2. Kapitel


Heike verabschiedete sich schnell von Frau Ostendorf. Sie gab ihr aber noch ihre Visitenkarte.
»Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein!«
Dann stürzte sie aus der exklusiven Ladenpassage, die Hanseviertel heißt. Aus Richtung Jungfernstieg kam ein Taxi herangerollt.
Heike winkte, der Fahrer fuhr an die Bordsteinkante. Sie stieg ein.
»Nach Rothenburgsort, aber schnell!«
Der Taxilenker nahm Kurs auf den Hafen. Nach weniger als acht Minuten waren sie schon am Ziel. Heike zahlte und stieg aus.
Trauns Park war ein ungepflegter Grünstreifen in dem tristen Stadtteil Rothenburgsort. Wer hier wohnte, hatte meist nicht genug Geld, um fortzuziehen. Das wichtigste Gebäude war das Hauptpump- und Grundwasserwerk der städtischen Wasserwerke. Der Park grenzte an den Ausschläger Elbdeich. Dahinter sah man das Wasser der Elbe und verschiedener Kanäle.
Als der Streifenwagen am Parkeingang hielt, bemerkte Heike Bens Auto. Auch das Fahrzeug der Spurensicherung war wieder erschienen. Doch es fehlte der Leichenwagen der Gerichtsmediziner.
»Das ging ja fix!«, sagte Heikes Dienstpartner.
»Man tut, was man kann. Gibst du mir eine Zusammenfassung im Telegrammstil?«
»Aber gerne.« Ben blätterte in seiner Kladde zurück. »Es war gegen elf Uhr, als ein Obdachloser von Schüssen geweckt wurde.« Heikes Dienstpartner zeigte mit dem Kinn in Richtung Norden. »Er hat unter dem Gebüsch da genächtigt.«
»Wieso wusste der Obdachlose, wie spät es war?«
»Eine Armbanduhr gehört zu seinen wenigen Habseligkeiten. Die braucht man als Nichtsesshafter, weil die Sozialämter den Tagessatz für Durchreisende nur zu bestimmten Zeiten auszahlen. Wenn man nicht pünktlich ist, guckt man in die Röhre.«
Heike trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen.
»Ich lobe dein umfassendes Wissen gerne bei Gelegenheit – aber komm' doch bitte auf den Fall zurück!«
»Du hast selbst nach der Armbanduhr gefragt, Heike. – Wie auch immer, jedenfalls hat unser Zeuge sein Nachtlager verlassen. Und dann sah er auch schon das Opfer in seinem Blut liegen.«
»Wer ist es?«
Ben blätterte vor.
»Ein gewisser Wilhelm Krone. 68 Jahre alt, Altersrentner und ehemaliger Werftarbeiter. Er hat hier im Trauns Park offenbar seinen Dackel Gassi geführt. Das Tier heißt Mucki.«
»Und weiter?«, fragte Heike. Sie spürte, wie das Adrenalin durch ihren Körper jagte.
»Mucki war völlig außer sich und hat keinen an sein Herrchen rangelassen. Der Obdachlose ist 'rübergerannt zu einer Firma am Entenwerder Stieg. Dort hat der Pförtner eine Funkstreife gerufen. Schließlich musste noch jemand vom Tierheim anrücken und Mucki einfangen, bevor der Notarzt Wilhelm Krone behandeln konnte. Der alte Mann war trotz der Schmerzen bei Bewusstsein.«
»Dann wurde er also nicht erschossen?«
Im nächsten Moment schämte sich Heike wegen ihrer überflüssigen Frage. Aber Ben machte sich nicht über sie lustig.
»Nein, er wird wohl auch durchkommen. Ein Steckschuss in der Hüfte bringt einen nicht um, noch nicht mal in dem Alter. Außerdem ist Krone ein kräftiges Kerlchen, hat sein Arbeitsleben immerhin mit Schwerarbeit verbracht.«
»Hat er den Täter gesehen?«
»Schwer zu sagen. Er stand natürlich unter Schock. Jetzt wurde er ins AKH St. Georg gebracht. Dort können wir ihn besuchen, sobald er vernehmungsfähig ist.«
»Spuren?«
»Wie du siehst, ist die Technische Abteilung noch vollauf beschäftigt. Wir wissen in etwa, von wo aus der Täter gefeuert haben muss. Dort drüben grasen die Kollegen jetzt alles ab.«
»Und der Obdachlose hat den Mörder nicht gesehen?«
»Er verneint das. Logisch, denn er ist ja von den Schüssen erst aufgewacht. Der Täter wird wohl nach dem Schießen kaum gewartet haben, bis jemand kommt.«
Heike wandte sich der Südseite des Parks zu.
