AmeriKKan GotiK

Ich werde diese Geschichte überleben!

Aufmerksamen Lesern ist das bereits beim ersten Wort klar: Die Wahl des Ich-Erzählers als Erzählperspektive bedingt ja fast unwillkürlich, dass der Erzähler überlebt. Wer sonst würde die Geschichte den Lesern berichten? Eben.

Aber ich werde nicht verraten, in welchem Zustand ich überlebt habe. Ich sage nur soviel: Es war schmerzhaft. Sehr schmerzhaft.

Mein Name ist Eric Harper und ich studiere Englische Literatur an der University of Bismarck, North Dakota. Nebenberuflich bin ich Horrorautor. Ich habe bereits mehrere Bücher bei Kleinverlagen veröffentlicht und mir einen gewissen Ruf in der Underground-Horrorszene erarbeitet. Ich liebe es, meine literarischen Figuren zu quälen.

Doch nun leide ich. Was passiert ist, fragen Sie? Ein wenig Geduld noch! Sie sollen alles erfahren!

Alles begann, als ich an einem Dienstag in meinen Lieblings-Comic-Laden in Bismarck ging und ein ganz bestimmtes Comic suchte. Ich wusste, dass der Band an diesem Tag herausgekommen war und wollte, nein, ich musste ihn haben!

Ich betrat den Laden und hörte das Läuten der kleinen Glöckchen, die über der Tür baumelten. Linkerhand befand sich der Verkaufstresen. Der Inhaber des Comic-Ladens stützte sich mit breiten Armen darauf. Er beachtete mich nicht, sondern war in das Betrachten der Kartenrunde in der rechten Ecke des Ladens vertieft.

»He Benny, du bescheißt deine Kumpels schon wieder! Ich seh dein Deck!«

Sid hieß er, war Mitte dreißig und besaß keine Zähne mehr. Stattdessen schob er sich jeden Morgen zwei Reihen Weißblech in den Mund, die er zu Hause an der Werkbank zurechtgeschnitten und scharfgeschliffen hatte. Wenn er lachte, sah es so aus, als öffneten sich die beiden Hälften einer Schrottpresse.

Sid liebte es, die Menschen um sich herum zu schockieren. Man erzählte sich, dass er mit Mitte Zwanzig vom Koks-in-den-Mund-reiben die Zahnfleischfäule bekommen hatte, wodurch ihm die Zähne nach und nach ausfielen. Er habe das aber auf die leichte Schulter genommen – und da er eh gerne die Menschen in seiner Umgebung schockierte, zog er sich selbst mit einer rostigen Zange die Zähne, auch die gesunden, und ersetzte sie durch Schienen aus Weißblech (einen Zahnarzt konnte sich Sid nicht leisten). Im Lauf der Zeit hatte er sich zwölf verschiedene Versionen seiner Zahnschienen zurechtgeschnitten und trug sie im Wechsel der Monate: Im Oktober trug er Schienen mit zwei quadratischen Zähnen, die ihm das Aussehen eines Halloween-Kürbisses verliehen. Eine Doppelschiene mit unzähligen dreieckigen Haifischzähnen trug er im Juli – rechtzeitig zur Badesaison auf Amity Island. Doch seine Stammkundschaft, und hierzu zählte ich mich, hatte sich an das comicartige Aussehen von Sids Beißern gewöhnt.

Der von Sid angesprochene Falschspieler saß mit drei weiteren Kumpels an einem der beiden grob gezimmerten Tische im Verkaufsraum. Sie zockten ›Magic: The Gathering‹. Es lag der Geruch von verschüttetem Bier und altem Zigarettenrauch in der Luft.

Ich liebte den Laden!

Einer der Typen erkannte mich und nickte mir zu. Ich nickte zurück und schritt zur Theke. Sid grinste mich an. Von hinten hörte ich ein lang gezogenes Rülpsen, dem ein herzhafter Furz folgte. Konventionen galten hier in Sids Comicladen nicht viel.

»Hey, Eric! Was macht das Studium?«

Sids Lachen wurde von einem Hustensturm unterbrochen, an dessen Ende der Ladenbesitzer einen schwarzgrünen Schleimbatzen neben sich auf die Theke spotzte.

»Geht schon. Hast du den neuen JUNGO FAT-Band da?«, wollte ich wissen.

»Sid, noch’n Bier und’n Schnaps!«, bellte jemand von hinten.

Sid keifte zurück: »Mach’s dir selbst, Mann!« Er griff nach unten und holte ein Bier und ein Schnapsglas unter dem Tresen hervor, in das er eine klare Flüssigkeit aus einer Flasche goss. Ärgerliches Gemurmel von hinten, ein Stuhl wurde weggerückt, schlurfende Schritte, ein Schwall alten Körperschweißes überschwappte mich, dann packten zwei dreckstarrende Hände zu und schnappten sich die Bierflasche und das Schnapsglas.

»Logisch, Mann! Hier isser!« Sid schlug mir auf die Schulter, drehte sich um und griff nach einem Comic-Band, der in einem Regal voller Hefte lag. Ich war begeistert und gab Sid die drei Dollar dafür, da fiel mein Blick auf eine Kiste mit Büchern, die am Boden stand.

»Was ist das?«

»Ach das – das hat mir ein Typ aus Leith verkauft, nem kleinen Kaff unten an der 70th Street, mitten in der Pampa. Normalerweise steh ich ja nich so auf Bücher mit mehr Wörtern als Bilder drin, aber der Kerl war nett. So’n Weißer mit Santa-Claus-Bart, Brille, langer Mähne und nem Blick, oh wow, der war echt irre. Seine Augen rollten ständig umher. Echt creepy!«

Die Beschreibung reichte aus, mein Interesse zu wecken.

»Kann ich mal die Bücherkiste durchschauen?«

Sid zuckte die Achseln. »Klar.« Er hievte sie auf den Tresen. »Hier!«

Ich stieg mit Zeigefinger und Mittelfinger über die Oberseiten der Bücher, kippte sie nach Lektüre des Titels nach vorn weg. Es war nichts Interessantes dabei. Lauter Nazizeugs, wie man es hier in North Dakota immer wieder findet. Doch plötzlich wurde mein Blick magisch von einem Buchcover angezogen. Es war eine Sammlung von Geschichten und trug den Namen ›Insel der Toten‹. Darauf war ein altes Herrenhaus auf einer Klippe zu sehen, wogegen die Gischt anbrandete.

