10. Kapitel
Es war gegen 18 Uhr. Von einem fleißigen Hamburger Kaufmann konnte
man annehmen, dass er sich noch an seinem Arbeitsplatz
aufhielt.
Sie fuhren hinunter in den ältesten Teil Hamburgs, der schon im
Mittelalter existierte. Hier, in einer Straße namens Cremon, hatte
das Familienunternehmen Evermann sein Kontorhaus. Es war ein
vornehmes schmales Gebäude unmittelbar am Nicolaifleet.
Die Kriminalbeamten zeigten dem Portier ihre Ausweise.
»Ist Herr Evermann noch in seinem Büro?«
Der Portier blickte nervös hin und her. Ihm war offensichtlich gar
nicht wohl in seiner Haut.
»Ich ... ich weiß nicht, ich ...«
»Wir verschwenden unsere Zeit.« Ben richtete seinen Zeigefinger wie
eine Waffe auf den Portier. »Wenn Sie telefonieren, um Herrn
Evermann zu warnen, dann ist eine Strafanzeige wegen Beihilfe
fällig!«
Den Aufzug legte Ben lahm. Er klemmte einfach eine Handschelle in
den Türspalt, sodass er sich nicht mehr richtig schließen konnte.
Daher musste die Kabine des altertümlichen Lifts im Erdgeschoss
bleiben.
»Den Trick muss ich mir merken!«, sagte Heike. Dann rasten die
beiden Beamten die steile Treppe hinauf.
Das Chefbüro befand sich im dritten Stockwerk. Man hatte einen
schönen Blick auf die Fleete und den Hafen. Von hier aus konnten
die Evermanns seit vielen Generationen zusehen, wie ihr Wohlstand
in Form von Schiffsladungen ins Land kam.
Eine Chefsekretärin sprang von ihrem Designerschreibtischstuhl auf.
Die Dauerwelle der Dame sah aus wie aus Stahl.
»Was soll dieser unerhörte Auftritt?!«
Heike hielt ihr ihren Dienstausweis unter die Nase.
»Wir haben einen Haftbefehl, ausgestellt auf Herrn Marius
Evermann.«
»Das muss ein Irrtum sein«, ereiferte sich die Chefsekretärin.
»Herr Evermann hat sich gewiss nichts zu Schulden kommen lassen
...«
»Abgesehen von Anstiftung zum Mord«, meinte Heike trocken. »Ist er
da drin?«
Sie deutete auf eine ledergepolsterte wuchtige Tür.
»Ja, aber ich kann wirklich nicht ...«
»Aber wir können!«
Kurzentschlossen stieß Heike die Tür auf. Ben folgte direkt hinter
ihr in den Raum.
Das Chefzimmer war leer. Das erkannte Heike auf den ersten Blick.
Es gab in dem gediegen eingerichteten Raum auch keine
Versteckmöglichkeiten für einen erwachsenen Menschen.
Heikes suchender Blick schweifte umher. Auf einer Konsole stand ein
kleiner japanischer Fernseher. Sie biss sich auf die Unterlippe.
Offenbar hatte Evermann wirklich von Augustins Verhaftung Wind
bekommen. Dieser verflixte TV-Reporter!
Die Hauptkommissarin wandte sich nun wieder an die Sekretärin. Ihre
Stimme war eiskalt, als sie zu sprechen begann.
»Gegen Herrn Evermann wurde Haftbefehl im Rahmen einer
Morduntersuchung erlassen. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen,
dass Sie mit einem Verfahren wegen Beihilfe rechnen können, falls
Sie ihn zu decken versuchen. – War er heute in seinem
Büro?«
»J... ja, ganz bestimmt!« Die coole Fassade der Sekretärin
bröckelte. Sie wirkte eingeschüchtert.
»Ich habe seit ein paar Stunden nichts von ihm gehört. Aber das hat
nichts zu sagen. Er arbeitet dann immer sehr intensiv.«
»Wie konnte Herr Evermann aus seinem Büro entkommen?«
»Da ist noch eine zweite Tür, direkt zum Nottreppenhaus! Ein
Fluchtweg, falls es mal brennt und der Fahrstuhl und die andere
Treppe in Flammen stehen.«
»Fluchtweg ist das richtig Wort«, zischte Heike. Nun bemerkte sie
ebenfalls die schmale Tür. Sie fügte sich so in die mit
Stofftapeten bespannten Wände, dass man sie leicht übersehen
konnte.