»Er kann per Auto oder Boot entkommen sein. Vielleicht hat er im Wagen gesessen, mit laufendem Motor. Und als dann ein Opfer in Schussweite kam, schlug der Serienmörder zu«, sagte Ben.
»Ich glaube absolut nicht an die Serienmörder-Theorie.«
»Wenn er kein Serienmörder ist, dann muss es eine Verbindung zwischen Julia Sander und Wilhelm Krone geben.«
»Richtig. Und genau da fängt unsere Arbeit an, Ben.«
Die beiden Kripo-Beamten fuhren mit Bens Wagen das kurze Stück zum Billhorner Mühlenweg, wo das Opfer wohnte.
Die Nachbarn in dem tristen Genossenschaftshaus waren erschrocken über das Attentat auf den alten Mann. Doch keiner von ihnen hatte jemals etwas von Julia Sander gehört.
»Willi war ein ziemlich einsamer Typ«, sagte seine unmittelbare Nachbarin, die drei kleine Kinder an ihrer Schürze hängen hatte. »Immerhin hatte er ja Mucki. Aber eine Frau habe ich bei ihm niemals gesehen, seit seine Hermine tot ist. Er hat noch einen Sohn. Aber der fährt zur See.«
»Ich werde in Julia Sanders Umfeld nachfragen, ob dort jemand Wilhelm Krone kennt«, sagte Heike verbissen, nachdem sie das Mietshaus verlassen hatte.
Ben seufzte.
»Glaubst du nicht, dass du dich verrennst, Heike? Warum kannst du nicht hinnehmen, dass ein Serienmörder in Hamburg umgeht? Jeder von uns macht mal einen Fehler!«
»Ich will dir sagen, warum ich nicht an einen Serienmörder glaube. Diese Kriminellen sind meistens Amateure, außerdem noch oft geisteskrank.«
»Das stimmt.«
»Okay, Ben. Aber der Mord im Stadtpark und die Körperverletzung im Trauns Park – das war Profi-Arbeit!«
»Wegen dem Schalldämpfer?«
»Mach' dich nur über mich lustig! Aber der Schuss auf Julia Sander war ein gezielter Todesschuss! Da hat kein Irrer in der Gegend herumgeballert. Der Mörder hat ihr aufgelauert, ihr eine tödliche Kugel verpasst – nur eine! – und ist dann geflüchtet.«
»Und bei Wilhelm Krone haben ihn seine Fähigkeiten plötzlich verlassen?« Ben schüttelte den Kopf. »Die Verwundung des alten Mannes ist zum Glück nicht lebensbedrohlich. Wenn der Schütze so ein Profi ist, wieso lebt dann das zweite Opfer noch?«
»Weil er den Rentner gar nicht töten wollte!«
»Das ist mir zu hoch.«
»Eigentlich ist es ganz einfach. Sterben sollte von Anfang an nur Julia Sander. Aber damit der wahre Täter nicht in Verdacht gerät, inszeniert er eine Mordserie. Dann erscheint Julia als ein zufälliges Opfer. Genauso zufällig wie Wilhelm Krone. Und es würde mich nicht wundern, wenn es noch mindestens ein weiteres Opfer gäbe.«
»Aber warum hat der Täter den Rentner nicht auch getötet?«
»Wozu?«, fragte Heike zurück. »Auftragskiller sind nicht so blutrünstig. Sie machen alles mit einem Minimum an Gewalt. Wenn sie wirklich mal erwischt werden, zählt jede Straftat, das weißt du selbst. Und da ist es schon ein Unterschied, ob man jemanden tötet oder nur anschießt.«
»Du meinst also, Wilhelm Krone und mögliche weitere Opfer sollen nur von der ersten Tat ablenken?«
»Davon bin ich überzeugt, Ben. Der Täter will, dass wir an einen wahllosen Serienmord glauben. Daher auch die Verschiedenheit der Tatorte und der Opfer. Hier der gepflegte Stadtpark, dort der schäbige Trauns Park. Hier die elegante junge Dame, dort der arme alte Mann. Der Täter ist schlau. Aber nicht schlau genug.«
»Hast du schon jemanden im Verdacht?«
Heike ließ die Frage einstweilen unbeantwortet. Stattdessen stellte sie eine Gegenfrage.
»Du hast noch gar nicht erzählt, wie es bei Erik Evermann war.«
Ben seufzte.