»Was ist mit dir los, Alter? Du bist ja so bleich, als hättest du ein Gespenst gesehen!«, sprach mich Sid an.

Ich hob das Buch aus der Kiste und zeigte es ihm. Ihm fiel die Kinnlade herunter und zeigte seine Doppelreihe aus scharfkantigem Weißblech.

Auf dem Cover des Buches prangte mein Name.

»Ist ja cool! Das ist ja dein Name! Ich hab ein Buch von dir gekauft, ohne es zu wissen!«

Ich schüttelte den Kopf. »Das Buch stammt nicht von mir.«

»Wie jetzt?« Auch ohne viel Menschenkenntnis konnte man Sids Verwirrung an seinem Gesicht ablesen: hochgezogene Brauen, Stirn in Falten, offener Mund, verwirrt glotzende Augen.

»Ich habe mehrere Bücher veröffentlicht, aber keines mit diesem Titel. Eines hieß ›Insel des Toten‹, aber nicht ›Insel der Toten‹.«

Ich klappte das Buch auf und las das Inhaltsverzeichnis. Alle Geschichtentitel waren meine eigenen! Mit fiebrigen Fingern suchte ich die erste Geschichte und begann zu lesen.

Was für ein grottenschlechter Stil! Wortwahl, Metaphern, Satzkonstruktionen aus der Hölle – Hauptsatz an Hauptsatz, in immer gleicher Monotonie, ohne Variationen durch Konjunktionen, Satzgliedumstellungen – öde; Buchstabendreher, unvollständige Sätze mit fehlenden Verben. Herrje! Welcher Korrektor hatte das Werk in den Händen gehabt? War überhaupt jemand daran beteiligt gewesen außer der offensichtlich unter Legasthenie leidende Autor? Je mehr ich las, desto schlimmer wurde es: logische Fehler der Handlung. Personen wechselten innerhalb der Story den Namen. Handlungsorte waren falsch beschrieben, änderten ihre Atmosphäre von Seite zu Seite. Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen:

Und das alles unter meinem Namen!

Ich versuchte, das Sid zu erklären. Er glotzte nur verständnislos.

»Warum macht jemand so was?«, fragte er.

»Ich habe keine Ahnung. Wer auch immer das war, er kennt meine Storys in und auswendig. Er kopiert meine Geschichten, schreibt sie in seinem eigenen Stil nach, aber grottenschlecht.«

»Vielleicht will er deinem Ruf in der Underground-Szene schaden?«, mutmaßte Sid.

Da hätte Sid Recht haben können. Ich fragte ihn daher nach der Adresse des Verkäufers. Sicher könnte er mir weiterhelfen, indem er mir sagte, wo er das merkwürdige Buch gekauft hatte.

»Warte mal.« Sid kramte in der Bücherkiste. »Ich hab sie hier irgendwo abgelegt« Er fischte mit einem Stahlgrinsen einen zerknitterten Zettel heraus und gab ihn mir.

Bereits am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg.

Nachdem ich bei Sid vorbeigeschaut hatte und mich mit einem Bier von ihm verabschiedet hatte, fuhr ich los. Von Bismarck ging es die Route 6 hinunter, dann wechselte ich auf die 70th Street und kam am späten Nachmittag in Leith an.

Es war tatsächlich ein Kaff.

Acht Wohnhäuser zählte ich, davon zwei Wellblech-Baracken, dann eines hoch aufragend wie ein Silo, aber mit wenig Grundfläche. Der Rest waren fahrbare Mobilehomes. Hinter den Häusern stapelten sich Schrott und alte Möbel als rostende, modrige Haufen.

Hundegebell war allgegenwärtig, als ich die Hauptstraße entlanglief, den Zettel mit der Adresse in der Jackentasche. An die Rückwand der Bushaltestelle hatte man ein Hakenkreuz gesprayt.

Ich holte den Zettel heraus, checkte die Adresse. Nirgendwo hatte ich die angegebene Straße gefunden. Ich musste jemanden fragen. Daher näherte ich mich einem kleinen Häuschen, das rechts hinter Büschen halb verborgen lag. Im Fenster hingen Plakate: ›Save the White Race!‹. Darauf zu sehen: Eine schlanke, hochgewachsene blonde Mutter strich ihren blonden Kindern, Junge und Mädchen, über die Köpfe – im Hintergrund eine rot-weiße Rune. Ekelhaft.

Ich klingelte und hörte, wie hinter der Tür Geräusche laut wurden. Hunde bellten. Eine Frauenstimme befahl: »Haltet die Hunde fest!«

»Danke, das ist nett«, murmelte ich leise zu mir.

Die Tür wurde geöffnet und eine stämmige Frau in den Mittdreißigern blickte mich aus Fischaugen an. Eine widerspenstige Strähne ihres braunen, fettigen Haares fiel ihr immer wieder ins Gesicht, so oft sie diese auch wegstrich.

»Jaaaaaa?«

Ich ignorierte den abweisenden Ton und stellte mich und mein Anliegen knapp vor. Sofort hellte sich ihr Gesicht auf. »Sie lieben Bücher? Ja, auch mein Mann liebt Bücher. Besonders deutsche.« Ein Schatten fiel auf ihr Gemüt. »Leider ist er momentan bei der Polizei in Heil – nur ein Missverständnis wegen seiner politischen Überzeugung – aber vielleicht kann ich helfen. Kommen Sie doch einen Moment rein.«

Die Tür ging weiter auf. Hinter der Frau standen vier Kinder und zwei knurrende Bullterrier, die von den Kindern am Halsband gehalten wurden. Die Frau bemerkte meinen Blick und flötete beruhigend: »Keine Sorge, das sind Eva und Adolf – die wollen nur spielen!«

Sie ging voraus in die Küche, wo wir uns an den Tisch setzten. Die Kinder tobten durch die Wohnung.