Heike glaubte der Sekretärin. Ihre Menschenkenntnis sagte ihr, dass
die Frau wirklich geglaubt hatte, ihr Chef würde noch in seinem
Büro sitzen.
»Warum hat Herr Evermann einen Fernseher an seinem Arbeitsplatz,
wenn er so fleißig ist, wie Sie sagen?«, fragte sie
interessiert.
»Das ist kein Widerspruch! Herr Evermann schaut sich ausschließlich
die Börsennachrichten an. Daraufhin kauft oder verkauft er
Wertpapiere, wenn er es für notwendig hielt.«
Heike überlegte fieberhaft. Sie hatte das TV-Programm nicht
komplett im Kopf. Aber eine Sendung mit Börsenneuigkeiten wurde
unmittelbar nach den Lokalnachrichten ausgestrahlt. Daher konnte es
sehr gut möglich sein, dass Evermann den Beitrag über die
Verhaftung seines bezahlten Killers gesehen hatte ...
Heike gab der Sekretärin ihre Visitenkarte.
»Wenn Sie irgendetwas von Herrn Evermann hören oder sehen, melden
Sie sich bei mir! Sie können mich Tag und Nacht erreichen. Wir
werden Ihren Chef jetzt zur Fahndung ausschreiben.«
Heike und Ben verließen das Kontorhaus. Sie fuhren nach Blankenese.
Zwar hatten sie keine Hoffnung, Evermann in seiner Villa
anzutreffen. Aber sie mussten es wenigstens versuchen.
Der Butler mit dem Pokergesicht empfing sie. Heike hielt ihm gleich
ihren Dienstausweis und den Haftbefehl unter die Nase.
»Ich bedaure, aber Herr Evermann ist noch nicht nach Hause
zurückgekehrt.«
»Wann ist er heute aus dem Haus gegangen?«
»Gegen halb neun. Er beginnt seinen Arbeitstag Punkt neun Uhr im
Kontor.«
»Um halb neun war Augustin noch auf freiem Fuß«, raunte Ben Heike
zu. »Wahrscheinlich ist er wirklich erst ins Büro gefahren. Und
dann hat er irgendwann mitgekriegt, dass unsere Kollegen den Kerl
verhaftet haben.«
Heike wandte sich wieder an den Butler.
»Wir möchten mit Frau Evermann sprechen.«
»Frau Evermann ist unpässlich.«
»Das war sie auch schon, als ich das letzte Mal hier war«, stieß
Heike hervor. »Es geht hier um Mord, mein Lieber!«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Fünf Minuten später wurden die beiden Kriminalbeamten von der Dame
des Hauses empfangen. Margarethe Evermann war eine stattliche Frau
Mitte fünfzig. Sie trug eine Seidenrobe über ihrem
Nachtgewand.
»Die Nachricht vom Selbstmordversuch meines Jungen hat mich sehr
mitgenommen«, sagte sie. Doch es klang so leidenschaftslos, als
würde sie aus dem Telefonbuch vorlesen. »Ich bin ohnehin nicht ganz
gesund.«
»Wissen Sie, wo Ihr Mann ist, Frau Evermann?«
»Vermutlich im Kontor, wie immer. Er ist sehr fleißig. Was sollte
ich ohne ihn nur anfangen?«
Heike und Ben merkten schnell, dass diese Frau wirklich nichts von
dem Verbrechen wusste. Sie verließen die Villa wieder.
*
»Tablettenabhängig«, sagte Heike.
»Frau Evermann?«, hakte Ben nach. »Aber hallo! Die ist so
medikamentensüchtig – wie aus dem Lehrbuch für
Suchtkrankheiten!«
Natürlich hatten sie vor ihrem Abmarsch die Villa noch gründlich
auf den Kopf gestellt. Aber von dem Hausherrn fehlte jede Spur.
Dafür hatten sie mit Erlaubnis von Frau Evermann ein Foto des
Hauptverdächtigen mitgenommen.
Das würde ihnen bei der Fahndung sicher gute Dienste leisten
...
*
Dr. Magnussen veranlasste eine
Großfahndung.