»Er hat es schlecht aufgenommen. Sehr schlecht. Er wusste noch nichts von Julias Tod. Als ich ihm die Nachricht überbracht habe, ist er buchstäblich kollabiert. Ich musste den Notarzt rufen. Evermann wurde ins Universitätskrankenhaus Eppendorf geschafft. Armer Teufel. Ich schätze, er hat sie wirklich geliebt.«
»Er hat dir also nichts vorgespielt?«
»Heike, um einen Kreislaufkollaps zu simulieren, muss man schon ein verflixt guter Schauspieler sein! Der Notarzt hat ihn schließlich untersucht.«
»Schon in Ordnung«, murmelte Heike gedankenverloren. »Ich hatte auch weniger an Evermann selbst gedacht ...«
»Was?«
»Nichts. Nur so ein Gedanke. Ich werde ihn mal im Krankenhaus besuchen. Aber erst muss ich noch in Julias Wohnung.«
»Willst du nicht lieber mit mir ins Präsidium zurückkommen? Der Chef wird uns schon sehnsüchtig erwarten ...«
»Nur noch kurz in Julias Wohnung schauen, ja? Vielleicht finde ich ja dort den entscheidenden Hinweis.«
»Ich werde dann deinen Kopf aus der Schlinge ziehen, wenn Dr. Magnussen ihn hineinstecken will!«
»Du bist ein Schatz, Ben!«
Diesmal ließ sie sich von ihrem Kollegen in seinem Wagen mitnehmen. Die Ohlsdorfer Straße, wo Julia Sander gewohnt hatte, lag halbwegs in der Richtung des Präsidiums.
»Also dann – bis später!«
Heike sprang aus dem haltenden Passat und ging zu dem Wohnhaus hinüber. Sechs Mietparteien wohnten dort. Sie zückte das Schlüsselbund des Mordopfers und sperrte zunächst die Haustür auf.
Julia Sander hatte im zweiten Stock gelebt. Den Wohnungsschlüssel hatte Heike schnell gefunden. Sie drehte ihn im Schloss, als die andere Tür auf dem Treppenabsatz sich öffnete.
»Jetzt kommst du nach Hause, du Nachteule?«, sagte eine fröhliche Frauenstimme. Doch gleich darauf änderte sich der Klang. Er wurde hart, aggressiv. »Wer sind Sie? Was wollen Sie in Julias Wohnung?«
Heike hatte sich umgedreht. Die Nachbarin hielt plötzlich eine Dose mit CS-Spray auf die Polizistin gerichtet!
»Immer mit der Ruhe!«, sagte Heike und fingerte schnell ihren Dienstausweis aus dem Tweedjackett. Sie hatte keine Lust auf eine Ladung Reizgas im Gesicht. Während ihrer Zeit bei der Schutzpolizei hatte sie unfreiwillig öfter eine Ladung abgekriegt, bei Schlägereien und schwierigen Verhaftungen. Es war eine Erfahrung, auf die sie verzichten konnte.
Mit zwei Fingern reichte sie der anderen Frau den Ausweis hinüber. Während diese das Dokument sorgfältig studierte, schaute Heike sich ihr Gegenüber an.
Die Frau mit dem CS-Gas war in Heikes Alter. Sie trug ihr dunkelbraunes Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengefügt. Ansonsten war sie in eine zitronenfarbene Caprihose und ein orangefarbenes ärmelloses T-Shirt gekleidet. Sie war schlank, mit kleinen Brüsten und schmalen Hüften. Ihr Gesicht war recht hübsch. Sie machte einen offenen und sympathischen Eindruck.
»Der Ausweis scheint okay zu sein«, sagte die Nachbarin schließlich und ließ die Dose mit dem Reizgas sinken. »Aber wie kommen Sie an Julias Schlüssel?«
»Müssen wir das denn hier im Treppenhaus besprechen?«
»Gut, dann kommen Sie eben zu mir rein.«
Heike folgte der Nachbarin. Sie las das Namensschild. »A. Renning« stand an der Tür. Annegret? Amanda? Anke? Antje konnte passen, dachte Heike.
»Ich bin übrigens Anja Renning«, sagte die Frau und stellte das CS-Gas auf ein kleines Regal neben der Tür. Antje war also gar nicht so schlecht geraten gewesen. »Julia und ich sind befreundet.«
Heike atmete tief durch. Jetzt kam etwas, was sie an ihrem Beruf zutiefst verabscheute.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Julia Sander nicht mehr lebt.«
Anja Renning riss ihre Augen weit auf. Sie erbleichte.
»Nein ...!«
»Leider doch. Wollen Sie sich nicht setzen?«
Heike führte Anja Renning in die kleine Küche. Julias Freundin ließ sich auf einen Stuhl fallen und begann zu weinen. Leise zwar, aber unaufhörlich.