»Wir haben gerade eine Geschichtsstunde gemacht, da sind sie immer etwas aufgeregt.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wir unterrichten die Kids zuhause. Mein Mann und ich sind der Meinung, dass staatliche Schulen zu sehr von fremden Rassen durchsetzt sind. Es gibt ja inzwischen mehr Latino-Kids in den Staaten als Weiße!«

Sie sah besorgt aus, als sie das sagte. Mir wurde etwas unwohl. Adolf und Eva standen vor mir und glotzten mich unentwegt an, als würden sie auf eine Regung warten, welche meine politische Einstellung in der Sache verriet, um dann mit mir zu schmusen oder meine Waden zu zerfleischen.

»Wir wollen nur die weiße Rasse retten!« Sie lächelte selig.

Mein Grinsen misslang. Ach du heilige Scheiße. Wo war ich da nur hineingeraten.

Die Frau schnappte sich den Zettel aus meiner Hand. Sie grübelte nach.

»Die Adresse kenne ich nicht. Schade.«

Ein Lächeln überzog ihr Gesicht.

»Aber vielleicht wollen Sie warten, bis mein Mann wiederkommt?«

Ich blickte zu Boden. Eva und Adolf fletschten die Zähne und knurrten.

»Nein, danke. Ich denke, ich muss weiter.« Ich erhob mich.

»Schade, denn wir haben auch Bücher zu verkaufen. Schauen Sie mal!« Sie schob den Stuhl beiseite und griff in ein Bücherregal. Die Frau holte einige obskur aussehende Papp-Bände herunter, selbst kopiert und eingebunden, wie ich unschwer erkannte.

Die Titel ›Überfremdung in Amerika‹, ›Die schwarze Gefahr für die weiße Frau‹, ›Latino-Affen‹ gaben beredtes Zeugnis vom zu erwartenden Inhalt. Mir wurde speiübel.

»Nein, danke. Ich muss jetzt weiter.«

Ich zog mich langsam zur Tür zurück, die geifernde Eva und den knurrenden Adolf stets im Blick. Die dicke Matrone folgte mir mit trippelnden Schritten ihrer fleischigen Füße, die in Badelatschen steckten, wie ich nun erkannte.

»Schade, Mr. Harper. Sehr schade.« Ihr Flöten hatte einen beunruhigenden Unterton, wie das Zischeln einer Viper, bevor sie zubeißt.

Mein Blick streifte die Wand neben dem Küchentisch. Dort hing eine Pumpgun sowie ein deutsches Heckler&Koch Sturmgewehr neben einer Luger-Pistole.

Verdammte Scheiße.

»Was halten Sie von Adolf?«

Irritiert konnte ich nicht antworten. Meinte Sie den Hund?

»Sie meinen …?«

Langsam kam sie auf mich zu. Im Hintergrund griff ihr ältester Sohn, mindestens 15 Jahre alt, zur Pumpgun.

»Ich … ich … ich muss nun wirklich gehen«, stammelte ich.

Der Weg zur Haustür glich einer Flucht. Ich stolperte rückwärts über Holzspielzeug und Schuhe, ruderte mit den Armen und hielt glücklicherweise mein Gleichgewicht. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich zu Boden gegangen wäre. Hinter der Frau kamen ihre Kinder zusammen, umringten sie wie eine Rotte von Ratten. Die Atmosphäre im Haus schien sich verändert zu haben. Dunkelheit und Bösartigkeit umflorten die Familie wie eine schwarze Aureole und griffen mit Schattententakeln nach mir.

Die beiden jüngsten Kinder krabbelten zwischen den krummen Stampferbeinen ihrer Mutter umher und hielten dabei Küchenmesser in den Händen; Die älteste Tochter stemmte das Sturmgewehr in die rechte Schulter und zielte auf mich; Die Pumpgun des ältesten Sohnes war bereit, mir eine Ladung Schrot ins Gesicht zu brennen.

Ich spürte die Tür in meinem Rücken, drehte mich blitzschnell um und riss sie auf. Mein Weg zurück auf die Hauptstraße war ein Stolpern, Hinfallen und wieder Aufrappeln. Hinter mir krachte ein Schuss und die Tonvase auf dem Zaun neben mir zerbarst in tausend Stücke.

»Mach, dass du wegkommst, du Stück Scheiße!«, keifte der Sohn mit sich überschlagender Stimmbruchstimme.

Von hinten packten mich zwei Hände und rissen mich hinfort. Ich landete seitlich im Fond eines Wagens. Ein älterer Typ mit Kapuzenjacke warf die Tür zu, hechtete hinters Steuer und fuhr los. Mit quietschenden Reifen bog er um die Kurve. Ich stieß mit der Schulter gegen einen Gegenstand, drehte den Kopf: Eine Kettensäge! Verdammt – erst die Nazis, nun ein irrer Killer! Heute war nicht mein Glückstag!

Als wir eine Weile gefahren waren, hielt er an. Er drehte sich zu mir um, warf die Kapuze ins Genick. Es war ein Farbiger mit geschorenem Schädel.

»Bist du wahnsinnig, dich mit diesen Freaks einzulassen? Das sind Nazis. Total abgedreht, völlig krank!«

»Ich wusste das nicht …«

»Hast Glück gehabt, dass ich gerade vorbeigefahren bin und den Schuss gehört hab.«

Der Mann grinste schief.

»War ne heftige Action, was?« Seine rechte Hand griff nach hinten. »Mein Name ist Frank Collins.«

»Angenehm, Eric Harper.« Wir schüttelten uns die Hände. Ich blickte nervös auf die Kettensäge. Er lachte.

»Keine Sorge. Ich war im Wald und hab Holz gesägt. Das ist alles.«

Wenige Minuten später saß ich am Wohnzimmertisch der Collins bei einem Glas selbst gemachter Limonade. Es herrschte eine düstere Atmosphäre, da alle Fenster mit schweren Vorhängen drapiert waren und kaum Sonnenlicht durch die schmalen Spalte in den Raum sickerte. Miss Rose Collins entpuppte sich als weiße Mittfünfzigerin, die sich immer wieder ihre Brille zurechtrücken musste, die über ihre fettige Nase abzurutschen drohte. Man konnte an ihren Krähenfüßen rund um die Augenwinkel erkennen, dass sie einst gern gelacht hatte.