Während die Nacht über Hamburg hereinbrach, rollte die gewaltige
Polizeimaschinerie an. Innerhalb weniger Stunden hatte jede
Streifenwagenbesatzung in der Hansestadt eine Kopie des
Evermann-Fotos. Der Flughafen Fuhlsbüttel wurde ebenso kontrolliert
wie die England-Fähren. Die Wasserschutzpolizei hielt jedes
Segelboot und jeden Motorkreuzer an, den sie auf der Elbe stellen
konnte.
Alle Meldungen liefen im Präsidium ein. Dort saßen Heike und Ben,
die zusammen mit einigen anderen Kollegen nun eine Sonderkommission
für die Fahndung nach Marius Evermann bildeten.
Aber es kam keine brauchbare Meldung herein. Der reiche Mann schien
buchstäblich vom Erdboden verschwunden zu sein.
Kein Wunder, dachte Heike bitter. Er hat ja auch das Geld, um sich
ganz schnell unsichtbar zu machen ...
Gegen Mitternacht schickte Dr. Magnussen seine übermüdeten Leute
nach Hause, um am nächsten Tag halbwegs frisch zu sein.
Ben ging zum Parkplatz. Heike schwang sich in den Sattel ihres
Mountainbikes. Als sie die halbe Strecke zur Isestraße zurückgelegt
hatte, begann es zu regnen. Fluchend trat sie kräftiger in die
Pedale. Doch sie war reichlich durchnässt, als sie zu Hause
ankam.
In ihrer Wohnung brannte Licht.
Dadurch war Heike nicht beunruhigt. Wahrscheinlich wartete ihre
mütterliche Freundin Theresa Winter wieder auf sie. Und richtig –
als Heike ihre Wohnungstür aufschloss, hing der unverwechselbare
Duft von Theresas stilvollem Parfüm in der Luft.
Heike ging ins Wohnzimmer. Dort saß Theresa Winter in einem Sessel.
Doch sie war totenbleich und knetete unaufhörlich ihre Hände. So
hatte Heike sie noch nie gesehen.
»Was ist denn mit dir, Theresa? Bist du krank? Ich ...«
Als Heike im Wohnzimmer angekommen war, knallte die Tür hinter ihr
zu. Gleich darauf bemerkte die Hauptkommissarin auch den Grund
dafür. Ein Mann hatte die Tür zugeworfen, hinter der er zuvor
versteckt gewesen war.
Sein Revolver war auf Theresa Winter gerichtet. Doch nun schwenkte
die Mündung in Heikes Richtung.
Die Kriminalistin atmete tief durch. Der Mann mit der Waffe war
kein anderer als Marius Evermann!
*
»Sie sehen aus wie eine nasse Katze, Frau
Hauptkommissarin! Obwohl der Ausdruck falsche Schlange für Sie wohl
zutreffender wäre!«
»Geben Sie mir die Waffe, Herr Evermann«, sagte Heike mit
erzwungener Ruhe. »Sie sind am Ende!«
»Am Ende, ich?«, höhnte der Verbrecher. »Da täuschen Sie sich aber
gewaltig! Wenn ich erst einmal Ihr Lebenslicht ausgeblasen habe,
kann ich meinen Kopf aus der Schlinge ziehen!«
»Wir haben die Aussage von Lukas Augustin ...«
»Ha! Das Wort eines Schwerverbrechers gegen das eines angesehenen
Hamburger Bürgers!«
»... und wir haben das Foto von Julia Sander, das Sie Ihrem
Auftragskiller gegeben haben, Herr Evermann.«
»Ihre so genannten Beweise wird mein Anwalt in der Luft zerfetzen!
Ihre Kollegen sind ja auch viel einsichtiger als Sie, Frau Stein!
Ihr Pech, dass Sie es mit mir zu tun bekommen haben. Einen Evermann
kriegt niemand klein!«
»Ihr Sohn ist aber ziemlich erledigt nach seinem
Selbstmordversuch.«
In Evermanns Augen flackerte wieder der nackte Hass auf. So wie an
dem Abend im Curio-Haus.
»Das ist alles Ihre Schuld, Sie falsche Schlange. Ja, mein Sohn ist
ein Schwächling. Sonst hätte ihn dieses Flittchen doch niemals um
den Finger wickeln können! Stellen Sie sich vor, er wollte sie
heiraten!«
»Und da musste sie natürlich sterben«, sagte Heike
ironisch.
