geheimbundes die männlichen Kinder von Einwandern! – völlig indiskutabel! Und alle, die etwas damit zu tun gehabt hatten, haben schon längst ihre Namen geändert.«

Elenore packt Block und Stift weg, steht auf.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir das alles erzählt haben. Ich finde, Sie haben nun Ruhe verdient. Kommen Sie, ich bringe Sie zur Anlegestelle, wo meine Jacht wartet.«

Der alte Mann steht auf. Schwankend steht er da, bis ihm die junge Frau ihren Arm um die Hüfte legt, ihn somit stützt.

Gemeinsam gehen sie im rotgoldenen Licht der Abendsonne über den grasüberwucherten Platz und hinter dem Rücken der Frau glänzt etwas in ihrer Gesäßtasche der Jeans silbern und scharf wie ein Skalpell.

Der alte Mann sieht nicht, wie es in ihrem Gesicht unkontrolliert zuckt. Sie lässt ihn los, beide stehen auf dem Platz im roten Licht. Als sie ihre Rechte hinter dem Rücken zum Stich emporreißt, fällt aus der Gesäßtasche ihre ID-Card. Unter ihrem Foto steht der Name: ›Charleene Manson‹.