»Das mit den Nazis geht nun schon eine ganze Weile hier in Leigh«, klagte Rose und schluckte. Frank saß neben ihr und legte seiner Frau behutsam eine Hand auf den Arm.

»Sie bezeichnen meinen Mann als Vieh und mich als Rassenhure, da ich mich mit ihm eingelassen habe. Es ist furchtbar!«

Sie sah zu Boden und weinte. Frank tröstete sie, indem er seinen Arm um sie legte. »Wir haben sogar die Fenster in der Küche mit Handtüchern verhängt. Man weiß ja nie! Ich will nicht, dass uns jemand beim Kochen in den Rücken schießt.«

»Dass es so schlimm ist mit den Nazis, hab ich nicht gewusst«, brachte ich mühsam hervor. Die Situation in Leigh lag mir schwer auf der Seele. Ich fühlte mit den Collins. Wie grausam war es, hier als Schwarz-Weißes Paar ein normales Leben führen zu wollen. Ich konnte nur ahnen, wie hart es war. Dennoch – ich wollte mich auf mein eigentliches Ziel zurückbesinnen.

»Entschuldigen Sie, aber ich muss etwas fragen. Ich bin hier, weil irgendjemand meinen Namen als Autor missbraucht und grauenvolle Texte veröffentlicht. Hier habe ich eine Adresse, wo ich weitere Nachforschungen anstellen kann. Aber ich konnte die Straße nicht finden. Können Sie mir weiterhelfen?«

Frank nahm meinen Zettel. Gemeinsam mit Rose sah er ihn sich an. Er runzelte die Stirn. »Das ist die alte Irrenanstalt ›Rearview Hospital‹. Sie liegt etwas außerhalb in einem Waldstück.«

»Eine Irrenanstalt?« Ich war verwirrt.

»Ja. Wurde schon vor Jahrzehnten aufgegeben. Irgendwann in den Sechzigern haben sie dort noch mit Psychodrogen experimentiert. Hässliche Dinge sind passiert. Anfang der Siebziger hat man sie zugemacht. Dort lebt nur noch ein Pförtner, der aufpasst, dass keine Kids in die Anstalt einbrechen, um Party zu machen.« Frank kratzte sich am kahlen Schädel.

»Den werde ich fragen. Danke euch beiden! Ich muss aufbrechen, sonst wird es zu spät!« Ich erhob mich. Rose und Frank begleiteten mich zur Tür. Orangefarbenes Spätnachmittagslicht blendete mich.

»Und du bist dir sicher, dass du heute noch dahin willst?«, fragte Rose.

Ich nickte.

»Viel Erfolg bei deinen Nachforschungen, Eric!«, sagte Frank und ergriff meine Hand.

Ich presste die Lippen zusammen und sah ihm fest in die Augen. »Ich wünsche euch alles Glück der Welt!«

Tränen schimmerten in seinen Augen, aber er ließ nicht zu, dass sie diese verließen. Ich stieg ins Auto, startete den Motor und wendete den Wagen. Im Rückspiegel sah ich die beiden vor ihrem Trailer stehen. Er hatte den Arm um sie gelegt. Sie winkte mechanisch. Ich hielt den Arm aus dem Fenster, winkte nach hinten. Dann bog ich um die Straßenecke.

Die Fahrt zur Irrenanstalt ›Rearview Hospital‹ werde ich nie in meinem Leben vergessen. Die wunderschöne Landschaft von North Dakota flog an mir im orangefarbenen Licht vorbei, während im Autoradio Katrina And The Waves von ›Walking On Sunshine‹ sang.

Aber als der Wald näher rückte, in dem die Irrenanstalt lag, änderte sich die Lichtstimmung drastisch. Wolken waren am Horizont aufgezogen und verzerrten die Sonnenstrahlen zu blutroten Schlieren, welche die Bäume besudelten. Im Radio lief nun ›Paranoid‹ von Black Sabbath. Mit fünfzig Meilen raste ich hinein zwischen die hoch aufragenden Kiefern des Waldes.

Die Düsternis lastete körperlich auf mir. In meiner Seele begann sich der Wurm der Angst zu regen. Er wand sich umher, fraß sich dann einen Weg empor. Mit jedem zurückgelegten Kilometer spürte ich ihn im Hals höher steigen, bis meine Kehle wie zugeschnürt war.

Als das ›Rearview Hospital‹ urplötzlich zwischen den Bäumen wie eine Bestie hervorsprang, erschrak ich. Gleichzeitig löste sich damit die Anspannung und ich betrachtete die Irrenanstalt nun so nüchtern wie ein Forscher, der ein bizarres Insekt untersucht, das zwar giftig war, sich aber in sicherer Entfernung befand.

Ich hielt den Wagen an und stieg aus.

Die Anstalt hockte im Schatten der Bäume am Waldrand, die Front eine riesige Fratze aus grobem, roten Backstein. Nur die kleinen Türme und Erker, die vielen Kamine und Schornsteine wurden vom Sonnenlicht erreicht. Das schwarze Dach schien das Licht zu schlucken.

Frisst es Licht? Ernährt es sich von Wärme?

Ein zweites Ich redete mit mir. Ich glaube heute, dass ich somit versuchte die Einsamkeit und Angst zu vertreiben.

Mir war kalt geworden und ich schlug fröstelnd die Arme um mich.

Fenster wie Totenaugen. Kalt und dunkel. Die Eingangstür gähnte wie der offen stehende Schlund einer Leiche, bei welcher der Unterkiefer heruntergeklappt war.

Hör auf damit, dir Angst zu machen, Horrorautor! Es ist nur ein Haus … Aber ein böses, dunkles Haus …

Vögel zogen über dem Wald hinweg. Kamen sie zu nahe an das Hospital, wechselten sie – erschrocken – die Flugrichtung.

Sie wissen davon.

Wilder Efeu rankte sich an den Ritzen der Backsteinfront empor, umwand Steinsäulen, schlängelte sich über die Freitreppe und bedeckte sogar ein Fenster im ersten Stock gänzlich, sodass es wie ein Auge aussah, das von einer trübenden Schicht überspannt wurde.

Wie das Auge eines Geiers!