»Ich koche Ihnen erst mal einen Kaffee«, sagte Heike. »Bis Sie sich halbwegs beruhigt haben.«
Anja Renning hatte ihr Gesicht in ihren Händen verborgen. Nur am Zucken ihrer Schultern konnte man erkennen, dass sie immer noch weinte.
Die Kriminalistin fand sich in der fremden Küche schnell zurecht. Alles war ordentlich und aufgeräumt. Die mit Naturholz verkleideten Küchenmöbel zeugten von Geschmack. Auf dem Fensterbrett stand eine große Vase mit Strohblumen.
Es gab keinen großen Küchentisch, nur eine kleine Frühstücksecke. Dort hockte Julias Nachbarin jetzt. Sie lebte ganz offensichtlich allein.
Als die Kaffeemaschine nicht mehr röchelte, goss Heike zwei Becher voll mit der duftenden heißen Flüssigkeit. Einen davon stellte sie vor Anja Renning. Dann nahm sie die Frau schwesterlich in den Arm.
»Wollen Sie mal versuchen, was zu trinken?«
Anja tupfte sich die Augen ab und schnäuzte sich geräuschvoll.
»Vielen Dank«, näselte sie und schnaubte erneut. »Sie sind so freundlich.«
»Ich weiß, dass es für Sie schwer ist.« Heike setzte sich nun ebenfalls in die Frühstücksecke. Sie zückte ihr Notizbuch. »Leider kann ich Ihre Freundin nicht wieder lebendig machen. Aber vielleicht gelingt es uns, mit Hilfe Ihrer Aussagen den Mörder zu verhaften.«
Anja Renning sah nun nicht mehr so verzweifelt aus. Sie schaute Heike erwartungsvoll an. Offenbar war sie froh, selbst etwas tun zu können.
»Wie lange kannten Sie Frau Sander?«
»Ungefähr zwei Jahre. Wir sind zufällig fast zeitgleich in dieses Haus gezogen. Und da wir die einzigen Mieter in unserer Altersgruppe sind, kamen wir uns fast automatisch näher. Alle anderen Leute im Haus sind über Sechzig.«
»Was machen Sie beruflich, Frau Renning?«
»Ich bin Krankengymnastin. Das ist ja nun ein ganz anderer Bereich als Julia mit ihrer Nobel-Boutique. Aber sie ist ... war niemals arrogant, obwohl sie in einem so exklusiven Schuppen arbeitete.«
»Was war sie für ein Mensch?«
Anja Renning trank einige Schlucke Kaffee, bevor sie die Frage beantwortete.
»Julia liebte das Leben. Deshalb kann ich auch kaum begreifen, dass sie ... tot sein soll. Sie war abenteuerlustig, wenn man das so nennen will.«
»Und wie war es mit Männern?«
Die junge Frau zögerte. Aber dann öffnete sie doch den Mund für eine Antwort.
»Manche Leute würden vielleicht sagen, dass Julia ... leicht zu haben war. Aber ich sehe das anders. Sie war einfach unheimlich offen für neue Eindrücke. Zugegeben, sie hat es den Männern nicht schwer gemacht. Julia hat sich eben schnell verliebt. Aber es gab einen, der ihr ganz besonders viel bedeutet hat.«
»Erik Evermann?«, fragte Heike. Im nächsten Moment hätte sie sich am Liebsten auf die Zunge gebissen. Besser wäre es gewesen, Anja Renning den Namen selbst nennen zu lassen.
»Ja, der reiche Junge. Aber glauben Sie mir, Julia hat ihn nicht wegen des Vermögens seiner Familie geliebt. Er ist einfach ein toller Typ. Haben Sie ihn schon kennen gelernt?«
»Bisher noch nicht.«
»Vor allem hat Erik Evermann Charakter und seinen eigenen Willen. Ich glaube, sein Vater war alles andere als begeistert von Eriks Beziehung zu Julia. Aber Erik hat zu Julia gestanden. Es muss schön sein, so stark geliebt zu werden.«
Anja Renning kämpfte schon wieder mit den Tränen. Schnell fragte Heike: »Hat Julia Ihnen erzählt, dass Eriks Vater gegen sie war?«
Die Krankengymnastin nickte.
»Sie hat darunter gelitten, glaube ich. Fast so sehr wie unter den anonymen Morddrohungen.«
»Morddrohungen?« Heike horchte auf.