»Allerdings! Ich habe sie anonym angerufen und ihr mit ihrer
Ermordung gedroht, falls sie nicht auf der Stelle die Stadt
verlässt. Wenn sie schlau gewesen wäre, könnte sie noch leben! Sie
hätte nur meinen Jungen in Ruhe lassen müssen.«
»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass Erik und Julia sich
lieben?«
Der Verbrecher lachte.
»Weibergeschwätz! Na ja, Sie sind ja auch eine Frau. Da kann man
nichts anderes erwarten.«
»Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?«
»Durch die offene Balkontür. Ich muss schon sagen, für eine
Polizistin sind Sie ganz schön leichtsinnig. Dann kam diese nette
Dame hier, um mir Gesellschaft zu leisten ...«
Evermann deutete mit der Waffe auf Frau Winter, die nun leise
weinte.
»Lassen Sie sie gehen! Sie hat nichts mit unserem Fall zu
tun!«
»Eine Augenzeugin am Leben lassen? Für wen halten Sie mich, Frau
Stein? Nein, ich werde Sie beide erschießen ... wie praktisch, dass
gerade diese Einbruchserie in Hamburg über die Bühne geht. Ich sehe
schon die Schlagzeile: KOMMISSARIN VON EINBRECHER
ERSCHOSSEN!«
Evermann lachte zynisch. Für einen kurzen Moment fragte Heike sich,
ob der Gesuchte wirklich mit seinem Plan durchkam. Aber solche
Überlegungen brachten natürlich überhaupt nichts. Sie musste
Evermann ausschalten, und zwar so schnell wie möglich!
»Herr Evermann, Sie sind krank! Geben Sie mir Ihren Revolver, bevor
noch ein Unglück passiert!«
»Sie verwechseln mich wohl mit meinem Sohn, diesem Weichling! Wenn
die Familienehre nicht wäre, hätte ich ihn schon längst zum Teufel
gejagt. – Nein, wir machen es genau umgekehrt. Sie legen jetzt Ihre
Dienstwaffe hier auf den Couchtisch. Aber mit zwei
Fingern!«
Scheinbar resigniert trat Heike näher. Langsam holte sie die SIG
Sauer P 226 aus dem Gürtelholster. Mit Daumen und Zeigefinger hielt
sie die Waffe. Heike kam noch einen Schritt auf Evermann
zu.
Und dann ging alles blitzschnell!
Die Kriminalistin drehte sich auf dem rechten Fußballen. Ihr
gestrecktes linkes Bein flog durch die Luft. Ihr linker Fuß
bretterte gegen Evermanns Kinnlade.
Der große Mann ging zu Boden wie vom Blitz gefällt. Er verlor
seinen Revolver. Ganz ohnmächtig war Evermann noch nicht. Aber er
konnte nicht verhindern, dass Heike auf seinen Rücken sprang und
ihm die Stählerne Acht um die Handgelenke schloss ...
Noch nie zuvor hatte sie den seitenverkehrten Halbkreisfußtritt so
gut hinbekommen.
»Meister Fu wäre stolz auf mich«, sagte Heike zu sich
selbst.
Eine Viertelstunde später wimmelte es in ihrer Wohnung von
Polizisten. Theresa Winter war unverletzt, hatte aber einen Schock
erlitten. Sie wurde vorsichtshalber ins Universitätskrankenhaus
Eppendorf eingeliefert. Heike nahm sich vor, sie dort gleich am
nächsten Morgen zu besuchen.
Auch die Vernehmung von Marius Evermann würde bis zum kommenden Tag
warten müssen. Es war schließlich Vorschrift, dass
Untersuchungsgefangene genügend Nachtschlaf bekamen ...
Heike schaute den Männern von der Technischen Abteilung zu, die in
ihrem Wohnzimmer Fußspuren sicherten und Fingerabdrücke
nahmen.
Da klingelte das Telefon. Heike nahm den Hörer ab.
»Stein.«
»Hier ist Georg, Liebste. Ich weiß, es ist furchtbar spät
...«
»Ja.«
»Aber ich kann nicht schlafen. Ich muss immer an dich denken,
Heike. Habe ich dich etwa geweckt?«
»Keine Spur, Georg. Bei mir geht nur gerade ein langer Arbeitstag
zu Ende. Ein sehr langer Arbeitstag.«
»Kann ich zu dir kommen?«
Heike warf einen Blick auf das Spurensicherungsteam.
»Nein, ich nehme mir ein Taxi und komme zu dir ins Hotel, Georg.
Bei mir herrscht momentan schreckliche Unordnung.«