Ich schnappte mir meinen Rucksack vom Beifahrersitz und machte mich auf den Weg, das Pförtnerhaus zu suchen. Lange war ich nicht unterwegs, denn rechts zwischen den Bäumen stand ein Wohnwagen, dessen Tür offenstand.

»Hallo?«

Nur die Dummen rufen!

Ich streckte den Kopf in den Wohnwagen. Der Gestank von menschlichen Ausdünstungen drang mir in die Nase. Der Besitzer hielt wenig davon, seine Wohnung zu lüften. Als meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte ich, dass der Wohnwagenbesitzer auch sonst recht wenig von Ordnung hielt. Überall lagen offene Pizzaschachteln und Kartons mit dem Aufdruck ›Asia Snack Bar‹ herum. Auch roch es nach etwas anderem, etwas Tierischem …

Aus der Finsternis des Wohnwagens sprang mir die Bestie mit vor Speichel triefenden Lefzen und einem säbelartigen Gebiss entgegen. Ich zuckte zurück. Der Bullterrier wurde von einer Kette in seinem Vorwärtsdrang gestoppt. Wild riss er daran, fixierte mich mit seinen schmalen Haifischaugen und verspritzte Geifer.

Ich danke dir, Kette!

Wo war der Wächter? Ich vermutete, dass er seinen Rundgang im Gebäude machte und ein Geräusch gab mir Recht, das vom Eingang herüberschallte. Es war ein lautes Knacken gewesen, dem nun ein Knistern folgte.

Ich ging hinüber zum Eingangsportal, fröstelte beim Betreten des Schattens und zog mir meine Army-Jacke über. Aus dem Rucksack fischte ich die Mag-Light und schaltete sie an. Auf der Freitreppe lag totes Laub in einer dicken Schicht. Es knisterte beim Hindurchlaufen wie altes Papier. Auf der Veranda kringelten sich nur vereinzelte, große Ahornblätter, den Hautschuppen eines Riesenfisches gleich.

Ich stellte mich auf die Schwelle zur Irrenanstalt und rief in die Dunkelheit:

»Hallo Mister Pförtner? Wo sind Sie? Mein Name ist Eric Harper und ich möchte Sie etwas fragen!«

Dummkopf! Jetzt weiß er, wie du heißt und wo du bist!

Wie zur Antwort erscholl ein Lied, torkelte die Flure entlang, von den Wänden als Echo zurückgeworfen wie ein Spielball, von den Ecken der Zimmer zu einem Zerrgeräusch gebrochen.

Eine Aufnahme. Dem Knistern zwischen den Tönen nach von einer Schallplatte.

Sehr, sehr alt! Schellack vielleicht?

Eine Frauenstimme. Ein Wiegenlied. Brahms.

»Guten Abend, gut Nacht

mit Rosen bedacht«

Eine Gänsehaut überkam mich. Es war das Lied, das ich schon als Kind gefürchtet hatte. Es waren zu viele Ungewissheiten darin. Worte, deren Sinn ich nicht verstanden hatte, so sehr ich mich auch bemühte …

»mit Näglein besteckt,

schlupf unter die Deck«

… oder missinterpretierte, ganz so als läge eine geheime Botschaft zwischen den Zeilen des Liedes versteckt.

»Morgen früh, wenn Gott will,

wirst du wieder geweckt.«

Das waren die entscheidenden Zeilen. Dieses ›wenn Gott will‹ hatte mir als Kind furchtbare Angst gemacht. Ich hatte mir immer gedacht: »Was ist, wenn Gott mal nicht will – dann wachst du nicht mehr auf, dann stirbst du!«

Zeilen, die mich verhöhnten und sogar das Vertrauen in meine Eltern untergrub. »Wäre es möglich«, so dachte ich mir damals, »dass meine Eltern durch den mysteriösen Einfluss des Liedes zur Tötung ihres eigenen Kindes fähig werden?«

Grauenvolle Erinnerungen, von denen ich mich ablenkte, indem ich die Taschenlampe auf die Dunkelheit richtete. Der Strahl entriss ein schattendurchwobenes Treppenhaus aus der Finsternis. Nach links und rechts verlief ein Flur, der sofort beidseits abknickte und nach hinten weiterlief. Abblätternder Putz lag wie eine Laubschicht auf den Stufen und dem Estrich.

»Hallo Mister! Gehen Sie nicht weiter! Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie Privatgrund betreten!«

Die Stimme kam von irgendwo aus dem Haus. Sie klang rau wie Schmiergelpapier.

»Ich bin Autor und habe nur eine Frage an Sie – dann bin ich schon wieder verschwunden! Bitte!«

Die Antwort ließ kurz auf sich warten. Doch dann konnte ich aufatmen: »Okay, wenn das so ist. Kommen Sie ruhig rein und schauen Sie sich um! Ich bin im Obergeschoss, habe einen alten Plattenspieler und Schallplatten gefunden, wie Sie hören.« Das Kichern, das folgte, klang als würden Kieselsteine eine Treppe hinabkullern.

Ich wandte mich nach rechts und bog gleich darauf nach links ab. Ein Durchgang entließ mich in einen lang gestreckten Raum. Zunächst erkannte ich nichts, doch dann wusste ich, was das für merkwürdige große Gebilde waren, die in Reih und Glied auf dem gekachelten Boden standen.

Badewannen! Das sind Dutzende Badewannen! Und darüber große Kipp-Eimer, Eisenketten hängen von dort herab!

Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild von dürren Patienten, die nackt in den Badewannen stehen, zitternd vor Angst, sich notdürftig den Schambereich bedeckend; Pfleger in weißen Anzügen daneben, welche die Eisenketten ruckartig ziehen, worauf sich ein Schwall aus Eiswasser auf die Nackten ergießt.

Schocktherapie!

Entsetzt wendete ich mich ab und lief zurück zum Treppenhaus. Ich stieg Stufe um Stufe hinauf, meine Schuhspitzen unter dem Putz-Laub vergraben. Über mich hallte das Lied hinweg.