»Ja, sie wurde einige Male von einem Verrückten angerufen. Jedenfalls glaube ich, dass der Kerl wahnsinnig sein muss. Ich habe ihr geraten, zur Polizei zu gehen.«
»Das hat sie nicht getan. Sonst wüsste ich inzwischen davon.«
»Glauben Sie, dass dieser unbekannte Telefonverbrecher sie ermordet hat?«
»Wir ermitteln in alle Richtungen«, sagte Heike unbestimmt. »Wissen Sie, was der Anrufer in etwa gesagt hat, und ob er sie zu Hause oder am Arbeitsplatz angerufen hat?«
»Ich glaube, die Anrufe kamen nur bei ihr daheim an. Der Kerl hat ihr immer mit dem Tod gedroht, wenn sie nicht die Stadt verlassen würde.«
»Die Stadt verlassen? Hat er das gesagt?«
»Beschwören kann ich es nicht. Ich habe ja keinen dieser Anrufe mitgehört.«
Heike unterstrich die Worte »die Stadt verlassen« in ihrem Notizbuch gleich drei Mal. Dann machte sie einen Pfeil zu dem Wort »Evermann« hinüber.
»Ich würde mir jetzt gerne einmal Julia Sanders Wohnung ansehen. Später wird noch ein Spurensicherungsteam kommen. Das ist leider notwendig.«
»Ich verstehe Sie«, versicherte Anja Renning. »Ich will ja auch, dass der Täter gefasst wird.«
Heike trank ihren Kaffee aus. Die Zeugin erhob sich ebenfalls.
»Ich werde zu meinem Freund fahren. Ich kann jetzt nicht allein sein.«
»Das ist eine gute Idee.«
Während Anja Renning fortging, öffnete Heike die Wohnungstür der Ermordeten. Ein angenehmer Duft kam ihr entgegen. Es roch nach Nelkenöl, frischen Blumen und einem teuren Parfum. Heike schnupperte noch einen Augenblick, dann fiel ihr der Name ein.
Ravenna Rain.
Es war seltsam, aber an der Toten hatte sie keinen Duft mehr wahrnehmen können. Das Parfum harmonierte offenbar nur mit dem lebenden Körper ...
Während Heike diese Dinge durch den Kopf gingen, machte sie ein paar Schritte in die Wohnung hinein. Diese bestand aus einem kleinen Flur, dem Bad, der Küche sowie zwei Zimmern. Beide waren in etwa gleich groß.
Julia hatte das eine als Schlafzimmer, das andere als Wohnzimmer benutzt. Genau wie Heike selbst es auch tat. Allerdings lebte die Hauptkommissarin in einem Altbau mit hohen Räumen und Stuckdecken. Die Ermordete hingegen hatte einen Neubau bewohnt.
Die Zimmer waren in Pastellfarben gehalten. Alles wirkte mädchenhaft. So, als sei Julia Sander zehn Jahre jünger gewesen. Wenigstens gab es keine Poster von Popstars an den Wänden.
Hingegen erblickte Heike eine sehr schöne vergrößerte Fotografie. Eine Ballerina wurde dargestellt. Die Tänzerin drehte gerade eine Pirouette.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte Heike, dass die Balletteuse niemand anders war als Julia Sander selbst. Das Foto war vermutlich vor drei oder vier Jahren aufgenommen worden.
Es zeigte nicht nur Julias tänzerische Fähigkeiten. Es warf außerdem noch ein bezeichnendes Bild auf das Opfer. Menschen, die stark vergrößerte Fotos von sich in ihrem Wohnzimmer aufhängten, waren meist sehr von sich selbst eingenommen. Diese Erfahrung hatte jedenfalls Heike gemacht.
Automatisch zog sie ihre Einweg-Latexhandschuhe an, während sie durch die Wohnung streifte. Der Kleiderschrank war übervoll, genau wie ihr eigener.
Julia hatte ein französisches Doppelbett besessen. Darauf lag eine Tagesdecke – bunte Webarbeit, vermutlich aus Südamerika.
Alles sehr nett, aber nichts Spektakuläres.
Und doch war Heikes Besuch in der leeren Wohnung nicht umsonst. Direkt auf dem gläsernen Couchtisch im Wohnzimmer lag etwas, das Heikes Herz höher schlagen ließ.
Zwei Flugtickets von Hamburg nach New York, mit dem Angebot eines Weiterflugs nach Las Vegas!
Außerdem lag neben den Flugscheinen ein Internet-Ausdruck. Er informierte über die Möglichkeiten einer Hochzeit in Las Vegas!
Heike nickte grimmig. Irgendjemand hatte offenbar die geplant Hochzeit des jungen Paares mit Gewalt verhindern wollen.
Sie musste unbedingt mit diesem Erik Evermann sprechen!