»Guten Abend, gut Nacht

mit Rosen bedacht«

Eine Kehre, weiter hinauf, vorbei an alten Gesichtern auf Fotografien: Ärzte, Leiter der Irrenanstalt, Pfleger. Ihr Blick verfolgte mich, während ich im Taschenlampenlicht vorbei schritt. Dann stand ich auf dem oberen Absatz und blickte auf einen schwarzen Durchgang. Ich trat näher und erst das Oval der Taschenlampe zeigte mir, was sich dahinter verbarg.

Draußen war die Sonne bereits untergegangen, und als sich der Mond durch die Wolken zwängte, fielen seine Strahlen schräg durch die hohen Gitterfenster und zeichneten ein Rautenmuster auf den Parkettboden, wo die Eisengestelle der Betten standen. Plünderer hatten die Matratzen gestohlen und die Betten kreuz und quer im Raum verteilt. Einige standen sogar gekippt, waren miteinander verkeilt und bildeten somit Barrieren aus Eisen und Drahtfedern. Lange Vorhänge an den Fenstern dümpelten träge im unmerklichen Luftzug und schleiften in unendlichen Achterfiguren über das Parkett.

Der Schlafsaal!

Die in Schellack konservierte Frau mit dem altmodischen Schmelz in der Stimme sang immernoch:

»mit Näglein besteckt,

schlupf unter die Deck«

Ich lief durch das Labyrinth der Bettgestelle. Ich befühlte sie mit den Fingerspitzen, ganz so als müsste ich mich davon überzeugen, dass sie real waren und keine Einbildung meiner überspannten Nerven.

»Sind Sie noch da, Mister Autor?«

Es kam direkt von vorn, aus dem nächsten Raum.

»Ja, ich bin gleich da. Sie müssten mich schon sehen können!« Ich schwenkte die Taschenlampe.

»Ah ja. Kommen Sie rein, das müssen Sie sich unbedingt ansehen!«

Ich weiß noch, dass ich den Durchgang in den nächsten Raum passierte – eine Art Wärterzimmer mit Kamin, Sofa und Schreibtisch – dann bemerkte ich eine schattenhafte Bewegung aus dem Augenwinkel, gefolgt vom Krachen eines Schlages, den aufbrandenden Schmerz am Hinterkopf. Der Rest war Dunkelheit.

»Morgen früh, wenn Gott will,

wirst du wieder geweckt.«

Ich erwachte vom dumpfen Schmerz in meinem Schädel. Ich saß auf einem Stuhl und wollte mich umsehen, konnte aber meinen Kopf nicht bewegen. Um mein Kinn war ein Eisenband gezogen, über meine Stirn ebenso. Die Bänder hielten mich fest nach hinten gegen ein Gestell gepresst ohne Möglichkeit, den Kopf nach links oder rechts zu drehen.

Zunächst war ich zu schockiert, um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und versuchte mit den Händen die Bänder zu lösen. Doch zu meinem Entsetzen waren auch meine Armgelenke am Stuhl fixiert. Kabelbinder schnitten dort in die Haut. Meine Beine waren ebenfalls unbeweglich. Ich spürte, dass sie mit Stricken festgebunden waren.

Plötzlich drehte jemand den Stuhl blitzschnell um, indem er ihn über ein Stuhlbein kippte. Ich starrte auf ein prasselndes Kaminfeuer. Ein Kaffeetisch stand davor. Bücher waren darauf in mehreren hohen Bergen gestapelt.

»Wusstest du, dass die Nazis das Lied von Brahms in Auschwitz dazu benutzten, die jüdischen Kinder zu beruhigen, wenn sie Hand in Hand zu den Gaskammern geführt wurden? Nein? Wie lustig, gell? Schön, dass nun auch du meiner musikalischen Spur gefolgt bist, Eric.«

Ein Schatten bewegte sich von links durch den Raum, immer knapp außerhalb des Lichtkreises, den das Feuer ausbreitete. Er blieb an der Kaminecke stehen, lehnte sich an und betrachtete mich.

»Ich war ja so neidisch auf dich, Eric. So neidisch auf deinen Erfolg als Autor. Auch ich kann schreiben, aber mich wollte niemand drucken. Dich schon. Wieder. Und immer wieder.«

Schließlich sprang er vor an den Bücherstapel, schnappte sich ein Buch und hielt es mir vor die Nase. Es trug den Titel ›Obskure Orte 2‹. Ein Hardcover. Doch ich hatte nur Augen für das Gesicht, das übergroß vor mir explodierte, ganz nah, sodass ich den fauligen Atem roch. Erstaunt riss ich die Augen auf.

»Du, Sid? Wieso?«

Der Comicladenbesitzer hatte Tränen der Wut in den Augen. Seine Lippen bebten und Speichel klebte in seinen Mundwinkeln, zog beim Reden Fäden wie weiße Spinnweben.

»Wieso? Du hast wirklich Nerven, mich nach dem Wieso zu fragen!«

Er machte eine ausladende Armbewegung nach hinten.

»Deswegen! All deine Bücher – ich hab so viele hier, wie ich nur auftreiben konnte – Jahr um Jahr veröffentlichst du deine Bücher. Alles bei Kleinverlagen, kann nicht viel Geld einbringen. Aber das ist dir egal. Du machst es aus …«, an dieser Stelle verdrehte er die Augen und verzerrte die Stimme zu einem künstlichen Sing-Sang: »Liebe zum Genre der unheimlichen Phantastik, so sagst du jedenfalls immer in deinen Interviews. Ja, ich weiß alles über dich. Ich habe alle deine Vorworte und Nachworte gelesen. Hab mir jedes Interview aus dem Internet ausgedruckt, jede Website studiert, auf der du als Forenmitglied registriert bist, hab deine Postings gelesen! Ich kenne dich besser als du dich selbst!«

In seinen Augen flackerte Wahnsinn. Er lachte sein raues Lachen und warf mir das gebundene Buch ins Gesicht. Ich konnte nicht ausweichen. Das Wurfgeschoss traf mit der Kante meine Stirn und riss eine Platzwunde.

»Oh, hab ich dir wehgetan? Hardcover ist einfach besser als Paperback, gell?«

Er zog die Mundwinkel übertrieben nach unten und wischte mir das Blut aus dem Gesicht – mit seinen schmutzigen Fingern. Dann leckte er es sie ab. Jeden einzeln.

»Hm. Ich schmecke den Schmerz in dir. Und das befriedigt mich. Sehr sogar!«

»Was soll das! Ich hab dir nichts getan!«, brüllte ich. Blut sickerte nach und lief mir in die Augen. Es brannte und trieb mir Tränen hoch. Doch vor diesem Irren wollte ich nicht weinen! Daher kämpfte ich meine Tränen nieder.

»Ha, nichts getan!« Sid spuckte mir ins Gesicht. Seine Stimme war jetzt voller Hass. »Ich bin auch Autor! Mich wollte aber im Gegensatz zu dir niemand drucken, was ich gar nicht verstehen kann. Doch das ist noch lang nicht alles …«

Er fixierte mich, legte den Kopf schief, schürzte überlegen die Oberlippe. Dabei erkannte ich, dass er heute eine gezackte Zahnschiene eingelegt hatte. Sie sah in seinem Mund wie eine Bärenfalle aus.

»Ich mag es, wenn du blutest. Du siehst dann besser aus. Viel besser als auf deinen Website-Fotos, wo du eingebildet und arrogant glotzt.«

»Wenn du mich loslässt, verrate ich niemanden etwas davon. Bitte!«

Sid ging mit keinem Wort auf meine Bitte ein. »Weißt du aber, was das Schlimmste an dir ist? Nein? Ich will es dir verraten. Wenn ich deine Storys lese, ist da immer von Toleranz die Rede. Toleranz gegen die Schwarzen, Toleranz gegen die Schwulen, Bla-Bla-Bla!«

Er winkte ab und zog mit einem schnarrenden Geräusch Rotze in der Kehle hoch. Sid spuckte zu Boden.

»Bullshit! Das ist Christengewäsch oder Humanitätsgequatsche. Egal, ist eh die gleiche Soße. Ich hab mich dem Ku-Klux-Klan angeschlossen, die wissen Bescheid. Hast du gewusst, dass in den USA mehr Latino- und Nigger-Bastarde als weiße Kinder geboren werden? Hä? Hast du das gewusst? Hast du?«

»Nein.«

»Die vermehren sich wie Karnickel! Rammeln wie die Ratten und bringen ihre Brut in Rekordzeit zur Welt! Aber wir tun was gegen die Überfremdung von ›God‘s Own Country‹ – yeah! Ich hab mich nämlich noch ner andern Organisation hier in Leith angeschlossen. Wir bauen eine reine weiße Siedlung auf. Jippieh! Das wird für alle ein Zeichen sein – das Hakenkreuz geht uns voran! Heute Leith, morgen North Dakota, übermorgen …«

»… übermorgen der Knast von Oklahoma. Verpiss dich, du Nazi!«, zeigte ich mich mutig.

Sein Blick wurde hart. Dann ohrfeigte er mich. Von links. In meinem Ohr klingelte es, meine Backe glühte.

»Du bist doch Katholik, gell? Dann mach’s wie dein verfickter Jesus – halt auch die andere Wange hin!«

Die nächste Ohrfeige kam von rechts. Da ich nicht mit dem Schlag mitgehen konnte, presste er mich gegen die Eisenbänder, die in meine Haut schnitten. Ich spürte das warme Blut über meinen Kopf laufen.

»Du Arschloch!«, schrie ich mit überschnappender Stimme.

Sid fixierte mich eiskalt, dann ballte er die Faust und schlug zu. Mitten in mein Gesicht. Auf meinen Mund. Sofort explodierte der Schmerz in mir, meine Oberlippe platzte auf, Blut lief mir in den Mund, spritzte auf Sids Faust. Ich musste schlucken, spürte etwas Hartes. Ein Schneidezahn.

Sid leckte mein Blut von seiner Faust. Er lächelte.

»So gefällst du mir!«

Er setzte sich vor mir auf den Boden.

»Du warst so einfach zu kriegen! Man muss nur wissen, wie. Alles lief über deine Ehre. Es geht dir stets um deinen Ruf als Schriftsteller – so wie mir auch! Und da habe ich dich gepackt.«

Er grinste und wartete. Als ich nicht reagierte, sondern Blut schluckte, sprach er weiter.

»Ich hab deine Bücher neu geschrieben. Geschichte für Geschichte. In meinem Stil. Ich wusste, du würdest das merken.«

Wieder grinste er arrogant.

»Dann hab ich sie drucken und binden lassen – ›Book on Demand‹ macht’s ohne Verlag möglich – und sie in den Laden gestellt. Der Rest war lächerlich einfach. Du bist ja so herrlich naiv!«, sagte er in herablassendem Ton. »Und jetzt bist du hier, Autörlein!«

Er stand auf. Sein Gesicht wurde hart wie Beton.

»Ich beginne mit dem Prozess … Eric Harper, Sie sind angeklagt, rassistisch minderwertige Literatur mit zweifelhafter Moral zu verbreiten. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Nein, du Freak!«

»Aber du bist es und basta! Prozess beendet – Zeit für die Urteilsvollstreckung: Eric Harper, Ihre Bücher werden der Öffentlichkeit entzogen. Sie selbst erhalten Schreibverbot!«

Sid trat zum Bücherstapel. Ich erkannte nun, dass es sich dabei ausschließlich um Kurzgeschichtensammlungen von mir handelte oder um Anthologien, bei denen ich einen Storybeitrag geliefert hatte. Sid nahm das oberste Buch eines der Stapel und erhob die Stimme:

»Gegen Frechheit, Toleranz und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen amerikanischen Volksgeist! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Eric Harper!«

Und er warf das erste Buch ins Kaminfeuer. Dann folgte wieder ein Spruch und das zweite Buch trudelte in die Flammen. Es waren dieselben Sprüche, die 1933 bei der Bücherverbrennung der Nazis gerufen wurden.

Ich habe mir nicht alle seine Sprüche gemerkt. Aber den fanatischen Blick in Sids Augen hab ich für immer bei mir. Und stets, wenn ich im Fernsehen den ein oder anderen Politiker reden höre, sehe ich exakt diesen Blick vor mir und weiß, dass ich diesen Politiker nicht wählen darf, denn er ist gefährlich!

Mit jedem Buch, das Sid in den Kamin schleuderte, verspürte ich einen Stich im Herzen. So sehr mir auch das Gesicht von den Schlägen wehtat, so wenig gingen diese unter die Oberfläche. Aber nicht so die Verbrennung meiner Bücher. Nur ich kann ermessen, wie viel Mühe darin steckte. Wie viele Stunden ich mit dem Schreiben zubrachte, dem Korrigieren, Redigieren, dem Wörter-Abwägen, dem Streichen, dem Korrespondieren mit den Verlegern, den Illustratoren, den Setzern. Zeit, unwiederbringlich, aber sinnvoll investiert in das, was ich glaube einigermaßen zu können – das Schreiben. Nicht, um reich zu werden. Nicht Eitelkeit treibt mich an. Was ich will, ist die Leser unterhalten. Wie einst am Lagerfeuer der Steinzeitmenschen. Geschichten erzählen. Spannende Erzählungen. Abseits des Alltags. Und all das nun vernichtet mit einer abfälligen Wegwerfbewegung des Psychopathen Sid.

Doch mir kam ein Gedanke. »Sid, das ist sinnlos. Lass es sein! Meine Bücher sind da, existieren in Bücherschränken überall im Land. Es ist sinnlos, dass du ein paar Exemplare verbrennst!«

Zum ersten Mal, seitdem ich die Irrenanstalt betreten hatte, lächelte ich.

Der Angesprochene kam auf mich zu, breitete die Arme aus. Er grinste breit.

»Aber, aber. Das war doch nur symbolisch gemeint! Weit wichtiger ist, was nun kommt. Der zweite Akt der Urteilsvollstreckung: Schreibverbot!«

Und damit ging er vor mir in die Knie und ergriff meine rechte Hand.

»Eric Harper. Hiermit vollziehen wir das Urteil und entziehen Ihnen die Erlaubnis zu schreiben – für immer!«

Noch bevor ich reagieren konnte, und bevor ich aufschreien konnte, hatte Sid mit einer ruckhaften Bewegung seiner Hand den Kleinen Finger und den Ringfinger aus meiner Faust gezwungen und hielt sie fest umklammert.

Dann öffnete er sein Bärenfallengebiss, schob meine Finger hinein und biss zu.

Ich war zu schockiert, als dass ich im ersten Moment Schmerzen gefühlt hätte. Der Schmerz setzte erst einen Herzschlag später ein. Dann aber gewaltig.

Den Schmerz zu beschreiben, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Zu gewaltig durchwühlte er meine Eingeweide, pulste in den beiden Fingerstümpfen. Ich sah nicht mehr richtig, erkannte aber dennoch, dass Sid meine Finger in einen Eimer spuckte und zu meiner anderen Hand wechselte, wo er ebenfalls Ringfinger und Kleinen Finger festhielt – und einen Moment später am ersten Fingerglied abbiss.

Ich muss ohnmächtig geworden sein, denn das Nächste, was ich mitkriegte war, dass ein ohrenbetäubendes Knattern anhob. Sid blickte verwirrt und begann unkontrolliert zu zucken und zu schreien, als sich von hinten die Metallzähne einer Kettensäge in sein Schulterblatt frästen und es vom Rest des Körpers abzutrennen begannen.

Fleisch- und Stofffetzen wurden mir ins Gesicht geschleudert. Das Blut kam erst später, dann aber in pulsenden Schüben.

Ich wurde Zeuge des merkwürdigen Vorgangs, dass Sids unkontrolliert zuckender Körper mehr und mehr in zwei Teile zerfiel. Die Kettensäge arbeitete unaufhörlich und ohne langsamer zu werden. Kontinuierlich fraß sie sich durch Knochen, Sehnen, Muskeln, erreichte schließlich den Brustkorb. Schwärzlich verfärbte Batzen einer Raucherlunge wurden hervorgeschleudert und klatschten zu Boden, ehe die Säge in Schräglage sich nach rechts wandte und nach einer kurzen Arbeitsphase, in der Sids Schreie sich wegen des harten Rippenbogens verstärkten, an der rechten Körperseite wieder austrat. Sids rechter Arm und ein Großteil seiner rechten Körperhälfte fielen zu Boden. Aus der riesengroßen Wunde quoll dickflüssiges Blut, spritzte im Herzschlag. Sid verdrehte die Augen und torkelte nach links hinweg in die Dunkelheit, wo er mit einem Klappern zusammenbrach.

Hinter ihm kam Frank zum Vorschein. Er hielt die Kettensäge in den zitternden Händen. Sie tuckerte, was mir wie das Schnurren einer befriedigten Bestie vorkam.

Frank starrte mir entgegen. Aus seinem offenen Mund löste sich ein Speichelfaden.

»Heilige Scheiße.«

Ich weiß nicht mehr, wer von uns das gesprochen hatte. Aber das Nächste kam von Frank.

»Rose hat mir gesagt, dass ich hinterherfahren soll. Manchmal hat sie so Eingebungen. Wir nennen es Shining

Sid ist tot. Ich lebe und schreibe noch immer Horrorgeschichten, wie Sie sehen.

Ab und an besuche ich Frank im Gefängnis. Das bin ich ihm schuldig. Wegen seiner Kettensägen-Attacke hat er fünf Jahre bekommen. Die Richter halten ihm zugute, dass er in einer Art Notwehr gehandelt hat, um mich zu retten. Vielleicht kommt er früher wegen guter Führung raus, wer weiß? Bei meinen Besuchen sitzen wir schweigsam am Tisch, trinken Kaffee und schauen hinaus durch die vergitterten Fenster.

Die Nazis sind aus Leith abgezogen, berichtete mir Rose gestern am Telefon. Die ständigen Razzien des Sherifs haben ihren Teil dazu beigetragen. Das und die Journalisten, die sich seit der Sache in der Irrenanstalt permanent hier aufhalten und über die Nazis berichten. Die Grundstückseigentümer verkaufen nun nicht mehr so leicht an die Nazis, da sie befürchten, dass ihre Namen im Fernsehen auftauchen könnten.

Meine vier Finger sind verloren. Aber es sind nur vier von zehn Fingern. Ich habe noch mehr als genug.

Und noch viele Geschichten, die ich erzählen möchte.

Und Zeit genug.